Kapitel 30
Freitag, 8. August
C laires Mission für den heutigen Tag ist es, das Wort zweitletzt so oft wie möglich zu verwenden. So wie in: Das ist unser zweitletztes Freitagsseminar. Es ist ebenfalls ihre zweitletzte Arbeitswoche, da sie, sobald das Kinomaage-Programm abgeschlossen ist, einen neuen Job anfängt. Und als Claire den Zeitplan für die Abschlusspräsentation für den Tribal Council ankündigt, kommt das Team Misfit Toys an zweitletzter Stelle.
Lucas flüstert: »Warum sagt sie nicht einfach an vorletzter Stelle?«
»Weil sie mir auf den zweitletzten Nerv gehen will«, sage ich.
Alle um uns herum kichern. Pauline stößt mich an und straft mich mit ihrem üblichen strengen Blick. Ich sehe zu Erik und werde mit einem Lächeln belohnt.
Vielleicht können er und ich nach dieser Aktion noch einmal ganz von vorne anfangen. Einen dritten Versuch starten.
Während die Gäste vorgestellt werden, gehe ich im Kopf meinen Plan für den Ahnenraub durch. Ich stelle mir eins von Paulines Vision-Boards vor, mit detaillierten Listen und den passenden Fotos, die sie von Pinterest heruntergeladen hat. Sie verschwendet den ganzen Toner des Farbdruckers für den Druck dieser Fotos.
Vorbereitung
Jeder erhält ein Wegwerfhandy und seinen individuellen Auftrag.
Pauline hat auf den Wegwerfhandys eine Gruppe eingerichtet, die sie »G« für »Gruppe« genannt hat. Es bringt nichts, die Dinge unnötig zu verkomplizieren. Die Nummer meines Wegwerfhandys ist in allen Telefonen unter »A« für »Anführerin« gespeichert. Team Misfits Ahnenraub schickt etwas an »G« oder an »A«. Keine weiteren Aktivitäten auf den Wegwerfhandys.
Auf gichi noodin warten.
Wir müssen uns keine Sorgen über Hurrikans, Vulkanausbrüche, Erdbeben oder Tsunamis auf Sugar Island machen, aber wir bekommen hier ziemlich heftige Stürme. Vergangenen September hat ein verheerender Sturm etliche Straßen auf der Insel überschwemmt. Der Umweg, den wir fahren mussten, um zu unserem Teil auf dem Northshore Drive zu kommen, war richtig nervig.
Es könnte vielleicht ein paar STRASSE -GESPERRT -Schilder geben, die ich ausfindig machen muss und während des Ahnenraubs zweckentfremden könnte.
Shense gibt mir Bescheid, wenn ihr Uncle zu Lockharts Grundstück aufgebrochen ist.
Ihr erster Anruf ist wie bei der Tornadowache: Die Wetterlage ist optimal; halte dich bereit.
Shense informiert mich, wenn die Hauptversorgungsleitung gekappt ist.
Ihr zweiter Anruf ist die Tornadowarnung. Der 60-Stunden-Countdown zur Startzeit beginnt. Und das ist Shenses letzte Aufgabe im Team Misfits Ahnenraub.
Ich schreibe das Datum und die Startzeit in die Gruppe und informiere Stormy persönlich.
Das ist auch der Aufruf an das Team Misfits Ahnenraub, letzte Vorbereitungen für ihre Aufträge zu treffen.
Jobs:
Pauline – herausfinden, welche Officer während der Aktion Dienst haben.
Lucas – sicherstellen, dass das Boot bereit ist.
Web – Truck organisieren.
Stormy – Ort vorbereiten, an dem die Vorfahren bis zur Wiederbestattung bleiben.
Ich – Wachpostentraining mit Granny June und Minnie Mustang.
Zusätzlich zum Training mit Granny und Minnie werde ich ihnen helfen, eine Tasche mit dem Notwendigsten zu packen. Sie werden etwas zu essen und Wasser brauchen und ihre Medikamente. Sie dürfen ihre Smartphones nicht mitnehmen oder was sonst einen digitalen Fußabdruck hinterlassen könnte. Wir werden zu der Stelle fahren, die für den Wachposten geplant ist, und verschiedene Szenarien durchspielen, sodass sie auf alles vorbereitet sind.
Sechzig Stunden später ist …
Start der Aktion
Wir kommen auf dem Grundstück an; wir tragen alle Schwarz (nur für den Fall, dass die Kameras noch funktionieren).
Lucas und Pauline kommen mit dem Boot und gehen zu Fuß zum Silo.
Ich komme mit dem Umzugswagen und fahre rückwärts vor die Haupteingangstür des Silos.
Stormy kommt … irgendwie.
Granny und Minnie tauschen den Mustang gegen Aunties alten Truck und fahren zum Standort des Wachpostens.
Ich klettere die Leiter hoch, betrete durch die Luke das Silo und öffne die Eingangstür von innen.
(Ich vermute) Stormy will das Silo von innen räuchern sowie den Umzugswagen und uns alle. Ich muss Zedernöl für unsere Schläfen besorgen.
Lucas und ich werden abwechselnd die Schaukästen abhängen und an Stormy und Pauline übergeben.
Stormy und Pauline tragen die Schaukästen mit den Vorfahren zum Umzugswagen.
Lucas und Pauline bringen das Boot zurück und gehen nach Hause.
Stormy sitzt hinten bei den Ahnen. Ich fahre den Umzugswagen.
Wir halten am Wachposten an, damit wir Grannys und Minnies Wegwerfhandys einsammeln können, bevor sie Aunties Truck zurückbringen und mit dem Mustang nach Hause fahren.
Stormy und ich bringen die Vorfahren mit dem Umzugswagen zum vorläufigen Ruheort, den Stormy für sie vorbereitet hat.
Ich bringe den Umzugswagen dahin zurück, von wo Web ihn organisiert hat.
Ich entsorge die Wegwerfhandys.
Stormy bleibt bei den Ahnen und betet um Anleitung für ihre Rückführung.
Nachdem Granny und Minnie sich ausgeruht haben, helfen sie Stormy, die Ahnen für die Zeremonie vorzubereiten.
Am Ende des Tages kommt Claire zu uns, um zu sehen, wie weit wir sind. Wir zeigen unsere Fortschritte für das Abschlussprojekt und sie lobt unsere Arbeit.
Claire bittet mich in ihr Büro zu einem vertraulichen Gespräch.
Verdammt. Das ist nicht gut. Ich folge ihr und setze mich auf denselben Platz wie das Mal zuvor.
»Perry, es tut mir leid, dass ich das tun muss, aber wir müssen dich noch einmal versetzen.«
»Für die letzte Woche?«, frage ich ungläubig.
»Ja. Wir versetzen dich in das Tribal Police Department.«
»Zu meiner Schwester und Erik Miller?« Das verstehe ich nicht. Ist noch eine Nish kwe verschwunden?
»›Wareneingang und Versand‹ hat Erik für die letzte Woche angefordert. Sie benötigen einen weiteren Fahrer mit einem CDL für ein Projekt.«
»Im Ernst, Claire? Das ist echt ätzend.« Dieses Mal bin ich wirklich aufgebracht.
»Ja, sicher, aber Praktika sind dazu da, dass man Lernerfahrungen macht.«
»Ich lerne, dass ich austauschbar bin.«
»Es tut mir leid, Perry. Ich gebe dir recht, das waren außerordentlich viele Wechsel. Und du hast dich dabei so professionell verhalten. Ich werde dafür sorgen, dass in deine Beurteilung aufgenommen wird, wie gut du dich mit chaotischen Situationen arrangieren kannst.«
»Bekomme ich für das gute Arrangieren einen Bonus?«
Claire kichert. »O Perry. Ich sollte keine Lieblinge haben, aber ich muss zugeben, dass deine ›joie de vivre‹ erfrischend ist.«
»Meine was dö was?«
»Deine Lust am Leben! Ich bewundere deinen unbezähmbaren Spirit.«
»Ach das«, sage ich, woraufhin Claire wieder lachen muss.
Da sie gute Laune hat, ergreife ich die Gelegenheit. Vielleicht kann ich ihr ein paar brauchbare Informationen entlocken.
»Hey, Claire?«, sage ich langsam. »Ich wollte dir noch sagen … die Präsentation über das Auslandsstudium hat mir richtig gut gefallen. Ich meine, wenn ich dann auf dem College bin. Ich war noch an keinem der Orte, die du uns gezeigt hast.«
»Wo würdest du am liebsten hingehen?«
Kacke. Jetzt muss ich mir irgendeinen Ort ausdenken. Ich gehe auf Nummer sicher.
»Paris. Auf jeden Fall«, sprudle ich hervor.
»Aber … du sprichst kein Französisch«, merkt Claire an.
»Ich habe noch zwei Jahre an der Highschool, in denen ich Französisch lernen kann.« Schwach erinnere ich mich an ein Gruppenfoto vor dem Eiffelturm. Ich füge hinzu: »Außerdem seht ihr alle nach … joie de vivre aus.«
»Paris ist immer wunderbar.«
»Wo wir gerade von Paris sprechen«, sage ich sanft. »Wie läuft die Reise deines Stiefvaters?« Ihr Lächeln fällt zusammen, und ich versuche, meinen Vorstoß zu retten. »Du hast seine Reise letztens erwähnt. Ich bin, glaube ich, neidisch auf Leute, die reisen können. Europa. Wow! Und dann für vier Wochen. Wirst du in deinem neuen Job so viel reisen können wie mit dem Auslandsstudienprogramm?«
Claires Miene sieht nun merkwürdig gequält aus. Ich habe etwas Falsches gesagt. Habe geredet, ohne über die Konsequenzen nachzudenken.
»Ich weiß nicht, ob du dir dessen bewusst bist, Perry, aber meine Mutter zog fort, als ich noch klein war.« Sie legt eine Pause ein. Ihre Augen sind feucht. »Zuvor hatte sie sich mit meinem Stiefvater gestritten. Es ging darum, warum er sie nicht mit nach Europa nimmt, wie er versprochen hatte. Sie war verärgert und meinte, dass sie alleine gehen würde. Ich habe das Gespräch gehört und habe etwas Schreckliches zu ihr gesagt.« Claire putzt sich die Nase und schnieft.
Ich hab keine Ahnung, was ich tun soll. Vom fröhlichen Lachen über meine joie de vivre fängt Claire übergangslos an zu weinen, weil ihre Mutter sie verlassen hat. Ihr jetzt zu sagen, dass ich viel dummes Zeug gesagt habe, als ich acht war, kommt mir nicht richtig vor.
Ich schrecke zusammen, als Claire weiterspricht.
»Es tut mir leid, Perry. Das ist nicht sehr professionell von mir, so einzuknicken.«
Ich gebe ihr ein Papiertaschentuch. Sie nimmt es und schwenkt es wie eine Kapitulationsflagge, versucht zu lachen.
»Es tut mir leid, was dir passiert ist.« Mehr fällt mir nicht ein, um es nicht noch schlimmer zu machen.
»Miigwech.« Sie tupft ihre Augen ab. »Ich wünschte, ich könnte zurücknehmen, was ich zu ihr gesagt habe – dass sie eine schlechte Mom war und dass meine Tante eine bessere Mom sei, wegen allem, was sie für Hugo tat. Meine Mom hat immer gedacht, dass mein Cousin ein verwöhnter Bengel war. Ich sagte ihr praktisch, sie solle weggehen, damit meine Tante meine Mom sein würde. Es war das Schlimmste, was ich sagen konnte.«
Anstatt Informationen über Lockharts Reise zu bekommen, habe ich mehr über Claire erfahren. Das hatte ich nicht gebraucht. Ich fühle mich wie an dem Tag, als Auntie mir erzählt hat, dass sie vergewaltigt wurde, und ich mir wünschte, sie hätte die Geschichte für sich behalten.