Kapitel 22
Samstag, 19. Juni
T J Kewadin bringt uns am Morgen Waabun, der das Wochenende über bei uns bleiben wird. Daunis’ Mom, Grace, kümmert sich mit den Rechtsanwälten um die juristischen Dinge.
Als TJ auf seinen Truck zugeht, folgen meine Schwester und ich ihm. Auntie hat uns erzählt, dass TJ sich seine Hemden anfertigen lassen muss, weil seine Schultern so breit sind und sein Bizeps groß wie Festtagsschinken.
Pauline macht den Anfang: »Wir haben etwas für dich.« Sie ist nicht in der Lage, ihre Klassenbeste-Attitüde aufrechtzuerhalten. »Es geht um das Lockhart-Event. Wir haben alle Kinomaage-Praktikanten interviewt und eine minutengenaue Zeitschiene und eine Transkription erstellt. Ich habe den Sitzplan mit den Namen der Teilnehmenden rekonstruiert. Hier siehst du, wer gehört hat, wie Auntie die Drohung ausgesprochen hat, und wer nicht. Ich habe das farblich gekennzeichnet.«
Ich bringe mich ein, damit TJ nicht denkt, dass ich ein völliger Loser bin.
»Dieser Teil, der hier abzweigt«, sage ich und zeige auf die Tabelle, »da bin ich Frank Lockhart vom Service-Flur zum Hauptflur gefolgt. Dann habe ich ihn in der Menge aus den Augen verloren. Ich habe alle Namen aufgeschrieben, an die ich mich erinnere. Sie sind rot gekennzeichnet. Bei denen habe ich nachgefragt, an wen sie sich im Flur erinnern. Diese Namen sind blau.«
TJ hört aufmerksam zu, also spreche ich weiter. »Ich bin davon ausgegangen, dass Lockhart auf dem Weg zu seinem Auto war, das ich auf dem VIP -Parkplatz vermutete.« Ich zeige mit meinem Finger auf den Platz an der Seite der Studierendenvertretung. »Hier hatte ich dann das Gespräch mit ihm.« Ich zeige auf meinen Teil der Transkription. »Als ich ins Gebäude zurückkam, bin ich in diesen kleinen Besprechungsraum gegangen, um, ähm, um mich zu beruhigen. Ich war wirklich wütend und hatte die Hände vor dem Gesicht. Als ich mir die Augen rieb, trat ich einen Schritt zurück. Und da bin ich über Grant Edwards’ Leiche gestolpert.«
Als ich aufblicke, bemerke ich die Stoppeln auf TJ s Kinn. Erst da nehme ich TJ s gesamte Erscheinung wahr. Er ist immer so … ordentlich. Nicht nur seine Uniform, sondern auch seine Art – selbstsicher, ohne eingebildet zu sein, freundlich, aber korrekt. Selbst wenn er mit Pops und mir zum Jagen geht, könnte ich schwören, dass er zuvor seine Flanellhemden bügelt.
Aber heute? Seine Uniform ist tadellos, wie üblich, aber er sieht aus, als hätte er sich heute Morgen mit geschlossenen Augen fertig gemacht. Das Rasieren war wohl Glückssache. In seinem Mundwinkel klebt getrocknete Zahnpasta.
Ich erwarte, dass TJ sich bei uns bedankt. Stattdessen sieht er alles andere als dankbar aus.
»Aber ihr habt nichts von alledem der State Police gesagt?«, fragt er eindringlich.
»Äh, nein. Ich habe eigentlich gar nicht gesprochen.«
»Eine Zeit lang war sie wie ein Zombie«, fügt meine Schwester hinzu.
»Aber als die Ermittlerin wollte, dass du mit deinen Eltern wiederkommst …« TJ klingt jetzt verärgert.
»Meine Eltern wollten nicht, dass ich mit der Ermittlerin spreche. Außerdem hat Auntie gesagt …« Ich breche abrupt ab.
TJ tritt auf mich zu, plötzlich alarmiert. »Was hat sie gesagt?«
Er baut sich vor mir auf, mit einem Gesichtsausdruck, den ich nie zuvor an ihm gesehen habe. Er meint es bitterernst.
»Kannst du etwas zurückgehen, TJ ? Du wirkst gerade sehr einschüchternd«, sage ich und hebe meine Hände, als würde ich den Police Captain zum Palm Push herausfordern wollen.
Paulines Mund bleibt offen stehen, sie kann nicht glauben, dass ich das gesagt habe.
TJ tritt einen Schritt zurück. Er atmet tief ein und atmet langsam in einer Zen-Art wieder aus. Pauline schaut hin und her, als würde sie sich ein Tennismatch ansehen.
»Es tut mir leid, Perry«, sagt er. »Würdest du mir bitte sagen, was sie gesagt hat?«
»Auntie hat mich auf der State Police Station im Arm gehalten und mir zugeflüstert ›Sag ihnen nichts‹. «
»Ich wünschte, dass deine Aussage sofort aufgenommen worden wäre. Jetzt, wo sie eines Verbrechens angeklagt ist, hat deine Aussage nicht so … viel Gewicht.« Er seufzt schwer. »Du bist für die Entscheidung deiner Eltern nicht verantwortlich. Ich verstehe, wenn Leute Ordnungskräften gegenüber zurückhaltend sind, vor allem Nishnaabs.« Er versucht ein Lächeln, es kommt jedoch nicht bei der getrockneten Zahnpasta an. »Ihr beide habt gute Arbeit geleistet. Es ist nur so, dass die Tat auf State-Gebiet verübt wurde, weshalb die Untersuchung nicht in unserem Gerichtsbereich liegt. Und mit meiner, ähm, Freundschaft zu eurer Tante bin ich zu nah an dem Fall dran.«
»Es tut mir wirklich leid«, sage ich.
»Nein. Ich muss mich nochmals entschuldigen, dass ich so aufgebracht war. Das ist genau der Grund, warum ich kein unbefangener Ermittler bin.« Er geht auf seinen Pick-up zu.
»Es ist okay«, sage ich zu seinem Rücken. »Das Ganze ist einfach strange. Ich habe … wie viel? … zehn Stunden lang nicht gesprochen. Ich hätte mich fast neben Auntie gestellt, als sie an die Seite fuhr, um sich auf dem Highway zu erbrechen.«
»Sie hat sich erbrochen?« TJ dreht sich schlagartig um. Jetzt hat er wieder diese Polizei-Ermittler-Ausstrahlung.
Ich nicke. »Als sie wieder in den SUV stieg, lachte und weinte sie zugleich.«
Er sieht durch mich hindurch. Nicht wie Grant Edwards mit toten Augen, sondern wie jemand, der vollauf mit seinen Gedanken beschäftigt ist.
»Miigwech, Perry. Dir auch, Pauline.« Eine Sekunde später sitzt TJ in seinem Pick-up und rast davon.
Meine Schwester wartet, bis der Pick-up auf der Straße ist, um loszuschreien.
»Und dafür habe ich eine Nachtschicht eingelegt!«
Am Abend schauen wir Nachrichten im Fernsehen, um zu sehen, ob sie etwas über Aunties Inhaftierung bringen. Sie ist die regionale Top-Story. Der Staatsanwalt von Mackinac County sagt, dass jeder für seine Taten verantwortlich gemacht werden muss, auch die Reichen und Privilegierten. Sie zeigen Fotos von Auntie und ihren Zhaaganaash-Großeltern. Sogar ein Bild vom Wohnheim der Lake State, das nach ihrem Großvater benannt ist, wird eingeblendet.
Was für ein pajog, dieser Staatsanwalt! Er sagt das, als wäre Auntie eine reiche Bitch, die rumläuft und Leute absticht, nur so aus Spaß.
Wir lassen den Fernseher laufen, falls sie noch etwas über Auntie bringen. Mom jagt Junior vom Sofa runter. Ich rolle mich auch vom Sofa und lege mich auf den Teppich neben ihn.
»Sie kann uns nicht trennen«, flüstere ich ihm zu. Junior leckt meine Nase.
In den nationalen Nachrichten geht es um einen Schwarzen Mann, der »durch die Hand eines Police Officers« starb. Ich frage mich, warum der Reporter das Wort Mord vermeidet. Passanten haben gefilmt, was passiert ist. In den Nachrichten sind Aufnahmen von Protesten im ganzen Land zu sehen: so viele unterschiedliche Leute, die demonstrieren, schreien und weinen. Menschen, die wütend sind und die genug davon haben, dass so etwas immer und immer wieder passiert. Ich richte mich auf, überwältigt von Tränen, die ich nicht aufhalten kann.
Als Mom aufsteht und in die Küche geht, laufen Pauline und ich direkt zum Sofa. Wir setzen uns rechts und links von Pops. Er legt um jede einen Arm und drückt uns fest.
In unserem Haus ist Pops sicher. Im Garten. In seiner Werkstatt. Auf Ziisabaaka Minising. Ich bin sicher. Meine Familie ist zusammen.
Ich will, dass wir für immer auf Sugar Island bleiben.