KAPITEL 10

Kapitel 10

Freitag, 27. Juni

I ch bin erleichtert, dass meine Schwester beim Freitagsseminar neben mir sitzt, sodass Erik einen Platz weiterrücken muss. Das einzige Problem ist, dass Pauline eine ihrer Launen hat, weil sie immer noch dem Team Tribal Council nachweint.

»Sie anzustarren, wird nichts an der Situation ändern«, sage ich. Sie ignoriert mich und wendet sich an Lucas.

Ich drehe mich zu Shense. »Und wie geht es dir, Teen Mom?«

»Die Kacke meines Babys stinkt jetzt mehr als früher«, sagt sie. »Wie ist das möglich, wenn ich sie hundertprozentig stille und dasselbe esse wie immer?«

Claire beginnt mit »Wer will von seiner Woche erzählen?«.

Normalerweise würde Pauline wie wild strecken, um aufgerufen zu werden. Stattdessen flüstert meine Schwester Lucas etwas zu, das ihn zum Lachen bringt.

Ich stupse Shense an. »Erzähl ihnen von der Kacke deines Babys.« Sie kichert.

Drei Leute vom Team Tribal Council schwärmen im Chor von den fantastischen Dingen, die sie diese Woche getan haben. Pauline streicht ihr Haar hinters Ohr. DEFCON 4. Bevor Claire einen weiteren Praktikanten vom Tribal Council aufrufen kann, melde ich mich.

»Perry. Willst du etwas sagen?«, fragt Claire, sie klingt überrascht, aber erfreut.

»Das Tribal Museum hatte Gäste von ein paar Professoren und dem Hochschulrat des Mackinac State College. Ich habe eine Führung gegeben«, sage ich.

»Wow, Perry, inzwischen bist du eine richtige Expertin für Führungen«, sagt Claire.

Ich erinnere mich an meine Lüge vom ersten Seminartag. Zwei Wochen später gebe ich tatsächlich Führungen.

Nach unseren wöchentlichen Updates beginnen die Vorträge der heutigen Gastredner.

Die erste Rednerin ist Coopers Frau. Ich kenne Mrs Turtle von der Malcolm Highschool. Mit ihrer Kurzhaarfrisur und dem lavendelfarben schimmernden silbernen Haar sieht sie stylish aus. Mrs Turtle spricht in einer Art über die Malcolm, dass man meinen könnte, es handle sich um eine elitäre Privatschule und nicht um eine alternative Highschool. Ihre Anwerbungsbemühungen sind bei den Kinomaage-Praktikanten, die bereits am College sind, verschwendet. Und bei Shense und mir läuft sie offene Türen ein. Mit Pauline, deren Ziel es ist, Klassenbeste zu werden, und Lucas, der jeden Sport treibt, den die Sault High anbietet, besteht Mrs Turtles Zielgruppe bestenfalls aus sechs Praktikanten. Es wäre erfolgversprechender gewesen, sie ins Dairy Queen einzuladen.

»Wir begrenzen die Einschreibung auf achtzig Schüler. Das ermöglicht unseren Lehrern, jedem Schüler die Aufmerksamkeit zu geben, die er braucht«, sagt sie. »Wir haben vier Tage in der Woche Unterricht, der Freitag ist für eigenständige Recherchen oder Arbeitsstudien vorgesehen.«

Ich hoffe, dass Mrs Turtle mich nicht aufruft, damit ich über meine Erfahrung an der Malcolm spreche. Zu meiner »eigenständigen Recherche« gehört, freitags auszuschlafen und den Rest des Tages Pops zu helfen. Wir haben eine spezielle Erlaubnis für substanzielles und zeremonielles Jagen und Fischen auf Tribal und staatlichem Boden. Wenn jemand ein Namensfest plant und traditionelle Speisen wie Wild, geräucherte Renke oder Truthahn möchte, können wir das Wildbret oder den Fisch für das Event liefern. Ein paar der Ältesten essen gerne Kaninchenragout oder andere traditionelle Gerichte. Ich muss nur ein Tagebuch führen und in jedem Halbjahr eine Präsentation darüber halten. Das ist eine geschenkte Eins. Damit bin ich völlig einverstanden.

»An der Malcolm unterstützen wir die Schüler dabei, Credits aufzuholen und ihren Abschluss planmäßig zu machen«, sagt Mrs Turtle. »Wir haben sogar ein paar Schüler, die diese Aufholmöglichkeit als beschleunigtes Programm nutzen, um den Abschluss schneller als vorgesehen zu machen. Unsere Aufgabe ist es, jeder Schülerin und jedem Schüler zu helfen, die eigenen Ziele zu verwirklichen und auf die jeweilige Art des Lernens der Schüler einzugehen.«

Irgendjemand vor uns flüstert einen Witz über alternative Schulen. Shense und ich treten gleichzeitig gegen seinen Stuhl. Er dreht sich um.

»Malcolm sagt, dass du dich ins Knie ficken kannst«, sagt Shense.

»Wow! Wo hast du gelernt, so für dich einzustehen?«, flüstere ich meiner Freundin zu.

»An der Malcolm«, sagt sie, ohne zu zögern.

Claire spricht über das Seminar der folgenden Woche.

»Wie ihr wisst, ist nächsten Freitag das alljährliche 4.-Juli-Picknick des Tribes. Die Kinomaage-Praktikanten erhalten doppelte Bezahlung, wenn sie beim Picknick mitarbeiten.« Lucas ist unter denen, die über die zusätzlichen 80 Dollar begeistert jubeln. »Wir versorgen die Ältesten den ganzen Tag mit Essen und Trinken. Wir benachrichtigen die Sanitäter im Erste-Hilfe-Zelt, falls einer der Ältesten überhitzt ist oder bei anderen medizinischen Notfällen.«

Claire spricht weiter. »Außerdem werden wir schauen, wer von den Ältesten Geschichten erzählen will, die wir für kommende Generationen aufnehmen werden. Ich gebe eine Schachtel mit Mini-Diktiergeräten mit Geräuscherkennung herum. Jeder nimmt sich eins und gibt die Schachtel weiter.«

Nach einer kurzen Anleitung, wie man das Gerät bedient, spricht sie über die Zustimmung. »Wir fragen, ob sie eine Geschichte erzählen möchten. Falls ja, bitten wir um Erlaubnis, sie aufnehmen zu dürfen. Stimmen sie beidem zu, erhalten sie ein Tobacco Tie. Warum geben wir den Tabak nicht, bevor wir fragen?«

Ich erwarte, dass Pauline streckt, aber stattdessen meldet sich Lucas.

»Sie könnten das Gefühl bekommen, dass sie keine Wahl haben, wenn sie erst einmal semaa angenommen haben.«

Ein großer Korb mit Tobacco Ties wird herumgereicht. Jeder nimmt eine Handvoll der winzigen Stoffbeutelchen, gefüllt mit lose geschnittenem Pfeifen-semaa und mit einem feinen Bändchen zugebunden.

»Wenn sie zustimmen, schaltet ihr das Gerät ein. Gebt das Datum und die Uhrzeit an, euren Namen und die Schreibweise sowie die vollen Namen der Ältesten und die Schreibweise. Dann stellt ihr noch einmal beide Fragen, ob sie etwas erzählen möchten und ob ihr es aufnehmen dürft. Damit ist die Zustimmung Teil der Aufnahme. Wir werden einen traditionellen Heiler, einen Psychotherapeuten und geriatrische Betreuer beim Picknick dabeihaben. Falls Älteste sich beim Interview nicht wohlfühlen, fragt sie bitte, ob sie das Interview abbrechen wollen und ob sie mit einem Heiler oder Therapeuten sprechen möchten.«

Einer der Praktikanten hebt die Hand. »Über was werden sie sprechen? Sollen wir ihnen Fragen stellen, damit sie einen Anfang finden?«

»Ausgezeichnete Frage«, sagt Claire. »Euer Team kann sich auf ein spezielles Thema konzentrieren, zum Beispiel wie es war, auf Sugar Island aufzuwachsen. Aber normalerweise brauchen Älteste, die erzählen möchten, keine Unterstützung.«

Lucas murmelt etwas über seine Granny. Pauline kichert.

»So, wer möchte unsere unglaublichen Ältesten interviewen?«, fragt Claire aufmunternd.

Sie hat wirklich alles bedacht: die Zustimmung der Ältesten, semaa auf eine gute Art verwenden, und sie hat Vorsorge getroffen, falls einer der Ältesten von seinen Gefühlen überwältigt wird. Ich bin beeindruckt.

Als ich meine Hand hebe, holt Claire tief Luft, bevor sie mich aufruft. Es sieht aus, als erwarte sie, dass ich gleich einen Witz reiße.

»Ich bin dabei, Claire.«

Nach einem weiteren Gastredner kündigt Claire an, dass unsere Teamchallenge diese Woche in den neuen Escape-Rooms im Zentrum von Sault stattfinden wird. Es gibt dort fünf Räume, die auf denselben Schwierigkeitsgrad angepasst wurden. Jedes Team zieht eine Karte mit einer Raumnummer aus einem Hut. Alle beginnen gleichzeitig. Nach der Challenge gibt es Sandwiches im Tribal-Council-Konferenzraum, dann gehen wir zurück in die Chi Mukwa, um Ideen für unsere letzte Challenge zu besprechen.

»Wenigstens kommen wir hier mal raus«, sage ich zu Pauline.

Sie schaut immer noch zu ihrem alten Team. Ich stupse sie an.

»Komm schon. Du bist jetzt ein Misfit Toy«, sage ich begeistert.

»Ich glaube nicht, dass das gut angekommen ist, Pear-Bear«, sagt Lucas. Er legt seinen Arm um Pauline. »Mit dir in unserem Team räumen wir ab.« Ihre gerunzelte Stirn glättet sich.

»Ja, Pauline«, fügt Shense hinzu. »Lass uns schnell entkommen und alle Sandwiches aufessen.«

»Das klingt nach einem guten Plan.« Eriks tiefe Stimme lässt mich zusammenzucken. Ich hatte ihn völlig vergessen.

Er ist in der Sonne gewesen. Seine Haut ist dunkler und sein Haar heller. Seine Augen sind lebendiger als zuvor. Nicht, dass er mich ansehen würde. »Malcolm sagt, dass du dich ins Knie ficken sollst«, murmle ich vor mich hin.

Team Misfit Toys entkommt so schnell aus dem Escape Room, dass wir noch vor den Sandwiches im Tribal-Council-Konferenzraum sind. Pauline begrüßt die Chefsekretärin, die erwähnt, dass Chief Manitou heute den ganzen Tag in St. Ignace ist. Ich hoffe, dass diese Info meine Schwester etwas entspannt. Es ist wirklich lästig, wenn man ihr ständig zugucken muss, wie sie sich hinter dem Ohr reibt. Ihre Angstzustände führen dazu, dass ich bereue, kein zusätzliches Notfall-Weed-Gummibärchen für mich eingesteckt zu haben. Ich habe nur eins für sie mitgenommen, das sie aber direkt nach den wöchentlichen Updates gebraucht hat.

Ich glaube, dass mein Hirn langsam arbeitet, weil das von Pauline immer Vollgas gibt. Ich könnte versuchen, bessere Noten zu bekommen, aber dann würde ich vermutlich genau wie meine Schwester Weed-Gummibärchen in mich hineinstopfen. Sie sagt, dass sie ihr beim Einschlafen helfen, weil ihr Hirn sonst nicht abschaltet. Wenn Angstzustände der Preis dafür sind, der schlaue Zwilling zu sein, bin ich im Team »Dabei sein ist alles« vollkommen zufrieden.

Sub-Chief Webster gesellt sich zu uns, während wir auf das Mittagessen warten.

»Wow. Das war aber ein schnelles Entkommen«, sagt er.

»Shense kann Schlösser knacken«, verrät Lucas.

»Du sollst ihm unsere Geheimnisse nicht verraten«, sage ich und schubse ihn. Das war nur zur Hälfte Spaß.

»Pauline hat alles durchdacht, was es zu durchdenken gab«, sagt Lucas. »Perry hat uns rumkommandiert.« Ich zucke mit den Schultern und er spricht weiter. »Ich gab vor zuzuhören. Erik fand eine Hintertür in den Regeln. Und Shense hat das Schloss geknackt, weil in den Regeln stand, dass wir alles, was wir im Raum finden, verwenden können. Sie hat eine Büroklammer und eine McDonald’s-Geschenkkarte im Müll gefunden, mit der sie das Schloss geöffnet hat.«

Die Sekretärin, die mit dem Mittagessen hereinkommt, sieht bestürzt aus. Pauline geht zu ihr, um sie zu umarmen, und die Sekretärin sinkt zusammen. Pauline hält sie fest, während die Frau etwas in ihre Bluse nuschelt.

»Das tut mir so leid«, sagt meine Schwester. »Wir können das Mittagessen aufbauen.« Sie wendet sich an den Sub-Chief. »Mr Webster, die Tribal Police hat eine Leiche gefunden. Sie glauben, dass es sich um Darby O’Malley handelt.«

Sub-Chief Webster sagt der Sekretärin, dass sie den restlichen Tag freinehmen soll.

»Sie haben zusammen Hockey gespielt«, erklärt er. »Sie war mit Darby an dem Abend unterwegs, an dem sie verschwunden ist.« Der Sub-Chief verlässt den Konferenzraum.

Wir essen schweigend. Nur Shense hat einen gesunden Appetit.

Team Tribal Council platzt so ungestüm herein wie wir vermutlich vor einer halben Stunde.

»Was?«, ruft ihr Anführer. »Ihr habt uns geschlagen?« Die anderen beiden Teamkollegen lachen.

Pauline bittet Claire um Erlaubnis, zu ihrer Einsatzstelle bei der Tribal Police zurückzukehren, da sie sicherlich ihre Hilfe brauchen. Wir bieten an, sie zu begleiten, aber Claire schickt uns zurück in die Chi-Mukwa-Arena.

Ich fahre bei Shense im Auto mit. Im Rückspiegel schaut sie zu Eriks Auto.

»Das hat sich aber schnell abgekühlt.«

»Pah. Keine Flamme. Kein Funken«, sage ich.

»Hmm.« Sie schaut noch einmal in den Rückspiegel. »Küsst er schlecht?«

»Nein. Das ist es nicht … er ist nicht …« Ich sehe Shenses besserwisserisches Lächeln. »Wir sind zusammen irgendwo hingefahren, dann habe ich etwas getan, und er wurde ärgerlich.«

»Böse ärgerlich oder enttäuscht ärgerlich oder genervt ärgerlich oder …«

»Hey. Wie viele Arten von ärgerlich kennst du?«

»Lenk nicht ab oder ich werde böse ärgerlich«, sagt sie.

Shense bringt mich zum Lachen. Sie gehört zu den Leuten, die unabsichtlich witzig sind.

»Okay, okay«, sage ich. »Wir sind zusammen zu einem Geschäft nach St. Ignace gefahren, damit ich mir ihr kleines, popeliges Museum voll mit«, ich mache Anführungszeichen in die Luft, »›Indianerdingen‹ ansehen konnte. Ein verzogenes Kind hat eine der Ausstellungsvitrinen umgeworfen, und in dem Chaos habe ich einen Korb mitgenommen, den ich als den meiner Urgroßmutter erkannt habe. Erik wurde wütend.« Ich erlebe im Geist noch einmal den Moment, in dem er meinen Namen gesagt hat und es sich wie ein Schlag in die Magengrube anfühlte. »Er war … enttäuscht, dass ich etwas so … Leichtsinniges getan habe.«

»War das dieser Teepees-n-Trinkets-Laden?«

Ich nicke und schaue auf Eriks Auto im Seitenspiegel.

»Hast du wenigstens geschaut, ob es eine Kamera gibt?«, fragt sie.

»Natürlich. Eine Frage der Gewohnheit, weil der Sicherheitsdienst in den Geschäften sich immer an mich dranhängt.«

»Gut«, sagt sie, die Augen immer noch auf die Straße gerichtet. »Die meisten kleinen Firmen installieren ein System und sind nach wenigen Monaten so überfordert, dass sie es wieder aufgeben. Oder sie unternehmen gar nichts, außer ein paar Sticker mit Überwachungswarnhinweisen in ihr Schaufenster zu kleben.«

»Sieh an. Da spricht die Tochter des Casino-Sicherheitschefs.« Ich lache. »Wie heißt das noch mal? Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.«

Sie muss auch lachen. »Ist echt so. Wenn mein Vater früher wollte, dass ich ihn nicht störe, gab er mir ein altes Schloss und eine Sicherheitsnadel. Damit war ich dann eine ganze Zeit beschäftigt, bis ich zu gut darin wurde.«

»Bringst du es mir bei?«

Sie fährt auf den Parkplatz der Chi-Mukwa-Arena. »Sicher. Der Trick dabei ist, es mit geschlossenen Augen zu tun. So hörst du besser und bekommst ein Gefühl für das Innere des Schlosses.«

Wir verbringen den Nachmittag in dem uns zugewiesenen Besprechungsraum und diskutieren Ideen für unser Abschlussprojekt. Ich schreibe Pauline eine SMS mit Updates, bis sie antwortet, dass es bei der Arbeit zu hektisch zugeht.

»Wir sollten uns ein Projekt überlegen, mit dem wir in der Community herumkommen und aus diesem winzigen Raum raus.« Lucas läuft um den Tisch. »Ich hab’s«, verkündet er. »Falls Claire nach mir fragt, sagt ihr, dass ich meine Granny June wegen des Abschlussprojekts besuche.«

»Nimm mich mit«, flehe ich.

»Lass uns nicht hängen, Perry«, sagt Shense.

Ein paar Minuten später tut Shense genau das. Sie sagt Erik und mir, dass sie Milch abpumpen muss. Dann verlässt sie den Raum mit einem Zwinkern und einer unübersehbaren Kopfbewegung Richtung Erik.

Ich schreibe Auntie eine Nachricht, um nach Neuigkeiten wegen der gefundenen Leiche zu fragen. Sie antwortet nicht sofort.

»So, ähm … Lief es gut mit der Museumstour?«, fragt Erik.

»Ja. Wir haben gute Chancen, dreizehn Vorfahren zurückzubekommen.«

»Das ist … Das ist cool.«

»Jap.«

»Du hast sehr hübsch ausgesehen. Ich meine in dem Outfit.« Er hustet. »Ich meine …«

Der Anführer des Teams Tribal Council platzt in unseren Raum.

»Ihr seid immer noch Erster.« Er klingt angepisst.

»Schön«, sage ich ausdruckslos.

»Team Shrek-reation ist immer noch im zweiten Escape Room. Sie kommen nicht raus.« Der Anführer und die beiden anderen Praktikanten lachen.

Ich lache nicht. Und Erik auch nicht.

»Habt ihr euch schon euer Abschlussprojekt überlegt?«

»Warum?«, frage ich. »Sucht ihr noch nach einer besseren Idee als eurer eigenen?«

Der Anführer starrt mich etwas zu lange an, bis er in das Lachen seines Teams einfällt. Sie gehen. Seine Stimme klingt nach, als die Tür sich langsam schließt.

»Vermutlich warten sie auf die nächste vermisste Person, damit sie die Suche organisieren können.«

What. The. Fuck. Blitzschnell renne ich zur Tür und hole den Anführer ein.

»Du denkst, wir sollten auf die nächste vermisste Nish kwe warten?«, schreie ich. Er ist größer als ich. Ich muss zu ihm aufsehen. »Für unser Teamprojekt?«

Der Anführer rudert sofort zurück. »Das habe ich nicht gesagt. Das musst du missverstanden haben.« Er blickt sich um, sucht Rückhalt bei seinen Teamkollegen.

Ich sehe ihm fest in die Augen.

»Weil jeder, der auf diese Art von unseren vermissten Frauen spricht, ein Stück Scheiße ist, stimmt’s?« Meine Stimme ist tief und fest.

»Ich sag’s noch mal, tut mir leid, wenn du da etwas falsch verstanden hast«, sagt der Anführer.

»Perry Firekeeper-Birch?« Es ist Claires Stimme, die hinter mir ertönt.

Er geht davon, aber ich bleibe eisern stehen und fixiere seinen Rücken. Ich warte darauf, dass er …

Jap. Da ist es. Dieser eine letzte Blick, den er mir unbedingt noch zuwerfen muss. Ich stehe da, aufrecht, stolz, stark, offensiv. Das ist das Bild, an das sich dieser Arsch erinnern wird, falls er vorhat, mich noch einmal herauszufordern.

Das ist nicht mein erster Machtkampf. Und es geht nicht nur um den Moment; es geht darum, zukünftigen Bedrohungen von diesem Arsch und seinen Arsch-Anhängern vorzubeugen.

»Perry Firekeeper-Birch«, wiederholt Claire. »Ich will dich in meinem Büro sprechen.«

Mit der piepsigen Stimme hat Shense tatsächlich recht.

Ich folge Claire in ihr Büro, von dem aus man auf die Volleyballfelder sieht. Sie lässt mich dort alleine vor ihrem Schreibtisch sitzen. Ich sehe mich um, um sicherzugehen, dass sie nicht hier ist. Ich bin allein und zittere. Jetzt, wo der Vorfall vorbei ist, holen mich das Beben und Zittern ein, das ich zuvor nicht gefühlt habe. Meine Beine und Arme fühlen sich wie Wackelpudding an. Selbst wenn es in diesem Büro dreißig Grad hätte, würden meine Zähne klappern wie in klirrender Januarkälte.

Warum bekomme ich Ärger? Ich habe den Typen nicht geschlagen.

Ich konzentriere mich auf etwas, irgendetwas, damit die Zeit vergeht.

Claire hat ein gerahmtes Foto auf ihrem Schreibtisch. Eines dieser viereckigen Polaroids mit einem weißen Rand und unten einer breiten weißen Fläche, auf der steht Mom, Frank Lockhart, ich – Mai 1993 . Die blaue Tinte verblasst langsam, genau wie das Foto. Ich kann gerade noch eine junge Claire, einen älteren weißen Mann und zwischen ihnen eine Ojibwe-Frau erkennen, die ihren Blicken standhält. Im Hintergrund des Fotos ist ein Frachter zu sehen. Pops würde wissen, welcher es ist, trotz des verblassten Fotos.

Moment mal, den Namen habe ich schon mal gehört. Frank Lockhart. Wo habe ich …

Die Tür hinter mir öffnet sich. Ich drehe mich um und sehe Cooper. Hölzern betritt er den Raum und setzt sich hinter Claires Schreibtisch. Seine Augen sind geschwollen und blutunterlaufen. Haben sie bestätigt, dass es Darby O’Malleys Leiche war?

Er spricht, bevor ich etwas sagen kann.

»Wie viele Samen hast du aus dem Korb in Dr. Fentons Büro genommen?«

Auntie nennt dieses komische Gefühl ein Déjà-vu. Auf Ojibwemowin heißt es inaabandan. Etwas sehen wie in einem Traum. Außer dass beim letzten Mal Erik die traurigen Augen hatte.

»Ich habe dreizehn genommen und habe ein paar Dutzend dringelassen«, sage ich.

Cooper stößt die Atemluft aus. Als ich ihm in die Augen sehe, weiß ich, dass er nicht wegen Darby O’Malley nimamiskojaab ist. Er hatte eine schlaflose Nacht wegen dem, was ich getan habe.

Ich blicke auf die zitternden Finger auf meinem Schoß.

»Dein Praktikum im Museum ist beendet.« Seine Stimme bricht. »Ich kann nicht mit jemandem arbeiten, dem ich nicht vertraue.«

Er steht auf und geht zur Tür. Ich warte, dass er sie öffnet, aber ich höre kein Geräusch. Ich werde nicht von meinem Schoß aufblicken. Ich will nicht sehen, wie er mich jetzt sicherlich ansieht. Oder vielleicht ist er an der Stelle erstarrt, weil die Zeit stehen geblieben ist, für alle außer für mich.

»Nimaanendam«, sage ich leise.

»Ich weiß, Pearl Mary. Mir tut es auch leid.«

Ich bleibe sitzen, unklar, was als Nächstes passiert. Wenn jemand in Filmen gefeuert wird, machen sie sich mit einem Karton mit ihren persönlichen Sachen davon. Mom ist darauf vorbereitet, sie weiß mit unerschütterlicher Gewissheit, dass sie mit erhobenem Kopf hinausgehen wird.

Ich bin nicht selbstgerecht oder trotzig. Ich schäme mich.

Claire betritt das Büro mit einem absichtlich lauten Hustenanfall. Sie setzt sich und schiebt eine Box mit Papiertaschentüchern an den Rand des Schreibtisches. Ich brauche sie nicht. Ich habe mich bereits in mich zurückgezogen. Mein Gesicht ist eine unbewegliche Maske. Ich atme ruhig. Sogar meine Schultern sind entspannt.

Muss schön sein, so sorglos durchs Leben zu gehen.

»Das kommt vor«, sagt Claire mit einem Seufzer. »Manchmal haben Betreuer und Praktikanten eine unterschiedliche Auffassung von Kommunikation oder sind von der Persönlichkeit her unvereinbar. Manchmal ist es einfach ein schlechtes Match.«

Es war nichts von allem , möchte ich sagen.

Sie fährt fort. »Ich werde eine Rundmail versenden, dass eine Praktikantin zur Verfügung steht, falls andere Vorgesetzte in dem Kinomaage-Programm noch jemanden brauchen. Sie könnten dich direkt kontaktieren. Wäre das in Ordnung?« Sie liest meine Mobiltelefonnummer ab.

Ich nicke.

»Perry, du bist nicht die erste Praktikantin, die kein erfolgreiches Match hat. Jeden Sommer gibt es mehrere Versetzungen aus den unterschiedlichsten Gründen. Niemand erfährt, warum. Das sind Dinge, die zwischen dir und deinem ehemaligen Vorgesetzten bleiben, es sei denn, dass einer von euch ein Fehlverhalten anzeigen möchte. Cooper hat nichts dergleichen gesagt. Hast du ein unangemessenes Verhalten erfahren, das du melden möchtest?«

»Nein«, sage ich rasch. »Cooper ist ein guter Chef.«

Claire legt die Stirn in Falten und wartet auf mehr Details.

»Wirst du einen Praktikanten aus einem anderen Team dem Museum zuweisen?«, frage ich.

»Nein«, sagt sie fest. »Cooper Turtle akzeptiert selten Praktikanten. Ich war überrascht, als er dich angefragt hat.«

»Ich denke, dass meine Tante Daunis mich empfohlen hat«, vermute ich.

»Das ist möglich, Perry. Aber Cooper verlangt immer eine Referenz von einem traditionellen Heiler.«

»Ein Heiler hat mich empfohlen?« Jetzt war meine Stimme piepsig.

Claire tippt etwas in ihren Laptop. Sie rückt näher an den Bildschirm.

»Ja. Hier ist eine Notiz, dass Cooper eine mündliche Empfehlung von einem S. Nodin erhalten hat.«

Stormy Nodin hat mich empfohlen? Er hat eine mündliche Empfehlung ausgesprochen?

Ich habe Stormy Nodin niemals ein Wort sagen hören, außer in Verbindung mit einem Gebet auf Ojibwemowin. Aber er sprach mit Cooper und trat für mich ein? Mein Magen krampft sich zusammen.

»Es tut mir wirklich leid, dass es nicht gepasst hat«, sagt Claire freundlich.

Es gibt nichts mehr zu sagen. »Ja. Mir tut es auch leid.«