Kapitel 24
Freitag, 25. Juli
C laire beginnt das Freitagsseminar mit ihrer üblichen Frage; sie will wissen, ob es bei den Praktikanten etwas Neues gibt. Ich melde mich. Sie blickt zweimal im Raum umher, bevor sie mich aufruft. Alle Köpfe drehen sich in meine Richtung.
»Ich wollte nur sagen, dass ich immer noch bei ›Wareneingang und Versand‹ bin.« Lucas und Erik quittieren das mit einem High Five.
Als meine Handfläche auf die von Erik trifft, kommt mir der Traum von letzter Nacht wieder in den Sinn. Allein bei dem Gedanken daran werde ich rot. Er hat sein T-Shirt ausgezogen und seine Haare fielen ihm ins Gesicht. Er hob die Arme, um die losen Locken mit einem Gummi zusammenzunehmen. Als er die Arme wieder runternahm, stand ich vor ihm, und er drückte mich an seine nackte Brust. Seine Haut war zart und warm.
Ich sehe mich im Raum um, bin noch immer rot. Okay, es war ein schöner Traum. Ich richte meine ganze Aufmerksamkeit auf Shense. Sie sieht bestürzt aus. Verärgert oder traurig oder ich weiß nicht was.
Ich stupse sie an. »Alles in Ordnung?«
»Nein. Washkehs Dad hat sie gestern Abend zurückgebracht. Er hat ihr Folgemilch aus dem Supermarkt gegeben statt der Milch, die ich für sie abgepumpt habe. Sie trinkt jetzt wieder bei mir, hatte aber die ganze Nacht über Krämpfe.«
»Was für eine Scheiße. Tut mir leid.«
Claire steht vorne im Raum und blickt demonstrativ auf das Team Misfit Toys.
»Es gibt immer noch ein oder zwei Teams, die mir ihr Abschlussprojekt noch nicht mitgeteilt haben. Ich muss das heute wissen«, sagt Claire. »Die Präsentationen der Teams finden in drei Wochen statt.«
Team Misfit Toys stöhnt unisono.
Claire stellt die Geschäftsführerin von Uniting Three Fires Against Violence vor. Team Tribal Council hat sie schon gehört, als sie mit TJ , Pauline und Erik die MMIW -Datenbank-Präsentation durchgeführt hat. Die heutige Schulung geht um Ethik und Grenzen im Berufsleben.
Ich dachte, dass der Verein sich gegen Gewalt einsetzt und so. Ich schaue aus dem Fenster und denke an alles, was ich an einem Julifreitag lieber tun würde. Die Netze im Fluss prüfen. Im Garten Unkraut jäten. Mit Waab und Junior in der Baumfestung spielen. Das nächste Buch auf Coopers Liste lesen. Granny June mit dem reparierten Jeep herumfahren. Mit den älteren Männern an der Baie de Wasai angeln und Geschichten austauschen.
Schon bald schweifen meine Gedanken zurück an vergangene Nacht und wie gut es sich angefühlt hat, als Traum-Erik mich festhielt. Dann erinnere ich mich an letzten Freitag, an das 4.-Juli-Picknick, als er einen Handstand machte, sein T-Shirt nach unten rutschte und ich seinen freien Oberkörper sehen konnte. Ich denke an seinen trainierten Bauch und wie er seine Muskeln anspannte, um die Position zu halten. Die warme Berührung seiner Krabbenäpfelwange mit meinen Lippen, auch wenn es nur für eine Sekunde war.
Wieso erstarrt Pauline plötzlich? Ich folge ihren aufgerissenen Augen: Sie sind auf den Sketch gerichtet, von dem ich bisher kaum etwas mitbekommen habe. Die Frau von UTFAV gibt vor, die Vorgesetzte eines männlichen Mitarbeiters zu sein, der von einem seltsam aussehenden Officer Was-zum in Straßenkleidung gespielt wird. Was bis zu diesem Punkt passiert ist, habe ich verpasst.
»Ihre Arbeit ist hervorragend«, sagt sie zu Was-zum. »Warum gehen Sie heute nicht früher nach Hause, als kleine Anerkennung dafür, dass Sie das Smith-Projekt vorzeitig abgeschlossen haben?«
Was-zum bedankt sich und geht. Eine Minute später ist er zurück.
»Guten Morgen, Chefin«, sagt er. Es soll offenbar der nächste Tag sein.
»Guten Morgen«, sagt sie. Sie reden irgendetwas über die Arbeit. Dann zieht sie ihn auf, weil er gestern so früh ausgestempelt hat, und erwähnt, dass die Personalabteilung die Abteilungsleiter angehalten hat, die »Zeitdiebe« ausfindig zu machen. Bevor Was-zum irgendetwas sagen kann, fügt sie hinzu: »Keine Sorge, Ihr Geheimnis ist bei mir sicher.«
»Wir wollen darüber sprechen, wie jemand in einer einflussreicheren Position in einem Unternehmen versuchen könnte, einen untergeordneten Angestellten für unangemessenes Verhalten zu ›groomen‹«, sagt die Geschäftsführerin.
»Hat es immer einen sexuellen Hintergrund?«, will jemand wissen.
Die Diskussion wird weitergeführt, bis Claire eine Pause ankündigt.
Pauline packt meinen Arm und führt mich in eine ruhige Ecke auf der Empore.
»Ich glaube, das hat Chief Manitou mit mir gemacht.« Sie schaut sich um, will sichergehen, dass uns niemand hört. »Mich ›gegroomt‹.«
»Echt?«
Sie nickt. »In der ersten Woche, als wir die Mitglieder des Council kennengelernt haben, war er sehr professionell. Aber nachdem er mich ausgewählt hatte, war er ganz zwanglos. Vielleicht zu zwanglos.« Pauline schaut mir nicht in die Augen. »Immer wenn wir in seinem Büro waren, machte er die Schiebetüren blickdicht, sodass niemand hereinschauen konnte. Und weißt du, sein Büro ist schalldicht, wenn die Tür geschlossen ist.« Sie sieht mich gespannt an.
»Webs ist auch schalldicht«, sage ich. »Aber er hat die Türen immer transparent gelassen.«
»Chief Manitou hat jedes Mal, wenn er die Schiebetüren auf blickdicht geschaltet hat, denselben müden Witz gemacht.« Sie lässt ihre Stimme schroff klingen. »Was im Büro des Chiefs passiert, bleibt im Büro des Chiefs. Hahaha.«
»Das ist nicht nur müde, das ist ekelhaft«, sage ich.
»Beim ersten Mal habe ich noch gelacht, beim zweiten und dritten Mal schon nicht mehr«, erzählt Pauline. »Dann hat er mich gefragt, ob ich keinen Sinn für Humor hätte.«
»Hast du gesagt: ›Habe ich, wenn etwas witzig ist‹?«
»No way.« Allein bei dem Gedanken daran, so etwas zu einem Vorgesetzten zu sagen, macht sich Entsetzen auf Paulines Gesicht breit. »Ich wollte, dass er gerne mit mir arbeitet, deshalb habe ich beim nächsten Mal darüber gelacht. Es hat funktioniert. Ich durfte längere Pausen machen als die anderen Praktikanten.« Sie wird rot. »Er hat gesagt, ich wäre etwas Besonderes.«
»Du bist etwas Besonderes«, sage ich.
»Das ist okay, wenn du das sagst, aber ein Vorgesetzter? Nachdem wir drei Tage miteinander gearbeitet haben?« Sie reibt sich die Stelle hinter dem Ohr. »Da ist noch etwas, das ich dir nicht erzählt habe. Als Auntie uns gesehen hat, wie wir Burger zum Mittagessen gekauft haben, habe ich aus Spaß gesagt, dass ein anderer Drive-in meine ganze Loyalität genießt, weil er direkt am Fähranleger ist. Chief Manitou legte Wert darauf, mir zuzuschauen, wie ich meinen Cheeseburger esse, und machte Witze über Loyalitätstests.«
»Das ist megaätzend«, sage ich. Ich bin wieder einmal dankbar, dass ich Web zugeteilt war und nun Uncle Bucky.
»Es ist auf jeden Fall ekelig. Aber zu der Zeit wollte ich ihn einfach nur beeindrucken.« Sie zögert, bevor sie weiterspricht. »Ich finde, er hätte angemessene Grenzen ziehen sollen, wie die Training-Lady gesagt hat, aus Respekt für mich, für sich selbst und seine leitende Position.«
Pauline antwortet nicht, als ich sie frage, ob sie sich bei Auntie entschuldigen wird, weil sie ihr Unrecht getan hat.
Nach dem Mittagessen geht jedes Team zu dem ihm zugewiesenen kleinen Besprechungsraum. Ich werfe meinen Rucksack in die Ecke und setze mich neben Shense. Erik sitzt mir gegenüber. Er zwinkert mir zu, als es niemand sieht.
»Ich will wirklich gewinnen. Oder wenigstens das Team Tribal Council schlagen«, sagt Pauline. »Und ich weiß, dass Perry das Bonus-zhooniyaa will.« Sie blickt in meine Richtung. »Damit noch was auf dem Bankkonto ist, nachdem du Auntie die Jeepreparatur erstattet hast, hab ich recht?«
Ich nicke und hoffe, dass sie das auf eine gute Idee für unser Abschlussprojekt bringt.
»Ich habe mir gedacht, wir könnten auf die Geschichte, die wir beim 4.-Juli-Picknick angefangen haben, aufbauen.« Pauline steht vor uns, als hielte sie eine Präsentation vor ihrer Klasse. »In unserem Projekt wird es um Schwarz-Esche-Körbe gehen. Wir werden das Projekt Bigiiwen Enji Zaagigooyin nennen. Das bedeutet ›Komm nach Hause, wo du geliebt wirst‹.«
Manchmal erleben Pauline und ich eine Art Zwillingsdenken, dann beenden wir gegenseitig unsere Sätze oder reagieren instinktiv auf etwas, das die andere erlebt. Meine Schwester deutet mit ihren Lippen auf mich. »Perry hat die Interviews, die wir mit den Ältesten gemacht haben, transkribiert.« Sie kramt im Rucksack, der vor ihr steht. »Hier sind eure Aufnahmegeräte, damit können wir noch mehr Interviews aufnehmen.« Erik greift gleichzeitig mit mir nach einem. Wir sehen uns an und lächeln. Seine lebhaften blauen Augen können meine Gedanken lesen, da bin ich mir sicher.
Ich hantiere konzentriert mit meinem Aufnahmegerät herum, sodass Erik nicht sieht, wie die Gedanken an meinen Traum von letzter Nacht noch einmal über mein Gesicht huschen. Dann werfe ich das Gerät auf meinen Rucksack in der Ecke.
Pauline erklärt, dass wir zeigen könnten, wie wichtig die Körbe für unsere Ältesten sind.
»Wir können ein paar Geschichten der Ältesten hervorheben und schauen, ob sie uns Videos machen lassen. Und Fotos. Wir könnten unterschiedliche Flechttechniken zeigen, verschiedene Macharten. Dann könnten wir Tribal Citizens dazu auffordern, auf Flohmärkten und Auktionen nach Körben Ausschau zu halten, sodass wir die überall verstreuten Stücke nach Hause bringen können.«
Meine Schwester schaut sich plötzlich ängstlich im Raum um.
»Also, ähm, was haltet ihr davon?«
Die anderen drei Misfits schauen sich an. Ich sehe meine eigenen Gefühle in ihren Gesichtern: Ehrfurcht, Aufregung, Stolz, Respekt.
Mein Lee-Lee hallt mir von den Wänden entgegen. Lucas, Erik und Shense klatschen. Pauline strahlt.
Oberflächlich betrachtet sieht es nach einer einfachen Idee aus, aber jeder einzelne Korb hat eine Geschichte. Wenn wir diese Geschichten kennen, sehen wir die Körbe in einem anderen Licht. Vielleicht werden mehr Körbe ihren Weg nach Hause finden und Herzen heilen. Wer weiß, es könnte sogar das Korbflechten für die nächste Generation wieder interessant machen.
»Ich rufe Claire«, sage ich, stehe auf und umarme Pauline. »Sieht ganz so aus, als hätten wir das Siegerprojekt gefunden.«
Am Ende des Tages halten Erik und ich uns an den Händen, als wir die Chi Mukwa verlassen. Wir sind schon zur Hälfte über den Parkplatz gegangen, als mir mein Rucksack wieder einfällt. Ich küsse seine Wange und flitze zurück ins Gebäude.
Ich platze in den Besprechungsraum und stolpere direkt über etwas. Mein Herz setzt aus, als ein schriller Schrei das kleine Zimmer erfüllt. Ich lande auf jemandem und werde weggeschoben. Ich rolle mich zur Seite und rutsche in die Ecke. Mir ist übel, bin kaltschweißig.
Claires überraschter Schrei bringt uns zum Lachen.
»Mensch, Perry. Hast du mich erschreckt. Mein Lieblingsfüller ist mir runtergefallen. Ich dachte, dass du schon gegangen wärst.«
Mein Herz braucht noch einen Moment, bis es wieder normal schlägt. Es war nichts, es war völlig anders, als neben einer Leiche zu liegen.
»Das ist richtig«, sage ich und stehe schnell auf. »Aber ich habe meinen Rucksack vergessen.« Als ich ihn hochhebe, fällt das Aufnahmegerät auf den Boden. Ich hebe es auf und schiebe es in meine Hosentasche.
»Ich wollte dich noch fragen, ob an deiner neuen Einsatzstelle alles gut läuft.« Sie steht zwischen mir und der Tür.
»Alles bestens. Bucky Nodin ist nett«, sage ich, darauf bedacht, schnell zu Erik zurückzukommen.
Sie tritt zur Seite. »Ich will dich nicht aufhalten. Mir graut nur vor dem Abendessen mit meinem ›Stiefvater‹.« Claire malt mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft.
Ich werde hellhörig. Sie meint Frank Lockhart.
»Frank Lockhart?« Was würde ich darum geben, wenn dieser Wichser mir jetzt über den Weg liefe.
Claire nickt. »Vor einer Reise nimmt er immer Kontakt zu mir auf. Er reist nach Europa, in mehrere Länder.« Ihre Augen sehen traurig aus – die Art, wie sie in die Ferne blickt und schöne Erinnerungen sieht.
Irgendwie lässt mir das Foto auf Claires Schreibtisch keine Ruhe. Lockharts Blick war auf Claires Mom fixiert, die wiederum die kleine Claire angelächelt hat. Die Freude im Gesicht ihrer Mom kam mir aufrichtig vor. Caron Barbeau liebte ihr Kind. Liebende Moms verlassen ihre Kinder nicht. Zumindest nicht absichtlich.
Ich habe viele Fragen, aber keine Veranlassung, mit ihr über so persönliche Dinge zu sprechen.
»Wann reist dein Stiefvater ab?« Das ist die einzige Frage, die mir einfällt.
»Nach dem Abendessen. Am Abend vor einer großen Reise fährt er gerne nach Detroit. Er übernachtet in einem Hotel am Flughafen und fliegt am nächsten Tag nach Frankfurt.« Sie klingt verbittert, vielleicht sogar neidisch.
»Bist du jemals mit ihm gereist?«
Sie lacht verächtlich über meine Frage. »Nein. Wir sprechen kaum miteinander. Ich weiß nicht, warum er mich vor jeder internationalen Reise treffen möchte. Ich mache das nie, wenn ich verreise.«
»Du meinst mit dem Auslandsstudienprogramm?«, sage ich.
»Ja. Und private Reisen. Mein Cousin Hugo hat eine Zeit lang in Frankreich gelebt. Ich habe ihn ziemlich oft besucht. Damals habe ich ihn öfter gesehen als jetzt und er wohnt nicht mal eine Stunde von hier.« Claire lächelt etwas hinter mir an. »Die kürzeren Reisen meines Stiefvaters dauern drei Wochen, die längeren vielleicht sechs.«
»Ich wünsche dir ein schönes Abendessen«, sage ich und gehe. Ich will schnell zu Erik, um Zeit mit ihm zu haben.
Web taucht oben an der Treppe auf, seine Gym-Tasche in der Hand. »Wie geht’s, Web? Vermissen Sie mich schon?«, frage ich leichthin, obwohl es mir immer noch einen Stich versetzt, wenn ich an die Kündigung denke.
»Hat Cooper Turtle mit dir gesprochen?«, fragt er.
»Nein. Warum? Habt ihr jetzt beide Gewissensbisse?« Manchmal könnte ich mich über mich selbst schlapplachen.
Web findet es scheinbar nicht witzig. Er macht mir ein Zeichen, ihm in die Ecke der Empore zu folgen.
»Das College hat ein Memo an den Tribal Council über die Lockhart-Sammlung herausgegeben. Cooper war in Kopie gesetzt. Sie sind durch eine Lagerhalle in St. Ignace gegangen, in der Nähe von Lockharts Teepees-n-Trinkets-Laden. Nach dem, was Frank Lockhart behauptet, hat er die Sachen einem anderen privaten Sammler abgekauft. Die Unterlagen wurden anscheinend bei einem Wasserschaden im Lagergebäude zerstört. Sie sagen, dass es keinen Beweis gibt, dass die Objekte mit Sugar Island in Verbindung stehen. Ich glaube, sie verwenden den Begriff ›kulturell nicht identifizierbar‹.«
»Was für eine …?!« Diese durchtriebenen Mack-State-Ärsche. Und dieser Lügner Frank Lockhart.
»Wie funktioniert das, Perry? Wenn sie keine Unterlagen darüber haben, wo die Objekte herkommen, wie können wir sie dann zurückverlangen?« Web hebt die Stimme.
Ich laufe auf und ab, während ich versuche, mich an alles zu erinnern, was ich gelesen und von Cooper gelernt habe.
»Cooper sagt, dass Museen die Kennung ›kulturell nicht identifizierbar‹ als allgemeinen Sammelbegriff verwenden, wenn sie nicht die Mittel haben, die Objekte angemessen zu erfassen. Er sagt, dass Objekte so bezeichnet werden, selbst wenn die Tribes Beweise der Zugehörigkeit erbringen, weil dann das Museum die Grabbeigaben behalten kann.« Ich bleibe vor Web stehen. »Lockhart besitzt das südliche Ende von Sugar Island. Erwartet er im Ernst, dass wir glauben, er hätte sein Grundstück nicht nach vergrabenen Schätzen abgesucht?«
»Soviel ich weiß«, sagt Web, die Hände in Scheinkapitulation erhoben, »war nichts ausgezeichnet.«
»Was hat Cooper über das Memo gesagt?«
»Ich habe nicht mit ihm gesprochen«, sagt Web.
Wird Cooper weiterhin jede Verzögerung bei der Rückholung unserer Vorfahren akzeptieren? Oder ist der Moment gekommen, in dem er seinen Glauben an die Gesetze, die Vorgehensweisen und die Regeln hinterfragt?
Cooper Turtles vorschriftsmäßiges Handeln funktioniert vielleicht in einem Fair-Play-Umfeld. Aber das haben wir hier nicht.
»Web, die setzen jede Taktik ein, um unsere Anträge hinauszuzögern und abzuweisen. Cooper hat gesagt, dass Museen manchmal eine öffentliche Versammlung ankündigen und denken, dass sie damit alle Gesetzesvorgaben, die Tribes zu kontaktieren, erfüllt haben. Und selbst wenn sie die Tribes den Vorgaben entsprechend einladen, sind die Institutionen nicht dazu verpflichtet, auf die Empfehlungen der Tribes einzugehen.«
Ich denke an meine Literaturliste und was ich über die Denkweise mancher Wissenschaftler gelernt habe.
»Sie sehen unsere mündlichen Überlieferungen als nette Folklore an.«
Als Nächstes denke ich an den Leer-wah-Typen, der mir Warrior Girl gezeigt hat.
»Ihre Archäologen denken, dass jeder mehr als tausend Jahre alte Vorfahre von keinem heutigen Tribe geltend gemacht werden kann. Aber dann geht er hin und sagt ›Das hier ist mein Mädchen‹.«
Dr. Fentons Büro fällt mir wieder ein.
»Sie glauben, dass wir uns nicht richtig um die menschlichen Überreste und heiligen Objekte kümmern können. Aber sie bewahren unsere Vorfahren in Obstkisten auf, Web. Genauer gesagt, in Bananenkisten. Es ist für sie völlig in Ordnung, Zähne in einer verdammten Cornflakes-Packung aufzubewahren, aber nicht, uns unsere Verwandten zurückzugeben.«
Ich bin so wütend, dass ich am liebsten in Dr. Fentons Büro rauschen und alles mitnehmen würde.
Und was dann? Cooper fragt das in seiner nervtötend ruhigen Art. Ich drehe mich um. Klar, Cooper ist nicht da. Nur Web, der mich seltsam ansieht.
»Erinnerst du dich noch, wie du vermutet hast, dass Frank Lockhart illegale Objekte in seiner Sammlung hat?« Web sagt das im Flüsterton, obwohl wir alleine sind. »Die Leute vom Mack State haben keine menschlichen Überreste in der Lagerhalle erwähnt.«
»Lockhart bewahrt die Vorfahren woanders auf«, sage ich aufgeregt. »Sie glauben das also auch.«
Web blickt hinter mich, um sicher zu sein, dass uns niemand hört.
»Ja, das glaube ich auch, Ogichidaakwezans.« Sein Lächeln erreicht die Augenfältchen. »Wie nennst du es, wenn du an Schultagen jagen und angeln darfst? ›Eigenständige Recherchen‹?« Er nickt und fährt fort: »Am südlichen Ende der Insel gibt es jede Menge gute Angelstellen.« Er zieht die Wörter in die Länge, wie Pauline es zur Betonung macht. »Geheime Orte. Versteckt, aber bereit, entdeckt zu werden. Als Anglerkollege warte ich gespannt auf deine Geschichten. Es ist immer gut, zu wissen, wo sich die besten Fische verstecken.«
Web geht davon und bleibt für ein Gespräch bei Officer Was-zum oben an der Treppe stehen.
Lockhart fliegt morgen nach Europa. Er wird während des restlichen Praktikums und vielleicht Anfang September nicht da sein. Warum unternimmt er diese Reise jetzt? Seine Sammlung legaler Objekte hat er gespendet … aber was ist mit den illegalen Objekten? Vorfahren, die er auf seinem Land ausgegraben hat, Objekte, die er erworben hat, nachdem NAGPRA in Kraft getreten ist. Ausländische Museen sind nicht gezwungen, irgendetwas zurückzugeben.
Eine Idee setzt sich in mir fest.
Wenn alles möglich wäre und du würdest damit davonkommen, wie weit würdest du gehen?
Ich tanze regelrecht aus dem Chi Mukwa Center und über den Parkplatz zu Eriks Auto. Die Fenster sind geöffnet und er hört Musik.
»Es tut mir leid, dass du so lange warten musstest«, sage ich, als ich ins Auto einsteige.
Als Erik lächelt, habe ich gemischte Gefühle – Zärtlichkeit und ein Hauch von Traurigkeit.
»Kein Problem«, sagt Erik. »Ich war drinnen und hab nach dir geschaut. Es sah aus, als hättest du ein wichtiges Gespräch mit dem Sub-Chief, also habe ich mich wieder ins Auto gesetzt, um auf dich zu warten.«
Es war tatsächlich eine wichtige Unterhaltung. Wie wichtig, wird mir erst jetzt bewusst.
Als wir auf die Fähre fahren, ist der Hauch von Traurigkeit zu einem Tsunami geworden.
Ich präge mir Eriks Profil ein. Er hat den Gummi aus seinen Haaren gezogen, während er gewartet hat, bis mein Gespräch mit Web zu Ende war. Die Brise zerzaust sein Haar. Seine Oberlippe ist dünner als die Unterlippe. Seine Wangen sehen heute hohler aus. Auf dem Nasenrücken hat er eine Wölbung. Ich weiß nicht, wie alt er war, als er seine Nase gebrochen hat, und wie es passiert ist.
Es gibt so viel, was wir nicht voneinander wissen. Ich hätte mit beiden Beinen hineinspringen sollen, anstatt es langsam anzugehen.
Er bleibt zum Abendessen. Hinterher spielen wir mit Junior. Erik gesteht, dass er an dem Tag, als er herkam, um Pauline mit der Datenbank zu helfen, mich beobachtet hat. Als ich meinem Hund Ojibwemowin beigebracht habe. Die Wörter für tanzen und Tornado .
Wir küssen uns beim Klettergerüst unter der Baumfestung. Ich fahre mit meinen Fingern durch sein Haar, versuche, mir die Wellen einzuprägen, ihre Farbe, ihre Weichheit. Sein Haar ist bereits heller geworden und wir haben noch nicht einmal August. Bis Eriks College anfängt, ist er vermutlich blond. Und sonnengebräunt.
Er hält mich fest, so wie er mich in meinem ersten Traum von ihm gehalten hat.
»Austeilende Pöbel-Perry«, sagt er. »Sag mir, was du schon den ganzen Abend mit dir rumträgst.«
Ich hole Atem. »Ich werde etwas tun, bei dem du nicht dabei sein kannst.«
Wir schmiegen uns lange Zeit aneinander. Er küsst mich ein letztes Mal – langsam, zärtlich –, wie man etwas tut, das sich in der Erinnerung festsetzen soll. Dann fährt er davon.
Heute Nacht, wenn ich von Warrior Girl träume, werde ich ihr Messer annehmen.