Kapitel 25
Sonntag, 27. Juli
A m Sonntagmorgen nach dem Frühstück fahren Mom und Pauline nach Petoskey zum Einkaufen. Ich will warten, bis Pops zu seinen Besorgungen aufgebrochen ist, um mir dann Lucas’ Truck auszuleihen. Ich habe vor, mir Lockharts Anwesen genauer anzusehen. Aber Pops arbeitet zuerst im Garten.
Ich spiele mit Junior im Vorhof, während Pops unter der Dusche ist. Er winkt, als er in seinen Truck steigt und davonfährt. Wir bleiben im Vorhof für den Fall, dass Pops etwas vergessen hat und zurückkommt. Ich übe Ojibwemowin mit meinem Hund, während ich warte, dass das Fährhorn zweimal tutet.
Junior spitzt die Ohren. Eine Minute später fährt Shenses Auto in die Auffahrt. Er knurrt. Irgendwo zwischen dem Hütehund und dem Bluthund muss in seiner DNA ein grimmiger Wachhund sein. Dieser Verwandte kommt bei ihm nicht oft zum Vorschein, aber da wir allein zu Hause sind, ist es gerechtfertigt.
»Onizhishin.« Ich sage ihm, dass alles gut ist. Shense frage ich: »Wie geht’s, niijiikwe?«
»Ich wollte mit Washkeh ein bisschen herumfahren. Sie ist so quengelig.«
Ich denke an Lucas’ Truck am Ende der Straße. Vielleicht ist es die bessere Idee, mit Shense zu fahren. Wenigstens müsste ich mir keine Sorgen machen, an Pops oder jemandem vorbeizufahren, der weiß, dass ich diesen Sommer Fahrverbot habe.
»Soll ich dich begleiten? Ich wollte mir Frank Lockharts Anwesen am südlichen Ende der Insel anschauen«, sage ich. »Theoretische Erkundung.«
»Klar«, stimmt sie sofort zu. »Das ist super. Nimm deinen Hund auch mit.«
Ich lege Junior an die Leine und lasse ihn an Shense und dem Baby schnüffeln. Er wedelt mit dem Schwanz, als wäre Washkeh sein Baby. Trotzdem muss er bei mir vorne sitzen.
Wir nehmen die Panoramastraße. Ich erkläre Shense den Weg über Nebenstraßen mit wenig Verkehr, damit wir am Straßenrand parken können.
Shense bindet ihr binoojii in so ein Babyeinwickeltuch vor die Brust. Washkeh wirft mir wieder einen tiefen, dunkeläugigen Blick zu, bevor sie ihr Gesicht in die Weichheit der Brüste ihrer Mutter drückt.
Ich hänge mir mein Fernglas um und lasse Junior von der Leine. Falls wir beim Betreten eines fremden Grundstücks erwischt werden, sage ich, dass ich Vögel beobachte und einem ungezogenen Hund nachjagen musste.
»Was weißt du über das Anwesen?«, fragt Shense.
»Nach dem, was ich gehört habe, hat dieses ganze Land der Nodin-Familie gehört. In schweren Zeiten haben sie immer mal wieder ein Stück verkauft. Meine Mom hat gesagt, dass so etwas oft vorgekommen ist.« Ich folge Junior und pfeife nach ihm, wenn er zu weit vorausläuft. Mit wedelndem Schwanz kommt er zurück. Ich erzähle weiter. »Irgendwann fing Frank Lockharts Vater an, Zehn-Morgen-Parzellen zu sammeln wie … wie Briefmarken, denke ich. Jetzt gehört das ganze Land hier ihm.« Weil Washkeh dabei ist, behalte ich meine Meinung über Frank Lockhart für mich.
Junior läuft auf ein paar Teerpappehäuser in unterschiedlichem Verfallstadium zu. Die Dächer sind unter dem Gewicht von starkem Schneefall eingebrochen. Einfache Fensterscheiben mussten irgendwann als Übungsobjekt für Zielwerfen herhalten. Diese rustikalen Häuser waren über Generationen von Nodins bewohnt.
»Meine Mom hat gesagt, dass nachdem der Tribe das Casino gebaut hat und Tribal Citizens gute Jobs hatten und Pro-Kopf-Zahlungen erhielten, Familien wie die Nodins versucht haben, ihr Land zurückzukaufen. Aber Frank Lockhart hatte sich inzwischen ein großes Haus darauf gebaut und kein Interesse an einem Verkauf.«
Mein Hund ist von einer der baufälligen Hütten fasziniert. Ich stelle mir vor, dass eine Waschbärenfamilie oder Eichhörnchen den Ort für sich beanspruchen. Da Junior sich fürs Leben gerne auf Gerippen toter Tiere wälzt, noch lieber als in Tierscheiße, rufe ich ihn zurück. Er hört nicht und schnüffelt an den verwitterten Holzplanken und den verbogenen Fensterrahmen, aus denen Glasstücke wie abgebrochene Zähne herausstehen, herum.
Ich gehe auf ihn zu. Er schnüffelt mit der Intensität eines Bluthundes. An manchen Stellen ist der Boden weich. Eine Holzplanke schaukelt wie eine Wippe.
»Maanaadan«, rufe ich meinem Hund zu und wiederhole dann: »Das ist schlecht. Pfui.«
Schließlich nehme ich ihn an die Leine und ziehe ihn von den Ruinen weg.
»Ich glaube, dass ich diese Sache an der Malcolm machen werde«, sagt Shense und weicht einem umgestürzten Baumstamm aus.
»Welche Sache?« Ich kann mir nicht vorstellen, dass Malcolm eine »Sache« hat.
»Die Sache, über die Mrs Turtle gesprochen hat: Credits für ein beschleunigtes Lernprogramm zu bekommen. Ich könnte die Highschool rechtzeitig abschließen. Dann direkt aufs College gehen. Bei meinem Dad wohnen bleiben. Mich auf das Baby und die Schule konzentrieren.«
Wir gehen einen zugewachsenen Pfad entlang. Junior zerrt an der Leine, er will zurück zu den Hütten.
»Was willst du studieren?«, frage ich.
»Aber nicht lachen«, sagt sie. »Ich habe an Elektroingenieurwesen gedacht.«
»Warum sollte ich lachen?« Junior markiert einen weiteren Baum.
Sie zuckt mit den Schultern. »Ich denke, dass ich die einzige Teen Mom in meinen Kursen sein werde.«
»Meine Mom hat erzählt, dass sie, nachdem Pauline und ich auf der Welt waren, eine bessere Studentin war. Eine Mom zu sein, hat ihr geholfen, fokussiert zu arbeiten«, sage ich.
»Wir könnten den beschleunigten Kurs gemeinsam machen, Perry. Dein Junior- und Senior-Jahr in der halben Zeit beenden. Und dann zusammen aufs College gehen.« Sie klingt aufgeregt.
»Ich werde darüber nachdenken«, sage ich ohne große Überzeugung.
»Wir könnten mit Erik eine Fahrgemeinschaft zum Mack State bilden«, sagt sie. »Wenn dich ein fünftes Rad am Wagen nicht stört.«
»Ich habe Freitagabend mit Erik Schluss gemacht. Meine theoretische Erkundung ist alles andere als theoretisch. Er darf damit nichts zu tun haben«, sage ich. »Und du auch nicht. Ich meine, ich weiß, dass du mit mir auf Frank Lockharts Grundstück rumläufst, aber mehr wirst du nicht tun. Ich muss hier die einsame Wölfin sein.«
»Also bist du mit ihm fertig, für immer?« Sie wischt sich den Schweiß von der Stirn.
»Ich weiß nicht, was passieren wird. Wenn ich erwischt werde, ist das schlimm. Chi maanaadan.«
Als wir die Straße überqueren, zeigt Shense auf die Hauptstromleitung.
»Jedes vernünftige Sicherheitssystem benötigt Strom«, fügt sie hinzu. »Um das System zu deaktivieren, musst du nur den Strom abschalten.«
»Das ist alles?« Ich lache. Washkehs dunkle Haare sind gewachsen, seit ich sie das letzte Mal gesehen habe. Sie sind länger und kräftiger geworden. Je mehr ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich, dass ich meine Freundin nicht hätte herbringen sollen. »Im Ernst, Shense, ich werde mir alleine überlegen, wie ich das mache.«
Sie ignoriert mich und übernimmt die Führung. Junior folgt ihr und zieht mich mit. Bis ich bemerke, dass wir der Stromleitung folgen, kann man schon die Nebengebäude sehen. Shense bleibt am Waldrand stehen. Sie zeigt auf das Fernglas, das noch um meinen Hals hängt.
»Siehst du das Ding neben der Scheune?«, fragt sie, nachdem sie durch mein Fernglas geschaut hat.
Ich blinzle. »Das Silo?«
»Nein, es sieht aus wie ein Zaun um einen Carport. Mit einem Dach, aber ohne Wände.« Sie gibt mir das Fernglas, damit ich selbst schauen kann. »Siehst du es? Dort steht der Generator. Bei einem Stromausfall springt der Generator an.«
»Wie lang kann so ein Generator laufen?«, frage ich.
»Ein oder zwei Tage? Das hängt von der Größe ab.« Sie stößt mich an. »Mein Vater hat sich für seinen Geburtstag eine Drohne gegönnt. Wir könnten sie ausleihen und ein Video drehen.«
»Shense, das mit der Einsamer-Wolf-Operation habe ich ernst gemeint.«
»Aber wenn es so wichtig ist, solltest du Hilfe haben. Lucas hat vielleicht bei der Arbeit Zugang zu einer Drohne. Er und Pauline könnten gemeinsam einen Plan des Anwesens aufzeichnen.« Sie schaukelt das Baby, es hat angefangen zu quengeln. »Das gibt ihnen eine gute Ausrede, Zeit miteinander zu verbringen. Dann können wir versuchen, alle Gebäude irgendwie zu durchsuchen.«
»Wie meinst du das mit Lucas und Pauline?«
Shense antwortet nicht. Stattdessen sieht sie mich irritiert an.
»Er ist wie unser Bruder«, sage ich.
»Vielleicht habe ich etwas falsch verstanden. Wahrscheinlich habe ich mir da was eingebildet, weil Washkehs Dad und ich auch nur Freunde waren.« Shense beruhigt das Baby. »Ich muss sie bald füttern.«
Wir gehen durch den Wald zurück, bis wir an einen umgestürzten Baum kommen. Shense setzt sich auf den Stamm und öffnet ihren BH , um Washkeh zu stillen. Sie summt ihrem binoojii etwas vor. Ich sitze neben ihnen. Junior zerrt an der Leine. Vorhin, bei den verfallenen Hütten, war er kaum zu beruhigen gewesen, da werde ich lieber nichts riskieren.
Hier in der Beschaulichkeit des Waldes überlege ich mir, wie man einen Raub durchziehen könnte. Ganz in Schwarz gekleidet. In der Dunkelheit zwischen den Bäumen hindurchschleichen, nicht greifbar wie ein Schatten. Hier sind irgendwo Kisten mit unseren Vorfahren aufbewahrt. Wenn ich sie gefunden habe, werde ich für sie singen, wie Shense für Washkeh singt, mit einer Stimme voll Liebe und Trost.
Amii izhi nibaan. Schlaf jetzt ein.
Gego gotaajiken. Hab keine Angst.
Gizaagi’in. Ich liebe dich.