KAPITEL 19

Kapitel 19

Montag, 14. Juli

E llen ist überrascht, als ich am Montagmorgen bei der Arbeit erscheine.

»Flynn nimmt ein paar Tage frei«, sagt sie. »Er ist noch völlig verstört vom vergangenen Freitag.«

Tim, der vierte Praktikant des Teams Tribal Council, grinst. »Scheint, dass Flynn nicht so tough ist wie du.«

»Sei nicht so«, sage ich zu ihm. »Du weißt nicht, wie du in so einer Situation reagieren würdest.«

»An was wirst du jetzt arbeiten, wenn wir die Lockhart-Schenkung nicht bekommen?«, fragt Ellen.

»Ich muss herausfinden, wie wir dem Mack State beim Erfassen der Schenkung helfen können, damit der Rückführungsprozess unserer Objekte endlich losgehen kann.« Ich hole mein Portfolio aus der Schreibtischschublade, in der ich meine Sachen für die Arbeit aufbewahre.

Nachdem ich letzten Donnerstag Aunties Pick-up zurückgebracht habe, hat Lucas mich zur Arbeit gefahren, damit ich mein Handy und mein Portfolio im Museum nebenan holen konnte. Es war niemand da; keine Mitglieder vom Tribal Council und die Praktikanten waren mit Besorgungen für das Lockhart-Event beschäftigt.

Allein im Konferenzraum fand ich schnell einen unverschlossenen Aktenschrank, perfekt, um die beiden braunen Papiertragetaschen mit den zurückgeholten Körben aufzubewahren. Nur bis ich sie den rechtmäßigen Besitzern zurückgeben kann.

Ich öffne das Portfolio und schreibe mein Ziel auf den Notizblock, genau wie Pauline das immer macht. Der Sugar Island Ojibwe Tribe wird das Mackinac State College bei der Erfassung der Lockhart-Sammlung unterstützen.

Mein Herz schmerzt allein schon beim Schreiben dieser Wörter. Der Tribe sollte sich darauf vorbereiten, Lockharts private Sammlung direkt zu empfangen, anstatt über eine öffentliche Institution gehen zu müssen, die schon seit 1990 die Übergabe verzögert.

Entmutigt von den Ereignissen, versuche ich, mir erste Schritte zu überlegen, die ich notieren kann. Es will mir nicht gelingen; anstatt einer guten Idee, die uns voranbringen könnte, denke ich ständig an diesen schrecklichen Augenblick zurück, als uns Frank Lockhart verraten hat. Es fällt mir wieder ein, wie ich Dr. Fenton beschimpft habe. Sogar auf Ojibwemowin war es unmissverständlich, dass es nichts Nettes war.

Ich habe es wirklich verkackt.

Als Web hereinkommt, folge ich ihm direkt in sein Büro und schließe die Tür hinter mir.

»Wie geht es dir?«, fragt er mich feierlich.

»Ich bin okay, Web. Meine Eltern sind aus New Mexico zurück. Samstagabend haben wir eine Vollmondzeremonie abgehalten und mein Dad war gestern Abend mit mir in der Schwitzhütte. In der Mittagspause kommt er vorbei, um zu sehen, wie es mir geht.«

»Gut, gut«, sagt er. »Hast du mit der Ermittlerin gesprochen?«

»Meine Eltern wollen sie darüber informieren, dass ich nicht mit der Polizei sprechen werde.«

»Tatsächlich?« Web ist entweder überrascht oder beeindruckt. Vielleicht beides.

»Kann ich zurück an meine Arbeit gehen? Ich möchte etwas tun, um die Dinge voranzubringen.«

»Aber wir werden die Schenkung nicht bekommen«, gibt er zu bedenken.

»Ja, aber wir könnten dem College helfen, Lockharts Sammlung zu erfassen. Die Anthropologieprofessorin will einen Antrag für die Beschäftigung von Forschungsassistenten an den Tribal Council stellen. Es ist eine große Anfrage, aber es ist klar, dass sie jetzt zusätzliche Unterstützung brauchen.« Ich denke laut. »Es gibt einen Archäologen, Dr. Leer-wah, der seine Ansichten zur Rückführung an uns um 180 Grad geändert hat. Er hat den Hochschulrat des Colleges dazu gebracht, ein Rückgabedatum für die dreizehn Vorfahren nächsten Sommer festzulegen. Wir könnten daran arbeiten, seine Unterstützung zu bekommen, um die neuen Objekte so schnell wie möglich zu erfassen.«

»Du beeindruckst mich immer wieder«, sagt Web. »Du bist Ogichidaakwezans. Wahre Kämpfer können vielleicht eine Schlacht verlieren, aber sie behalten im Blick, was wirklich wichtig ist – das Endergebnis.«

»Miigwech, Web. Kann ich also weiterhin für Sie an der Lockhart-Sammlung arbeiten?«

»Möchtest du das nicht vom Tribal Museum aus tun?«

Cooper würde mich nicht zurücknehmen, nachdem er mir gekündigt hat, aber das behalte ich lieber für mich.

»Ich möchte da sein, wo die Entscheidungen für die Förderung getroffen werden«, sage ich mit Überzeugung.

»Ich sehe schon, du bist nicht nur beharrlich, sondern auch eine Strategin.« Webs Lächeln vertieft seine Augenfältchen. »Du bist genau die Person, mit der ich arbeiten möchte.«

Ich gehe nach nebenan ins Museum, um mit Cooper zu sprechen.

»Wir sehen dich hier genauso oft wie zu der Zeit, als du hier gearbeitet hast«, sagt Miss Manitou trocken.

»Miigwech, dass es Ihnen aufgefallen ist.« Mein Ton ist so süß wie Ahornsirupbonbons.

Miss Manitou ruft Cooper an und er kommt aus seinem Büro. Er führt mich zu den Stühlen im Lesebereich der Bibliothek vor den großen Frontscheiben.

Es versetzt mir einen Stich, dass wir im öffentlichen Bereich bleiben und nicht in sein Büro gehen.

»Wie geht es dir?«, beginnt er das Gespräch.

»Es geht mir gut. Meine Eltern sind Samstagmorgen zurückgekommen. Samstagabend haben wir eine Vollmondzeremonie abgehalten und am Sonntag war ich mit Dad in der Schwitzhütte. Das hat mir geholfen.« Ich lege eine Pause ein, um einen Passanten auf dem Gehweg zu beobachten. »Miigwech, dass du mir am Freitag geholfen hast.«

Cooper schweigt, was mir einen weiteren Stich versetzt.

»Mein Ausbruch vor Dr. Fenton tut mir leid.« Ich hole tief Luft. »Habe ich der Beziehung geschadet?« Ich zwinge mich, ihn anzusehen.

»Ja, du hast der Beziehung geschadet«, sagt er. »Dr. Fenton musste die Sprache nicht sprechen, um klar und deutlich zu verstehen, was du gesagt hast. Ich habe es auf deine Unreife und deine Ungeduld geschoben, was nicht gelogen ist.«

Ich blicke wieder auf meine Hände in meinem Schoß.

»Habe ich für die dreizehn Vorfahren jetzt alles ruiniert?«

»Ich habe mit allen Mitgliedern des Mack-State-Rückführungsteams und dem Hochschulrat gesprochen.« Er schweigt. »Also, außer, ähm, Grant Edwards.« Er schweigt wieder.

Ich ertrage die Stille nicht mehr. Ich blicke auf und sehe, wie mich Cooper anstarrt. Ich muss meine ganze Willenskraft aufbringen, um ihm in die Augen sehen zu können, obwohl ich am liebsten davonlaufen würde.

»Perry, du hast großes Glück, dass der Archäologieprofessor die Rückführung der dreizehn Vorfahren nach wie vor unterstützt.«

Er meint Leer-wah. Ich nicke vor Dankbarkeit.

»Da er den Rückführungsprozess koordinieren wird, kümmert sich Dr. Fenton um die Schenkung«, sagt Cooper. »Du hast künftige Rückführungsanfragen gefährdet, das betrifft die Lockhart-Sammlung und das Warrior Girl.«

Ich möchte vor Scham im Erdboden versinken. Als mir bewusst wird, dass er nichts weiter sagen will, spreche ich.

»Ich weiß, dass das meinen Ausbruch nicht wieder gutmacht, aber Sub-Chief Webster ist bereit, Dr. Fentons Förderungsantrag zu unterstützen. Er weiß, dass der nächste Schritt das abschließende Erfassen der noch ausstehenden Objekte ist und dann das Erfassen der Lockhart-Sammlung. Das bedeutet, dass sie die Hilfe bekommen wird, die sie benötigt.«

Während ich auf Coopers Reaktion warte, halte ich die Luft an. Schließlich gebe ich auf und atme wieder.

»Es hängt von deinem Betreuer ab, was deine Aufgaben sein werden«, sagt er schließlich. »Aber ich glaube nicht, dass du öffentlichkeitswirksame Aufgaben übernehmen solltest.«

Öffentlichkeitswirksam?

»Meinst du, dass ich mit niemandem vom College sprechen sollte?« Ich muss mich zusammenreißen, dass meine Stimme nicht versagt. Die Stiche in meiner Brust habe ich mir letztendlich selbst zuzuschreiben.

»Ja. Wir sollten alle bedenken, dass du erst sechzehn Jahre alt bist und ohne entsprechende Ausbildung.«

Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Dann erinnere ich mich an die Rolle, die Web mir zugedacht hat.

»Der Sub-Chief hätte mich gerne als Mittelsperson zwischen dir und dem Tribal Council.« Ich überlege, wie ich am besten etwas Unangenehmes sagen kann. »Wenn das für dich nicht denkbar ist, muss ich Web, ähm, Mr Webster Bescheid geben.« Ich erwähne nicht, dass, wenn ich nicht als Mittelsperson eingesetzt werde, es das Ende meines Praktikums bedeutet.

»Warum glaubst du, dass sie eine Mittelsperson brauchen?«, fragt er.

»Ich kann nicht für sie antworten«, sage ich.

»Vielleicht lernst du letztendlich doch noch etwas über Kommunikation«, sagt Cooper gelassen. »Sie arbeiten nicht gerne direkt mit mir, weil ich mich an Vorgaben halte und diese unter keinen Umständen übergehe.«

»Vielleicht möchten sie, dass die Dinge schnell erledigt werden?«, schlage ich vor. Das ist die höflichste Art, wie ich ihm sagen kann, was mich an ihm frustriert.

»Perry, verstehst du, dass es wesentlich ist, die Regeln und Gesetze zu befolgen, wenn man an so einem Prozess arbeitet?« Er steht auf. »Hier geht es nicht nur ums Gewinnen; es geht darum, wie du dich verhältst und wie du deine Community repräsentierst.«

Ich fühle ein kurzes Aufflammen von Wut. Wenn Cooper das wirklich denkt, warum in aller Welt post er auf der Fähre wie ein Zigarrenladen-Indianer? Was will er mit dieser Albernheit repräsentieren?

Ich stehe ebenfalls auf, weil ich denke, dass er mir seine Antwort gegeben hat.

»Miigwech, dass du mit mir gesprochen hast«, sage ich schon im Gehen.

»Ja, ich bin mit dir als Mittelsperson einverstanden. Unter einer Bedingung«, fügt er hinzu. »Dass du auch die Mittel und Wege bedenkst und nicht nur das Ergebnis.«

»Nin-gagwe-nitaa.« Ich versuche, zu lernen.

Nach der Arbeit stemple ich und setze mich auf die Parkbank, um zu warten, dass Mom mich abholt. Ich spule in Gedanken das Gespräch mit Cooper noch einmal ab. Bedenke die Mittel und Wege und nicht nur das Ergebnis. Was soll das überhaupt heißen? Abkürzungen sind etwas Gutes. Ich denke schon, dass Regeln wichtig sind. Aber zu welchem Preis?

»Perry«, sagt eine tiefe, vertraute Stimme. Erik steht vor mir. Er lächelt. »Kann ich dich nach Hause fahren?«

»Ich warte auf meine Mom, aber ich könnte sie anrufen, bevor sie hier ist.« Ich schaue auf meinem Handy, wie spät es ist. Sie müsste jeden Moment hier sein.

Einen Anruf später steige ich in Eriks Auto. Er fragt mich, ob ich mit der Musik einverstanden bin. Keith Urban. Ein Song, in dem es darum geht, in einem Auto zu sitzen. Ich nicke.

Er fragt, ob ich etwas essen möchte.

Gerne.

Wir fahren zu dem Drive-in beim Fähranleger. Als wir unser Essen haben, fährt er ans Ende des Parks. Wir essen unsere Cheeseburger und sehen der Fähre zu, wie sie hin und her fährt.

»Ich möchte dich etwas fragen«, sagt Erik.

»Klar«, sage ich. »Aber könntest du zuerst den Haargummi aus deinem Haar nehmen?«

Er wird rot. Diese Krabbenäpfelwangen haben es mir angetan. Er zieht an dem Haargummi, fährt sich mit beiden Händen durch die Haare und schiebt sich ein paar Locken aus den Augen.

»Jetzt kannst du mich alles fragen.« Ich klinge ruhiger, als mein Herzklopfen es vermuten lässt.

»Können wir es noch einmal versuchen? Ich meine, Zeit miteinander zu verbringen?«

Ich beuge mich zu ihm und schiebe ein paar Locken zur Seite. Als ich seine Wange küsse, fühlt sich sein Apfelbäckchen fest und reif an. Genau so sollte es sich anfühlen, wenn man ein Lächeln küsst.