KAPITEL 9

Kapitel 9

Donnerstag, 26. Juni

D ie folgende Woche vergeht wie im Flug. Ich schreibe Erik nicht. Er schreibt mir nicht. Pauline versucht, mich auszuquetschen, aber es gibt nichts zu sagen. Es war kein Date. Es war gar nichts.

Donnerstagmorgen gehe ich früh zur Arbeit. Cooper und ich haben uns die ganze Woche auf den Besuch des Rückführungsteams und des Hochschulrats des Mackinac State College vorbereitet. Laut meinem Jedi-ogimaa war das Fachgebiet des vorhergehenden College-Präsidenten Anthropologie und für ihn war NAGPRA gleichgesetzt mit »Politik kommt vor Wissenschaft«. Die Forderung des Tribes, die dreizehn Vorfahren zurückzugeben, ignorierte er seine gesamte Präsidentschaft hindurch. Es scheint, dass sie mit einem neuen College-Präsidenten zeigen wollen, dass sie umgänglich sein können und hinsichtlich der Rückgabe der heiligen Gegenstände und der Vorfahren »mit uns zusammenarbeiten wollen«. Die Tatsache, dass der Tribe nun Förderungsanfragen vom Mackinac County akzeptiert, was dem College ermöglicht, von uns Gelder anzunehmen, ist sicherlich nur Zufall.

Aber zuerst will Cooper über meine wöchentliche Leseaufgabe sprechen: Repatriation Reader.

»Also, was denkst du über die zwölf Standpunkte, die Dr. Mihesuah in der Einleitung beschreibt?«

»Elf Standpunkte zu viel«, sage ich.

Er kichert. Es ist nicht sein asthmaverdächtiges He-he-he , aber ich nehme, was ich kriegen kann.

»Im Ernst«, fahre ich fort. »Unsere Knochen zu stehlen, ist falsch. War es schon immer und wird es immer bleiben. Den einzig richtigen Standpunkt haben die, die unsere Vorfahren zurückhaben wollen.«

»Ich bin deiner Meinung.« Er reibt sein Kinn. »Aber Wissen ist Macht, vor allem bei Verhandlungen. Wir müssen ihre Perspektive kennen und ihre Sprache fließend beherrschen.«

»Ich bin ein Fan von Fünffingerverhandlungen«, sage ich und mime einen Faustschlag.

Coopers Lächeln kommt nicht bei seinen Augen an.

»Auf diese Art würdest du nie wieder an einer Rückforderung teilnehmen, Perry«, tadelt er. »Du würdest unsere Bemühungen, die Vorfahren zurückzuholen, um Jahre zurückwerfen. Jede Tat hat ihre Auswirkung und erzeugt eine Gegenreaktion.«

Bei seinem letzten Satz muss ich an Erik denken. War mir bewusst, dass das Zurückholen des Korbs meiner Urgroßmutter mich die Freundschaft, oder was auch immer es war, mit Erik kosten würde?

»Was, wenn es sie etwas kosten würde?«, frage ich Cooper.

»Wer ›sie‹?«, fragt er mit seinem Rez-Akzent zurück.

»Die Grabräuber und Möchte-gern-Indiana-Jones, die Wissenschaftler und Leute vom Museum. Was, wenn es sie etwas kostet? Einer ihrer Vorfahren gegen einen von unseren?«

Er denkt länger darüber nach, als ich erwartet hatte.

»Was hätten wir davon?«, fragt er schließlich.

»Es wären die Auswirkung und die Gegenreaktion.« Ich hebe meine Stimme. »Ist das Wissen, das sie beanspruchen, für sie so wichtig, dass sie dafür die Knochen ihrer Ururgroßeltern eintauschen würden?«

»Gibt es eine Rechtfertigung dafür, Knochen als Währung zu verwenden?«

»Nein«, gebe ich mürrisch zu. »Aber sie haben unsere genommen und es hat sie nichts außer Schulgeld gekostet.«

Seine Geduld frustriert mich. Mir wäre lieber, er würde schreien oder mich einen Dummkopf nennen. Stattdessen reibt er ständig seinen nicht vorhandenen Kinnbart.

»Erinnerst du dich an Dr. Fenton?«, fragt er schließlich.

»Hamster-Raquel?«

Wenigstens das entlockt Cooper sein He-he-he .

»Dr. Fenton möchte heute beim Mittagessen neben dir sitzen«, sagt er.

»Warum?«, frage ich und kräusle meine Nase, als hätte Elvis Junior einen fiesen boogid gelassen.

Cooper zuckt mit den Schultern. »Keine Ahnung. Vielleicht will sie für die Verhandlungen Informationen über uns zusammentragen.«

Da fällt mir ein, was mich schon seit dem Besuch im Hamster-Haus beschäftigt hat.

»Cooper, warum hast du Dr. Fenton von der Ottermedizintasche erzählt?«

»Man kann es in The Mishomis Book von Eddie Benton-Banai nachlesen«, sagt er und hebt erneut die Schultern. »In jeder banalen Literaturübersicht und mit jeder Googlesuche könnte sie das finden. Diese Informationen an sie weiterzugeben, hat uns nichts gekostet, fördert aber das Verhandlungsklima.«

»Wenn du meinst«, sage ich wenig überzeugt. »Aber wo wir gerade von Büchern sprechen, könntest du mir die Liste aller Bücher geben, die ich den Sommer über lesen soll? Ich möchte meine eigenen Bücher kaufen, damit ich reinschreiben kann.«

Cooper schaudert. »Du schreibst in Bücher?«

»Pah. Wie soll ich mir sonst Notizen über das Gelesene machen?«

»Vielleicht in ein Notizbuch oder ein Lederportfolio?« Er lächelt nachsichtig. »Also kannst du dir vorstellen, eine Verbindung zu Dr. Fenton aufzubauen?«

»Du bist der Boss. Ich habe gestempelt, also tue ich, was du mir aufträgst.«

Er sieht mich an. »Warum nicht das Richtige aus dem richtigen Grund tun?«

»Ist das wichtig, wenn das Ergebnis dasselbe ist?«, frage ich.

»Ich glaube schon, Perry-Padawan«, sagt er. »Ich glaube, dass die Absicht von Bedeutung ist.«

Nachdem wir die Tische aus der Bibliothek in einem großen Kreis aufgestellt haben, gehe ich vor die Tür, um eine Prise semaa zu streuen und um giizhik für unsere Schuhe zu sammeln. Drinnen gebe ich Cooper zwei flache Lebensbaumzweige.

»Ah, miigwech, Wiidookaagewikwezans«, sagt er.

Den Spitznamen Helper Girl mag ich sogar noch lieber als Perry-Padawan.

Als Nächstes überprüfe ich das Catering, bevor unsere Gäste ankommen. Zu meinen Aufgaben gehörte Anfang der Woche auch, Freiwillige in der Community zu finden, die Essen für das Event zubereiten würden. Das Frybread der Paquette-Schwestern ist in einem mit Alufolie bedeckten Warmhaltebehälter. Andere Freiwillige haben Schongarer mit Chili und einem halben Dutzend verschiedenen Suppen vorbeigebracht. Miss Manitou beanstandet die Verlängerungskabel. Sie ruft im Casino an und bittet um einen langen Teppich, damit niemand stolpert und uns verklagt.

In der Nähe des Buffets sehe ich eine vertraute kleine Gestalt.

»Aaniin, Granny June«, sage ich zu Lucas’ Urgroßmutter.

Sobald Miss Manitou uns den Rücken zugekehrt hat, bittet mich Granny June, ihren gusseisernen Topf ans Ende des Buffets zu stellen. Ich brauche den Deckel nicht anzuheben, um zu wissen, dass es ihre gebackenen Bohnen sind, eingekocht zu einer dunklen melassesüßen Paste mit versteckten Juwelen aus gesalzenem Schwein.

»Das beste Essen kommt am Schluss.« Sie versucht zu flüstern. »So bekommen nur die Schlauen davon, die noch Platz auf ihrem Teller haben.«

»Wie eine Belohnung.« Ich lache.

»Bizaan ayaan«, schimpft sie und fuchtelt mit ihren dünnen Fingern vor mir herum, um mich zum Schweigen zu bringen.

Ich habe gerade noch genug Zeit, meine Kleidung und meine Schuhe zu wechseln. Mein Bänderrock mit dem zartbraunen Blumendruck ist im unteren Drittel mit zwei Zentimeter breiten Satinbändern in Zartrosé, Hellbraun und Elfenbein verziert. Das seidige braune Oberteil passt gut zu meinem Hautton. Pauline hat mir ihre goldglänzenden Ballerinas angeboten, aber ich entschied mich für meine schwarzen Lackleder-Doc-Martens. Ich trage noch etwas Lipgloss auf und lege die feine goldene Halskette an, die mir Auntie ausgeliehen hat, nachdem sie mir mein MERCILESS -INDIAN -SAVAGE -T-Shirt ausgeredet hatte.

»Aber es ist ein Zitat aus der Verfassung der Vereinigten Staaten«, habe ich ihr erklärt. »Es ist ein Gesprächseinstieg.«

»Das wäre eine längere Unterhaltung als das Mittagessen und die Tour zusammen«, hat Auntie geantwortet.

Cooper erinnert alle – einschließlich den Tribal Council mit den drei verbliebenen Praktikanten – daran, dass es unser Ziel ist, unsere Gäste willkommen zu heißen und die Gelegenheit zu einer Zusammenarbeit des Tribes mit dem Mack State zu nutzen. Was er sonst noch sagt, kann ich nicht hören, weil Erik mit dem Teppich aus dem Casino kommt, um den Kabelsalat hinter dem Buffet abzudecken. Er ist nach vorne gebeugt, mit dem Rücken zu mir, sodass er nicht sieht, wie ich ihn anstarre.

»Dr. Fenton, schön, Sie wiederzusehen«, sage ich, als unsere Gäste mit dem Shuttlebus beim Casino ankommen, und bin dankbar für die Ablenkung. Mein Handschlag ist fest, aber nicht aggressiv, genau wie Pauline es mit mir geübt hat.

Dr. Fenton und ihre Kollegen durchstöbern die Tribal Library wie neugierige Eulen. Ich verstehe das nicht; die Bibliothek ist seit vier Jahren für die Öffentlichkeit zugänglich. Vielleicht ist es, wie wenn Mom uns ruft, dass wir zum Essen kommen sollen, und dann sagt: »Braucht ihr eine schriftliche Einladung?« Die haben sie wohl gebraucht.

Ich bitte Dr. Fenton, neben mir Platz zu nehmen. Ein zweiter Professor schließt sich uns an und setzt sich an meine andere Seite. Es ist der rothaarige hippe Monopoly-Typ, der uns im College-Museum Warrior Girl gezeigt hat. Dr. Leer-wah. Er sieht genauso spießig aus wie beim letzten Mal. Er trägt einen Anzug, obwohl es fast dreißig Grad hat.

Die Tagesordnung, die ich getippt habe und auf spezielles Papier hab drucken lassen, beginnt mit der Begrüßung durch Chief Manitou. Er sagt das Übliche, stellt sich zunächst in unserer Sprache vor, gefolgt von ein paar Dankesworten an den Hochschulrat und die akademische Leitung des Mackinac State College für ihr Kommen.

Ein Ältester sagt ein Gebet auf Ojibwemowin, segnet das Essen und die Hände, die es zubereitet haben.

Als Nächstes spricht Cooper. Er stellt sich vor und wendet sich dann an die Gäste vom College.

»Wenn wir zu einem Essen zusammenkommen, bitten wir unsere Ältesten zuerst, ihre Teller zu füllen. Wir danken für die Opfer, die sie erbracht haben, ehren sie für alles, was sie ertragen haben und was sie für uns in ihren Erinnerungen tragen – ihre bewussten Erinnerungen, die in Geschichten weitergegeben werden, und die Erinnerungen, die durch ihr Blut in die nächste Generation einfließen. Ich möchte auch meine Praktikantin Perry Firekeeper-Birch bitten, einen Teller für unsere Vorfahren zurechtzumachen und für all jene, die die Community freiwillig oder unfreiwillig verlassen haben. An unserem Tisch werden sie immer einen Platz haben, damit ihr Spirit genährt wird und sie wissen, dass sie nicht vergessen wurden. Aho.«

Ich führe Granny June zu dem Tisch, wo Erik noch mit dem Teppich beschäftigt ist. Er blickt nicht auf. Ich fülle den Teller mit einem kleinen Löffel von jedem Gericht.

»Wer ist der Junge, der dich die ganze Zeit anstarrt?«, fragt Granny June zu laut, obwohl ich direkt neben ihr bin. »Der, der einen Teppich nicht gerade hinlegen kann?« Erik geht eilig davon.

»Nur ein Junge«, sage ich.

»Hmmm. Ich kannte einmal so einen Jungen. Vielleicht auch zwei«, sagt sie.

Granny will Leer-wahs Platz neben mir. Er scheint gutmütig zu sein und rutscht ohne viel Aufhebens einen Stuhl weiter. Als er sich vorstellt, klingt sein schicker Name noch affektierter.

»Hallo. Ich bin Dr. Leer-wah, Lehrbeauftragter für Archäologie am Mackinac State College. Aufgewachsen bin ich …«

»Ich bin June Chippeway«, unterbricht ihn Granny. »Sofern ich mich erinnere, aßen die Ältesten nicht zuerst.« Sie sagt es wie einen Vorwurf. »Sie ließen die binoojins zuerst essen, dann die kwewag, die schwanger waren oder binoojins gestillt haben. Unsere Ältesten hätten Hunger gelitten, damit die Jungen essen konnten.«

Nach dem Mittagessen und der obligatorischen Toiletten- oder Rauchpause begrüßt Cooper die Anwesenden und leitet die Vorstellungsrunde ein. »Miss Manitou hat für alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer in ihrer schönen Handschrift Tischkärtchen angefertigt, die sie entsprechend aufstellen wird.«

Als der Leer-wah-Typ sich vorstellt, platziert Miss Manitou ein Tischkärtchen vor ihm, auf dem steht Dr. H. LeRoy .

Schnell verwandle ich mein unterdrücktes Lachen über die geschwollene Aussprache in einen Hustenanfall. Ich höre nichts anderes, bis »Leer-wah« fragt, ob ich in Ordnung sei. Seine haselnussbraunen Augen blicken besorgt. Ich schäme mich, dass ich gelacht habe. Dann wird mir bewusst, dass ich an der Reihe bin.

Ich stelle mich auf Ojibwemowin vor und schließe die Übersetzung an. Dann füge ich hinzu, was ich auf Coopers Anraten die ganze Woche geübt habe.

»Da es bei diesem Meeting um unsere Vorfahren geht, möchte ich etwas über meine Vorfahren mit Ihnen teilen. Ich stamme von Theodora Firekeeper ab, der Tochter von Pearl Paquette, der Tochter von Maria Norman, die wiederum die Tochter von Sophie Williams ist, der Tochter von Louise John, der Tochter von Katherine Waakaayaabide, die die Tochter von Netamop Ogidaaki ist, die von allen Gichi Nokomis Giizis oder Urgroßmutter Mond genannt wurde. Durch sie bin ich mit fast jeder Ojibwe-Person auf Ziisabaaka Minising verwandt, da Netamop dreizehn Töchter hatte – die wir als die Dreizehn Großmütter bezeichnen –, die alle in verschiedene Familien auf Sugar Island eingeheiratet haben. Mein Tribe lehrt uns, sieben Generationen im Voraus zu denken, bevor wir eine Entscheidung treffen. Netamop würde an mich gedacht haben. Ich bin ihre Nachfahrin in der siebenten Generation und sie war die Nachfahrin in siebenter Generation von jemand anderem. Unsere Anishinaabe-Lehren sind keine abstrakten Konzepte oder Folklore. Meine Vorfahren hatten Namen und sie haben gute und schlechte Zeiten erlebt. Sie haben von mir geträumt. Und ich träume von ihnen. Aho.«

Sobald ich mit meiner Vorstellung fertig bin, beginne ich gleichzeitig zu zittern und zu schwitzen. Während ich sprach, war ich ruhig. Aber jetzt holt mich die ganze Nervosität ein. In der Schule muss ich ständig vor Leuten sprechen und normalerweise ist es easy. Was ist los mit mir? Liegt es daran, dass heute theoretisch ein Teil der Rückführungsverhandlungen stattfindet? Fühlt sich Pauline jeden Tag so? Futtert sie deshalb Weed-Gummibärchen wie Bonbons?

Dr. Fenton stellt sich vor. Sie zählt alle Universitäten auf, die sie besucht hat, bei welchen Professoren sie studiert hat, ihre Veröffentlichungen und die Forschungsstipendien, die sie erhalten hat. Sie ist die Einzige, die ihre Qualifikationen nennt.

Habe ich sie verunsichert? Meine Vorfahren verbinden mich mit dieser Arbeit. Vielleicht hatte Dr. Fenton das Gefühl, dass sie ihre Verbindungen aufzeigen muss – die zu prestigeträchtigen Ivy-League-Universitäten.

Nachdem sich alle Versammlungsteilnehmer vorgestellt haben, sollte Cooper einen Überblick über NAGPRA geben und die Rolle aufzeigen, die öffentliche Institutionen wie das Mack State und Tribes wie unserer darin spielen. Stattdessen gibt Chief Manitou seinem Cousin Rocky ein Zeichen, zu ihm nach vorne zu kommen. Rocky trägt seine Reifentänzer-Regalia und beginnt sofort mit seinem Schautanz.

What. The. Fuck.

Cooper guckt wie ein Reh mitten auf der Straße, starr vor Schreck. Dr. Fentons Blick ist auf Rocky Manitou geheftet, der gut und gerne die Titelseite eines Liebesromans über einen indianischen Krieger mit einer Zhaaganaash-Frau zieren könnte. Pah.

Ich beschließe, nach dem Essen zu sehen, sodass ich unbemerkt meine Schwester per SMS um Hilfe bitten kann.

ICH : Der Chief hat das Mackinac State College Event an sich gerissen. Hat Rocky mitgebracht, damit er tanzt.

PAULINE : Rocky ist schon irgendwie süß.

ICH : IMAGE Der hat ein Kind in jeder Rez.

PAULINE : Sein ganz persönliches Gathering of Nations. IMAGE

ICH : Was kann ich tun?

PAULINE : Ich würde ein Jungfrauenopfer auf ihn werfen?

ICH : Ich werfe mich auf niemanden.

PAULINE : Wusstest du, dass Auntie und TJ sich den ganzen verdammten Tag schreiben? Sind sie Fickfreunde?

ICH : Um das geht es doch jetzt nicht.

PAULINE : Chief Manitou hätte mich als Praktikantin behalten sollen.

ICH : Pauline. Echt jetzt.

PAULINE : Du musst die Kontrolle übernehmen, sobald Rocky seinen ersten Tanz beendet hat. Chief Manitou wird niemanden beim Sprechen unterbrechen, aber wenn er das IMAGE zuerst nimmt, hast du verloren.

ICH : IMAGE

Ich nehme eine Tribal-Library-Tragetasche aus dem Schrank neben Miss Manitous Schreibtisch. Am Buffet, wo Freiwillige schweigend aufräumen, wickle ich das übrige Frybread in Alufolie ein und packe es in die Tragetasche. Mein Magen knurrt; ich hatte noch nicht einmal Granny Junes gebackene Bohnen auf meinem Teller probiert, als der Tag schon aus dem Ruder lief.

Sobald Rocky Manitou seinen Tanz beendet hat, stehe ich neben ihm. Unsere Gäste klatschen und ich gestikuliere wie eine Gameshow-Moderatorin.

»Miigwech, Cousin«, sage ich. »Wir sind so stolz auf dich. Im Namen der Bibliothek und des Museums ist es mir eine Ehre, dir ein kleines Zeichen unserer Wertschätzung zu überreichen.« Ich sehe Cooper direkt an, der nickt. »Mein Chef hat mich gebeten, unsere Gäste vom Mackinac State College in den Flur unseres Museums zu führen. Meine Qualitäten als Museumsführerin werden bewertet. Bitte helfen Sie mir, eine gute Bewertung zu bekommen.«

Ich habe keine Ahnung, was Chief Manitou noch geplant hatte, aber ich habe die Kontrolle des Flugzeugs zurückgewonnen und bringe es zur sicheren Landung.

Unser Tribal Sub-Chief Tom Webster bleibt stehen und schüttelt mir die Hand. Während Häuptling Manitou ein Poser ist, der Designeranzüge und geschnitzte Onyxmedaillons größer als ein Hockeypuck trägt, hat der stellvertretende Chief des Tribes ein unaufdringliches, ruhiges Selbstbewusstsein.

»Dich muss man im Auge behalten, Kleine Cousine.« Er grinst.

Ich führe meine Gruppe in die erste Ausstellung des Museums. Ich mache einen großen Schritt über den Lasersensor am Boden, damit die Schöpfungsgeschichte nicht beginnt, bevor alle ihren Platz eingenommen haben. Als ich auf den richtigen Knopf gedrückt habe, um die Multimediapräsentation zu starten, setze ich mich neben Dr. Fenton. Die Trommeln fesseln die Aufmerksamkeit der Teilnehmer. Die gewölbte Decke sieht aus, als wäre sie voller Sterne, während das digitale Lagerfeuer den zylinderförmigen Bildschirm ausfüllt.

Während der Sintflut opferte sich die Bisamratte. Sie tauchte tief genug, um eine kleine Handvoll Erde aufzunehmen, die ihre Gefährten fanden, als ihr Körper wieder an die Oberfläche kam. Viele werden an dieser Stelle emotional. Ich blicke zu Dr. Fenton, deren Augen angesichts des noblen Tods der Bisamratte trocken bleiben. Das einzige vernehmliche Schniefen kommt von Leer-wah, der mir gegenübersitzt. Er ist immer noch betroffen, als die Freunde der Bisamratte, einschließlich dem Otter, die Erde auf den Rücken der Schildkröte laden, wo sie wurzelt und neue Pflanzen emporsprießen. Der Rücken der Schildkröte wird größer und bildet unseren Kontinent, wie der Sprecher erklärt. Was manche Nordamerika nennen, ist für uns Turtle Island.

Als wir zur nächsten Ausstellung weitergehen, zwängt sich Leer-wah zwischen mich und Dr. Fenton. Er stellt mehr Fragen als alle anderen. Wobei »Frage« der falsche Ausdruck ist für das, was sich wie eine Mini-Vorlesung anhört, die jedes Mal mit Glauben Sie nicht auch? abgeschlossen wird. Ich kann mir vorstellen, dass seine eigentlichen Vorlesungen endlose Monologe sind, die sich seine Studierenden ohne Chance auf ein Entrinnen anhören müssen. Pah. Er trägt einen korrekten Anzug, der signalisiert, dass er zu den Akademikern gehört, lässt aber den Coolness-Faktor betont raushängen, mit dem einzelnen goldenen Ohrring, dem Dreitagebart und seinem roten Haar, das lang genug ist, um mit einem Lederband zurückgebunden zu werden.

Da Cooper seine Präsentation, die er die ganze Woche über vorbereitet hatte, nicht halten konnte, versuche ich, seinen Vortrag in meine Tour zu integrieren.

»Mr Turtle, trifft es zu, dass diese Gegenstände Teil der ersten Rückführung waren, an der Sie teilgenommen haben?«

»Ganz genau.« Cooper versteht sofort und ergänzt: »Es war das Ergebnis einer erfolgreichen Zusammenarbeit mit der Central Michigan University, die bis heute anhält.«

In der Nähe von Dr. Fenton zu bleiben, ist schwieriger, als ich mir vorgestellt hatte. Sie beobachtet alles schweigsam und will sich nicht auf mich einlassen. Wenn sie nur wie Dr. Leer-wah mit seinen unzähligen Fragen wäre: Was können Sie uns über diese Sternenkarte sagen? Was über diese Pflanzen? Bedeutet die gerundete Spitze des Wigwams den Schoß von Mutter Erde?

Ich erinnere mich an Coopers Lektion, nur die Informationen weiterzugeben, die uns nichts kosten, und halte mich an die Beschreibungen in den Glasvitrinen, die ich auswendig kann, weil ich jeden Zentimeter der Ausstellung geputzt, poliert und gesaugt habe.

»Ist Dreizehn eine besondere Zahl in der Ojibwe-Kultur?«, fragt Leer-wah.

Als ich bei meiner Vorstellung von den Dreizehn Großmüttern erzählte, wollte ich lediglich zeigen, wie eng unsere Familienbande auf Sugar Island miteinander verknüpft sind. Ich hatte nicht vor, ein Portal für kulturelle Schulungen zu öffnen.

»Nein«, sage ich. »Ich meine, es gibt dreizehn Monde im Jahr und dreizehn Schilder auf Mishiikes – ich meine auf dem Panzer der Schildkröte. Aber die Anzahl von Netamops Töchtern war reiner Zufall.«

Leer-wah neigt den Kopf, als würde er meine Antwort überdenken. Ich bin nicht sicher, dass er mir das abkauft.

Wir kommen zum letzten Teil der Ausstellung: zeitgenössisches Ojibwe-Geschichtenerzählen durch Kunst, die die Verbindung der Vergangenheit mit der Gegenwart und der Zukunft zelebriert. Dr. Fenton sieht sich nur die Beschriftungen zu den ausgestellten Gegenständen an.

Vielleicht ist eine Geschichte über meine Familie hilfreich, um Dr. Fenton mit diesem Museum zu verbinden?

Ich führe die Gruppe zu der Glasvitrine mit dem Korb meiner Urgroßmutter. Ich nehme zwei Paar weiße Baumwollhandschuhe aus einer Schublade in der Nähe und reiche ein Paar Dr. Fenton.

Als ich Nokomis Marias Korb aus der Vitrine nehme, fühlt er sich so leicht an, als könne er der Schwerkraft trotzen. Ich reiche ihn Dr. Fenton. Sie zögert, bevor sie ihn nimmt.

»Als meine Großmutter Pearl im Jahr 1942 zur Welt kam, wurde sie kurz darauf krank. Meine Urgroßmutter Maria war so besorgt, dass sie sich meine Großmutter vor die Brust band und zum nächsten Nachbarn auf Sugar Island ging. Ihre Nachbarin war Zhaaganaash, wie wir nicht-indigene Personen nennen. Sie erklärte sich einverstanden, meine Urgroßmutter ins Krankenhaus zu fahren, im Tausch gegen einen Korb. Meine Urgroßmutter stimmte zu, musste jedoch den Korb holen, bevor sie den Fluss überquerten.«

Ich sehe mich im Raum um. Alle hören mir zu, außer Dr. Fenton. Ihr Blick ist auf den Korb fixiert. Sie fährt mit einem Finger leicht über das gedrehte Band aus Schwarzesche, das früher lila oder braun gefärbt war, jetzt aber irgendwo zwischen den beiden Farben liegt.

»Im Krankenhaus sagte die Nachbarin, wenn meine Urgroßmutter mit zurückfahren wolle, würde das zwei Körbe kosten. Und sie wolle die Körbe selbst auswählen.«

Jemand in der Gruppe schüttelt den Kopf. Ein anderer murmelt Schande über sie.

»Meine Großmutter Pearl hatte Diphtherie. Sie hat überlebt. Ich meine«, ich stolpere über meine Worte, »ich wäre nicht hier, wenn sie nicht überlebt hätte. Wenn ich diesen Korb sehe«, ich drehe mich zu Dr. Fenton, damit sie mir in die Augen sehen kann, »frage ich mich, ob es einer dieser drei Körbe ist. Und ich bin dankbar, dass er nun ein Teil unserer Sammlung ist.«

Am Ende des Tages verabschieden Cooper und ich unsere Gäste. Er hatte Gelegenheit, den Nachmittag über mit jedem Einzelnen zu sprechen. Ich tat mein Bestes, um mich an Dr. Fenton zu hängen, obwohl ich nicht glaube, dass sie ihre Meinung über uns geändert hat.

Nachdem das Shuttle abgefahren ist, betritt Dr. Leer-wah noch einmal das Gebäude. Er erklärt, dass er mit dem eigenen Wagen gekommen sei. Ich vermute, dass er mit Cooper noch ein Gespräch führen will, winke höflich und will schon gehen.

»Bitte, Perry, es wäre schön, wenn du bleiben könntest«, sagt Leer-wah. Ich unterdrücke das Verlangen, auf mein Handy zu schauen, um nachzusehen, wie spät es ist. Stattdessen lächle ich ausdruckslos. Er fährt fort: »Dr. Fenton wurde in ein Taskforce-Komitee am College berufen, was bedeutet, dass ich die Position des Verhandlungsführers im Rückführungsteam einnehme.«

Bei diesen Neuigkeiten richtet sich Cooper etwas auf. Vielleicht wünscht er nun, dass ich mich den ganzen Tag an Dr. Leer-wah gehängt hätte anstatt an Hamster-Raquel? Vielleicht hätte ich besser auf Leer-wahs Fragen achten sollen, die eigentlich keine Fragen waren?

»Ihre Praktikantin ist eine ausgezeichnete Museumsführerin«, sagt er zu Cooper. Dann richtet er sich an mich. »Wie lange dauert dein Praktikum?«

»Insgesamt zehn Wochen«, sage ich. »Jetzt sind es noch sieben Wochen.«

»Gibt es eine Möglichkeit, das Praktikum zu verlängern?«, fragt er. Wir sehen beide Cooper an, der gelassen scheint.

»Vielleicht. Warum fragen Sie?« Mein Chef hält den Blick auf die Mack-State-Verhandlungsführer gerichtet.

»Es ist so, Cooper, ich war beeindruckt und hatte gehofft, dass Perry Teil des Verhandlungsteams werden könnte.« Leer-wah zeigt ein warmes Lächeln. »Ich habe die Absicht, eine Deadline zu setzen – vielleicht heute in einem Jahr –, um die menschlichen Überreste der dreizehn Vorfahren, die kulturell mit Sugar Island verbunden sind, rückzuführen.« Er hebt eine Hand. »Ich kann nichts garantieren, aber nun, da ich der Verhandlungsführer bin, habe ich die Absicht, eine erfolgreiche Rückführung in die Wege zu leiten.«

Juhu.

Leer-wah lacht. Ich muss es laut gesagt haben.

Aber … ein Jahr bleiben? Ich habe zugesagt zu helfen, Warrior Girl nach Hause zu bringen, ohne zu überlegen, wie sich das entwickelt. Vielleicht habe ich tatsächlich ein Talent für Verhandlungen bei Geiselnahmen. Ist es nicht so, dass das Mack State unsere Vorfahren als Geiseln hält?

Cooper hat ein undurchschaubares Pokerface. Er reibt sich das Kinn, als grüble er über etwas nach.

»Lassen Sie uns morgen darüber sprechen. Wie wäre das?«, bietet er Leer-wah an. Beide nicken und erwägen für morgen ein gemeinsames Mittagessen.

Ich warte, bis Leer-wah ein zweites Mal geht, und sehe ihm nach, wie er Richtung Downtown-Parkhaus verschwindet, bevor ich einen Freudensprung mache, bei dem meine Docs seitlich zusammenklicken.

»Und was jetzt, Boss?«, frage ich ihn mit einem breiten Grinsen. »Soll ich als Nächstes den Weltfrieden angehen?«

»Ich komme morgen wieder und führe den guten Kampf fort; und du kommst am Montag wieder.« Er versucht, sein Pokerface beizubehalten, aber ich sehe die Begeisterung in seinen Augen.

»Kannst du mich nicht von dem Praktikantenseminar befreien?«, jammere ich.

»Eine Padawan muss von vielen Lehrern lernen.« Er räuspert sich, und als er weiterspricht, klingt seine Stimme ernst. »Gni-ta na-kii, Wiidookaagewikwezans.«

Das ist vielleicht das schönste Kompliment, das ich je erhalten habe.

Jetzt fährt er mit seiner normalen Stimme fort: »Wir suchen noch Tribal Citizens, die sich bei der Rückführung engagieren und bei den Vorbereitungen mithelfen möchten, wenn wir schließlich unsere Vorfahren nach Hause bringen. Ich werde das morgen beim Mittagessen zur Sprache bringen. Wir warten ab, ob der Hochschulrat einen Diskussionspunkt auf die Tagesordnung seiner nächsten Sitzung setzt. Idealerweise sollten sie eine Zusage hinsichtlich der dreizehn Vorfahren machen.«

»Zusammen mit einer Liste der Reifen, durch die wir springen sollen?«, füge ich hinzu.

Er nickt. »Wo wir gerade von Reifen sprechen – das war gut, wie du uns nach Rockys Vorstellung wieder auf Kurs gebracht hast.«

Wir rollen beide mit den Augen.

»Warum hat Chief Manitou das getan?«, frage ich. »Ich meine, wir haben den Ablaufplan an alle Mitglieder des Tribal Council geschickt. Warum wollte er das Meeting an sich reißen? Und mit Rocky?«

»Ich weiß es nicht. Der Tribal Council lässt sich so lange nicht in die Karten schauen, bis er dazu bereit ist.«

»Ich hoffe nur, dass die Collegeleute bemerkt haben, dass unsere Archive sauberer und besser organisiert sind als ihre«, sage ich. »Ich meine, wie kommt Dr. Fenton dazu, uns von oben herab zu behandeln, wenn ihr Büro wie der Schauplatz eines Zugunglücks aussieht? Im Ernst, ich hätte alle Samen aus dem Korb nehmen können und nicht nur ein paar. Sie hätte es nicht einmal bemerkt. Sie wird für ihre Bestandsaufnahme ein weiteres Jahrzehnt brauchen, mindestens.«

Es ist später, als ich gedacht habe, da Mom den SUV auf den freien Parkplatz fährt, wo vorhin noch das Shuttle stand.

»Nur einen Moment. Ich muss noch mein Zeug holen«, sage ich, bevor ich ins Gebäude gehe.

Mom fragt Cooper, wie es mit den Besuchern vom Mack State gelaufen ist. Ich wünschte, ich könnte alle guten Dinge hören, die Cooper ihr über den heutigen Tag erzählt.

Sein Lob von vorhin klingt mir noch den ganzen Weg bis zur Fähre nach. Du bist eine gute Mitarbeiterin, Helper Girl.