KAPITEL 12

Kapitel 12

Montag, 30. Juni

M om lässt Pauline am Tribal Police Department aussteigen, bevor sie mich ins Stadtzentrum fährt. Ich gehe wie sonst auch zum Eingang des Cultural Learning Centers. Ich tue so, als würde ich etwas auf meinem Handy checken, und behalte den SUV meiner Mom im Auge. Als sie an der Ampel abgebogen ist und mich nicht länger im Rückspiegel sehen kann, gehe ich die paar Schritte zur Tribal-Verwaltung. Meinem neuen Arbeitsplatz.

Sub-Chief Tom Webster begrüßt mich mit einem breiten Lächeln.

»Perry Firekeeper-Birch, meine neue Praktikantin, willkommen!« Er stellt mich den beiden Rezeptionistinnen hinter der Empfangstheke vor, bevor wir durch die Lobby zum Hintereingang zur Stechuhr gehen. Wenn ich die Augen zusammenkneife, kann ich das Kaufhaus noch erkennen. Das Gebäude stand ein Jahrzehnt leer, bis unser Tribe es gekauft hat und es seine neue Bestimmung bekam.

Ich war weniger als ein Wochenende ohne Bestimmung.

Gestern hatte ich meine Wathose angezogen und wollte zum Fliegenfischen in der Baie de Wasai. Die gelben Hechte sollen sich an allem festbeißen. Pops hat mich dort mit dem Auto abgesetzt mit der strikten Anweisung, in der Nähe der Zhaaganaash-Senioren zu bleiben, die entlang des St. Marys River bei der Katholischen Kirche angelten. Sie vertreiben sich die Zeit mit Anglerlatein: »Erinnerst du dich, damals als …« Manchmal fragen sie mich nach einer Geschichte. Meistens denke ich mir dann irgendetwas aus.

Ich war noch keine Stunde beim Angeln, als ein Motorboot vorbeifuhr und wendete. Die Männer sind immer empört, wenn ein Boot in »ihren« Bereich eindringt. Ich blickte auf, um zu sehen, wem die Angler nun hinterherschimpfen würden. Es war der Tribal Sub-Chief, der zu der aufgewühlten Sekretärin so freundlich gewesen ist.

»Wie geht’s, Aanike-Ogimaa?«, rief ich. Dabei hoffte ich, dass er das Ojibwe-Wort für Sub-Chief verstand. Das ist nicht bei allen gewählten Vertretern der Fall; manche können nicht einmal die Sieben Großväterlehren aufzählen, in denen es um die Grundlagen unseres guten Lebens geht.

»Perry Firekeeper-Birch!« Seine Stimme dröhnte über die zehn Meter zwischen seinem Boot und dem Ufer. »Willst du für mich als Praktikantin arbeiten?«

»Klar«, antworte ich, ohne zu überlegen. Dann warf ich zufrieden meine Angel aus.

Tom Websters Lachen war fröhlich und ansteckend. Sogar die Angler mussten mitlachen.

»In Ordnung. Dann sehe ich dich Montagmorgen.« Als er davonfuhr, wurden seine Lachwellen mit dem Kielwasser zu uns an Land gespült.

Mein neuer Chef bringt mich zu einem Aufzug direkt neben dem Treppenhaus.

»Schwitzen oder schwächeln?«, fragt er. Die Büros des Tribal Council sind im dritten Stock.

»Ich lehne niemals eine Herausforderung ab«, sage ich und nehme die Treppe.

Der Sub-Chief ist ein paar Jahre älter als Auntie. Er kann mir folgen, aber oben ringt er nach Atem und hält sich seine offenbar stechende Seite. »Sub-Chief Webster, sagen Sie Bescheid, wenn Sie ein helles Licht am Ende des Tunnels sehen. Meine Mom ist Krankenpflegerin und ich beherrsche die Herz-Lungen-Massage.«

Sein schnelles Glucksen ist leichter als Coopers asthmatisches He-he-he .

»Du kannst Web zu mir sagen. Und wie soll ich dich nennen?«

»Perry. Miigwech, dass Sie fragen.«

»Ich will es einfach richtig machen«, sagt er und betritt den Konferenzraum. Er hustet. Drei Praktikanten blicken von dem langen Holztisch mit der Ahornblattintarsie, dem Zeichen unseres Tribes, auf.

»Hallo zusammen. Das ist Perry Firekeeper-Birch«, sagt Web. »Da Chief Manitou mir einen Praktikanten abgezogen hat«, sagt er grinsend, »habe ich dafür die fantastische Perry abgezogen. Stellt euch vor und führt sie rasch in eure Projekte ein.« Zu mir sagt er: »Wir sprechen uns in einer Stunde.«

Zwei Praktikanten arbeiten weiter an ihren Laptops. Nur der Anführer des Teams muss mich noch abchecken. Ich bin versucht, ihn anzustarren, aber er sieht weg.

Ich setze mich auf einen der freien Stühle und warte auf die Vorstellungsrunde. Sie bleibt aus.

Vielleicht sollte das Kinomaage-Programm die Teams nicht gegeneinander antreten lassen. Das führt dazu, dass wir uns als Gegner sehen. Und Gegner hat unser Tribe schon genügend.

»Ich bin Perry«, sage ich. »Ihr habt kurz mit meiner Zwillingsschwester Pauline gearbeitet.«

Sie nennen ihre Vornamen. Sonst nichts. Der Name des Anführers ist Flynn. Er versucht, auf cool zu machen, als ob er sich nicht an mich und unseren Zusammenprall vom Freitag erinnert. Allerdings zuckt er zusammen, als ich aufstehe, um Wasser zu trinken. Das war klar; so ein Wichser.

Tribal-Council-Mitglieder gehen vorbei. Jeder hat ein Büro außerhalb des Konferenzbereichs. Die Büros haben Glasschiebetüren, die von klar zu satiniert wechseln können. Ich gehe im Konferenzbereich umher, schau mir die leeren Schreibtische an und die gerahmten Fotos von ehemaligen Tribal-Council-Mitgliedern.

Nachdem ich eine Stunde gewartet habe, klopfe ich an Webs Tür. Das Glas wechselt zu klar. Er gibt mir ein Zeichen, hereinzukommen. Die Schiebetür ist überraschend schwer. Zwei der Praktikanten sprechen draußen über die Tagesordnung der Tribal-Council-Versammlung diese Woche. Sobald sich die Schiebetür hinter mir schließt, sind ihre Stimmen nicht mehr zu hören. Ich reiße die Tür noch einmal auf und höre die Fortsetzung ihres Gesprächs.

»Ein schalldichtes Büro«, sage ich und schließe die Tür wieder. »Krass.«

»Und das ist nicht alles.« Web drückt auf einen Knopf auf seinem Schreibtischtelefon. Die Stimmen der Praktikanten sind durch den Lautsprecher zu hören.

»Ich weiß. Wie können wir sicher sein, dass sie die Teamchallenge nicht sabotiert?« Das ist Flynns Stimme.

»Wissen sie, dass Sie sie hören können?«, frage ich mit großen Augen.

Web schüttelt den Kopf und grinst. »Nur mein Büro und das des Chiefs wissen Bescheid.«

»Moment mal! Sie erzählen mir so etwas in meiner ersten, nein, zweiten Stunde als Ihre Praktikantin?« Ich schaue mir die Gegenstände auf Webs Bücherregal an. »Darf ich ehrlich sein?« Als er nickt, lege ich sofort los. »Ich sehe nicht, was mir das Praktikum im Team Tribal Council bringen soll. Ich bin Rudolph und sie …«, ich deute mit meinen Lippen Richtung Konferenzsaal, »… sie lassen mich bei ihren Rentierspielen nicht mitmachen.«

Ich sehe viele kleine Fältchen um Webs Augen, als er lächelt. Vielleicht ist er doch älter, als ich dachte.

»An der Malcolm arbeite ich an einer unabhängigen Studie über substanzielles und zeremonielles Jagen und Fischen. Kann ich ein unabhängiges Forschungspraktikum machen, ohne dass ich mit den anderen Rentieren zu tun habe?«

»Weißt du was?«, sagt Web. »Erzähl mir doch von deinen Ideen, und ich unterstütze dich, so gut ich kann. Allerdings musst du an den Tribal-Council-Workshops und den offiziellen Versammlungen teilnehmen. Du kennst die Vorgehensweise vermutlich von deiner Mom, aber ich sage es trotzdem. Die Workshops finden mittwochs von 10 bis 14 Uhr statt. Wir besprechen die Tagesordnungspunkte, um sicherzustellen, dass alles für die offizielle Versammlung vorbereitet ist, bei der wir abstimmen, welche Beschlüsse in die Tribal Law eingehen. Die Versammlungen finden von 16 bis 19 Uhr statt.«

»Verstanden«, sage ich. »Und ich habe bereits eine Idee für meine unabhängige Forschung«. Ich setze mich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. »Ich habe eine Website mit Auktionen gefunden, bei der ein Turtle-Shell-Shaker versteigert wird. Ich glaube, dass er für Zeremonien verwendet wurde. Er sollte nicht dort sein.« Ich hole tief Luft, um das Beben in meiner Stimme loszuwerden. »Glauben Sie, dass ich hier weiter recherchieren darf? Und vielleicht das Tribal Council fragen, ob er ihn ersteigern würde?«

»Wann findet die Auktion statt?«

»Morgen in einer Woche«, sage ich und stelle mich darauf ein, dass er Nein sagt.

Web sieht sich irgendetwas auf seinem eleganten Hemd an, bevor er mir antwortet.

»Könntest du für Mittwochnachmittag eine Präsentation zusammenstellen?«

»Übermorgen? Wow. Sie verlieren wirklich keine Zeit«, sage ich.

»Ich bewundere Kämpfer«, sagt er mit einer Intensität, dass es wie eine Beschwörung klingt. »Alle, die bereit sind, etwas für die Community zu tun, was andere nicht tun können oder nicht tun wollen.« Er lächelt. »Noch Fragen?«

»Bekomme ich für das Aussitzen von Council-Versammlungen eine Entschädigung?«

Web lacht. »Wir werden ein fantastisches Team abgeben, Ogichidaakwezans.«

Ich strahle bei dem Namen. Warrior Girl.

Nach dem Abendessen bitte ich Pauline, mich zu Stormy Nodin zu fahren. Eigentlich hat sie keine Lust dazu, aber sie schuldet mir etwas, da ich ihr Sneaky-Snag-Geheimnis für mich behalte. Junior will mit uns kommen.

In einem großen Umschlag habe ich die Ausdrucke meiner Online-Recherche über Schildkrötenpanzer-Shaker oder Rasseln. Es gab nicht sehr viel, aber das, was ich gefunden habe, habe ich in eine gesonderte Datei auf meinen Laptop geladen und jeweils zweimal ausgedruckt. Der Tribal Council verfügt über einen modernen Hightech-Drucker, mit dem ich sogar die Farbfotos des Schildkrötenpanzer-Shakers auf Fotopapier drucken konnte. Ich hoffe, dass Stormy mir helfen wird, da ich noch nicht so bald bereit sein werde, Cooper wieder zu treffen.

Nishnaabs aus abgelegenen Gegenden sagen, dass sie im Busch leben. In der Regel bedeutet das, auf gute Art von dem zu leben, was sich in der Natur findet – jagen, angeln und sammeln –, und nur so viel zu nehmen, wie man braucht. Sugar Island war bis vor ungefähr hundert Jahren so.

Stormy Nodin ist vermutlich so nah an einem Busch-Nishnaab, wie man heute hier noch sein kann. Er lebt auf der Ostseite der Insel, in einer schlichten Hütte mit Blick auf den Lake George. Ich war erst zweimal hier, jedes Mal mit Auntie.

Stormy lächelt und winkt, als Pauline auf dem zweispurigen Weg zu seiner Hütte hält. Sie bleibt im Auto, die Seitenfenster heruntergelassen, und liest ein Buch. Junior begrüßt ihn zuerst. Ich übergebe ihm eine üppige Portion gebratenen Zander, Spargel und Kartoffelsalat. Er bietet mir an, das Essen mit mir zu teilen. Da ich schon gegessen habe, knabbere ich nur aus Höflichkeit an einem Spargel.

Er war Uncle Levis bester Freund. Ich fand es super, wenn ich mit ihnen mitdurfte, zwei Klugscheißer, die immer irgendwo abhingen und Unsinn anstellten. Stormy ist jetzt völlig anders – ein stiller Einzelgänger.

Als Uncle Levi in Schwierigkeiten war, hat Stormy nicht mit den FBI -Ermittlern gesprochen. Kein einziges Wort. Er hat nicht einmal seinen Namen gesagt, als der Richter ihn danach gefragt hat. Schließlich bekam er zwei Jahre für »Missachtung des Gerichts«. Stormy kam zurück nach Sugar Island und kaufte sich mit den Pro-Kopf-Zahlungen, die sich während seiner Haftstrafe angehäuft hatten, das Grundstück. Onkel Levi wurde für fünf Jahre verbannt, weil er wegen eines schweren Drogendelikts verurteilt wurde und der Tribe einige Zeit davor ein Verbannungsreferendum verabschiedet hatte.

Stormy ist nicht für ein Drogendelikt verurteilt worden.

Er steckt Junior die letzten Happen Fisch zu und sieht mich abwartend an. Ich biete ihm semaa an und zeige ihm den Ausdruck des Auktionsangebots und die vergrößerten Farbfotos des Shakers.

»Ekinoomaagaazad ndaaw.« Ich stelle mich als Schülerin vor. Das ist die beste Art, Stormy zu erklären, warum ich hier bin. Keine Ahnung, ob er beten oder mit mir sprechen wird. Noch immer kann ich mir nicht vorstellen, dass er mich Cooper mündlich empfohlen hat.

Er spricht auf Ojibwemowin, erzählt eine Geschichte, wie Mishiike uns mit einer Lehre über das Mondjahr beschenkt. Dreizehn große Schilde auf ihrem Panzer, für jeden Mond eins. Der Panzer hat rundum achtundzwanzig Randschilde, eines für jede Nacht in einem Mondzyklus. Mishiike erinnert uns an das, was wir für unser Überleben tun müssen.

Stormy bittet mich, morgen Abend wiederzukommen, nachdem er über dem Shaker gebetet hat.

»Gichi miigwech, Nisayenh«, sage ich.

Seine Augen leuchten, als ich ihn »Großer Bruder« nenne. Für einen Moment ist er der Stormy, an den ich mich erinnere.

»Nigwaiinomaa Levi.« Es bricht aus mir heraus, dass die Abwesenheit meines Uncle überwältigend ist. Ich vermisse ihn so sehr.

»Gii-ishkwaa bimaadizi niizhoodenh«, sagt er, steht auf und wendet sich zum Gehen.

Was soll denn das bedeuten? Mein Zwillingsbruder ist gestorben. Uncle Levi lebt noch.