Epilog
Samstag, 25. Oktober
I ch stehe in der Ecke der Fähre, als sie Sugar Island anfährt. Nachdem ich mich in unserer Sprache vorgestellt habe, danke ich für die sichere Überfahrt, für den Fluss, der uns so viel gibt, und für Ziisabaaka Minising. Ich habe die Insel in meine Gebete eingeschlossen, meine Hand an die Stirn gelegt, um die Augen gegen das grelle Licht zu schützen. Ich denke »zukunftsorientiert«, genau wie Cooper Turtle.
Als die Umkehrschubdüsen unsere baldige Ankunft signalisieren, laufe ich zurück zu meinem Auto.
Sobald ich den Damm hinuntergerast bin, werfe ich einen schnellen Blick auf das Armaturenbrett. Obwohl ich versucht bin, den tomatenroten Mustang noch schneller galoppieren zu lassen, gehe ich es langsam an.
Ich komme an, wenn ich ankomme.
Die Schotterstraße macht eine scharfe Kurve. Ich folge der ansteigenden Serpentine zu einer Lichtung, auf der mehrere Autos kreuz und quer geparkt sind. Ich stelle den Motor ab und lasse den Schlüssel stecken. Nasse braune Blätter kleben an meinen Doc Martens, als ich schnell zum Aussichtspunkt gehe.
Ich stelle mich neben Auntie, sie drückt meine Hand. Als sie meinen neuen Bänderrock sieht, nickt sie mir anerkennend zu. Satinstreifen in den vier traditionellen Farben sind rund um die untere Rockhälfte aufgenäht. Die Bänder sind an den Seiten länger, damit sie an den seitlichen Säumen frei schwingen. Granny June hat eine Applikation in der Form von Sugar Island vorne auf den Rock genäht. Als Aunties Blick schließlich an meinem neuen MERCILESS -INDIAN -SAVAGE -Sweatshirt hängen bleibt, schmunzelt sie und rollt die Augen.
»Und wie fährt er?«, fragt Auntie mit einem Blick auf den Mustang. Ein Geschenk aus dem Nachlass von Minnie Manitou für Auntie, mit der Nachricht: Dieses Pony hat dich schon einmal gerettet. Vielleicht weißt du, wem es als Nächstes helfen kann.
»Fantastisch! Ich hab Minnie letztens bis auf 160 hochgejagt.«
Die Reaktion meiner Tante freut mich tierisch, als zu ihrem schrillen Wasserkesselkreischen quasi Dampf aus den Ohren kommt. Einen Atemzug später sieht sie das Zwinkern in meinen Augen und schüttelt nur noch den Kopf. Natürlich ziehe ich Auntie nur auf.
Außerdem waren es nur 120.
»Mama!« Waabun kommt von TJ s Pick-up zu uns gelaufen. Teevo will ihn einholen, aber Waab ist zu schnell. TJ kommt hinter den beiden Jungen her.
»Oooh … hübsch«, sagt Waab und will über die Bänder streichen. Teevo macht es ihm nach.
»Jungs«, sagt TJ in der ihm eigenen lang gezogenen Art.
»Ich weiß, Uncle TJ , ich weiß. Nur mit den Augen, nicht mit den Händen berühren.« Waab macht TJ s leisen, warnenden Ton nach.
Als Waab mich ansieht, zwinkere ich. Wir grinsen.
Ein klarer Trommelschlag lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die tiefer liegende Lichtung. Trommler sitzen dort im Kreis um eine Zeremonientrommel. Unter ihnen ist Stormys Dad, der die ersten Töne alleine singt. Ein zweiter Schlag fordert die anderen Trommler auf, in das gesungene Willkommen einzustimmen. Lucas’ Mund öffnet sich, und ich schwöre, dass ich meinen Kumpel aus den anderen heraushören kann. Hinter Lucas steht seine Mutter, eine der Sängerinnen, die einstimmen.
Nach dem Raub hatte Lucas gehofft, dass er und Pauline ein Paar werden würden, wie Erik und ich. Er hat mir nicht alle Einzelheiten erzählt, aber meine Schwester hat nicht so geantwortet, wie er es sich erhofft hatte. Als sie mit der Freundschaft plus weitermachen wollte, beschloss Lucas, dass ihre Freundschaft nur funktionieren konnte, wenn sie das »plus« wegließen. Für ihn war es schwieriger, nach vorne zu schauen, aber nur er und ich wissen von seinem gebrochen Herzen.
Pops und Erik hüten das Feuer in der nahe gelegenen Lodge, die speziell für die heutige Wiederbestattungszeremonie gebaut wurde. Mein Freund ist einer der jungen Männer, denen Pops beigebracht hat, wie man eine Lodge baut und das zeremonielle Feuer entzündet.
Ich erinnere mich an Eriks geehrte, aber doch ängstliche Reaktion auf Pops’ Einladung letzte Woche.
Wenigstens kannst du sicher sein, dass immer, wenn du mit Pops am zeremoniellen Feuer bist, er nichts Negatives zu dir sagen darf. Nur gute Dinge, um das Feuer zu schüren , habe ich Erik gesagt, bevor ich seine roten Apfelwangen küsste.
Pauline ist eine der Jingle-Dress-Tänzerinnen, die um die Trommler und die Sängerinnen tanzen. Das Sting-sting ihrer Zinnkegel erreicht uns auf der Anhöhe. Ich kann Paulines Handgelenk von hier aus nicht sehen, aber ich weiß, dass sie ein Armband trägt, das sie aus bunten Pfeifenputzern selbst gemacht hat. Es passt zu dem Armband, das sie für mich gemacht hat. Sogar Elvis Junior trägt ein Pfeifenputzer-Halsband. Ihr Therapeut hat ihr nahegelegt, alternative beruhigende Aktivitäten zu suchen anstatt ihres zwanghaften Haareausreißens. Das bedeutet auch, dass sie immer Pfeifenputzer zur Hand hat, immer, wenn sie sich verunsichert fühlt. Ihr Tick ist keine Krankheit, die man heilen kann, aber ein Befinden, das sie in den Griff bekommen kann. Pauline führt ein Tick-Tagebuch, macht Yoga, Entspannung durch Atemtechnik, und sie beschäftigt ihre Hände mit Pfeifenputzern, Fidget-Spinnern und Perlenstickerei. Pauline hat tatsächlich ihren ganzen Kinomaage-Bonus auf Material für die Perlenstickerei ausgegeben. Jeder hat 800 Dollar erhalten. Der Tribal Council – ohne Tom Webster, der zurückgetreten ist – hat beschlossen, den Bonus unter allen Praktikanten gleichmäßig aufzuteilen. Sie werden auch das Kinomaage-Programm überarbeiten und den Wettbewerbscharakter unter den Teams überdenken.
Shense ist unter den jungen Frauen, die Quellwasser und traditionelle Gerichte in einem Zelt am Rand zubereiten.
Washkeh ist dieses Wochenende in St. Ignace bei ihrem Daddy. Ihr Lieblingsessen ist Kürbis, die alte Sorte. Ich habe Shense davon gegeben, und sie hat genug gekocht und püriert, um dem binoojii die Wochenendration mitzugeben. Ich habe die Samen getrocknet und gestern welche Washkehs Daddy geschenkt, als ich Shense auf der Fahrt nach St. Ignace begleitet habe. Seine Augen leuchteten, als er davon sprach, nächsten Sommer mit seinem kleinen Mädchen ein Kürbisfeld neben seinem neuen Haus anzulegen.
Washkeh sieht mich immer noch finster an, juchzt aber immer, wenn Elvis Junior ihr Spielsachen bringt.
Mom und Granny June sind unter den Frauen, die die Vorfahren für ihre Rückkehr in die Erde vorbereitet haben. Da Mom keine Kinder mehr bekommen kann, hat sie sich bereit erklärt, die Kleinsten vorzubereiten. Heute tragen die Frauen ihre Regalia und halten die Grabbeigaben unserer Verwandten. Die Karteikarten in den Schaukästen enthielten die Informationen über die jeweils dazugehörigen Grabbeigaben, die mit den Vorfahren ausgegraben wurden. Nicht alle Objekte waren noch vorhanden; in diesen Fällen haben die Frauen aus meiner Community Ersatzobjekte für das Bündel gefertigt. Frank Lockhart hat seine Entscheidung ein weiteres Mal revidiert und wird nun alles dem Tribe überlassen. Ich hätte mir gewünscht, dass er seine Sammlung uns überlässt, weil es das einzig Richtige ist. Es ist offensichtlich, dass er jetzt nach jeder Möglichkeit sucht, Pluspunkte zu sammeln, die ihm bei einer Gerichtsverhandlung helfen werden. Die genauen Angaben auf den Schaukästen brachten auch zutage, welche Überreste nach 1990, nach dem Inkrafttreten des NAGPRA -Gesetzes, genommen wurden. Lockhart hat versucht, einen Deal auszuhandeln, indem er gegen Claire Barbeau und Tom Webster ausgesagt hat.
Aber es war zu spät. Der frühe Vogel fängt den Wurm. Tom Webster hat sich rechtzeitig an seine Mittäterschaft erinnert und ist Lockhart mit einem Deal zuvorgekommen.
Cooper und Stormy leiten die Wiederbestattung. Es ist kein Beerdigungsritual; vielmehr ist es eine Heilungszeremonie. Meine Community hat beschlossen, die Rückgabe unserer Vorfahren an die Erde mit Gesang und Tanz zu feiern. Wir bitten die Vorfahren um Vergebung für das, was ihren Körpern angetan wurde, und wir beten, dass ihr Geist in Frieden ist.
Die Lichtung ist nahe genug, dass ich sehen kann, wie Cooper Stormy etwas reicht. Der Pfeifenträger hält es hoch und jemand an der Trommel antwortet mit vier hohen Schlägen. Aus diesem Winkel ist der Gegenstand so lang wie Stormys Arm. Es sieht aus wie ein braunes Oval an einem Stiel …
Er hält den Schnappschildkröten-Shaker in der Hand.
»Wie …?« Ich drehe mich zu Auntie. Sie lächelt wissend.
»Du kannst dir nicht vorstellen, wie schwer es war, Nein zu sagen, als du mich nach dem Geld gefragt hast«, sagt sie. »Wir sind eine Gruppe, die Coopers Gebote finanziert.«
Bevor ich meiner Tante die fünfzig Fragen stellen kann, die mir unter den Nägeln brennen, zieht Waabun sie an ihrem T-Shirt.
»Mama, können wir dort runtergehen?« Er zeigt auf die Leute unter uns.
Seine Mom kniet sich vor ihn.
»Nein, mein Schatz. Manchmal dürfen Frauen nicht bei Zeremonien dabei sein.«
Waabun verzieht nachdenklich das Gesicht.
»Wenn sie auf dem Mond sind?«
Ich gluckse in meinen Ärmel.
»Wenn sie ihre Mondzeit haben«, verbessert Auntie ihn. »Und auch zu anderen Zeiten.« Auntie und TJ blicken sich an. »Wir helfen unseren Vorfahren heute. Aber ich darf nicht in ihre Nähe kommen, da deine Schwester auf dem Weg zu uns ist. Sie sind auf verschiedenen Reisen.« Sie zeigt mir ein breites Lächeln.
Auntie ist schwanger? Mit einem Mädchen? Ein Blick auf einen strahlenden TJ beantwortet meine nächste Frage.
»Meine Schwester? Wie Snowball?«
»Waabun«, sagt Auntie zärtlich. Sie küsst seinen Handrücken und tut, als würde sie die Hand lecken und sein Gesicht putzen wie eine Katzenmama. Er strahlt. »Keine Katzenschwester. Eine Babyschwester mit Namen Lily Grace. Sie kommt nach Weihnachten.«
»Bekommt Daunis ein Baby?« Teevo schaut seinen Vater an.
»Es wird unser Baby sein.« TJ streckt seine Hand nach Auntie aus.
Kurz bevor ihre Hände sich berühren, huscht ein seltsamer Ausdruck über Aunties Gesicht. Als würde sie sich an einen Traum erinnern. Ihre Augen füllen sich mit Tränen, als sie aufsteht. TJ legt seine Arme um sie.
Ich kann nicht glauben, wie ich das übersehen konnte. Auntie und TJ sind eine Familie.
»Auntie Perry, wirst du auch ein Baby bekommen?«, fragt Waabun.
Ich schlucke. »Holla, Waab. Auf keinen Fall.«
»Warum tanzt du dann nicht mit Auntie Pauline?«
Ich hätte bei Pauline und den anderen Tänzern sein können. Oder bei Shense im Essenszelt. Oder Cooper bei der Organisation helfen. Ich schätze, überall, außer bei den Vorfahren.
»Ich warte, dass noch eine weitere Vorfahrin nach Hause kommt«, sage ich. »Ich muss beweisen, dass sie zu uns gehört. Aber zuerst muss ich die Schule abschließen.«
»Du hast dich für das beschleunigte Programm an der Malcolm eingeschrieben?« Auntie umarmt mich.
Ich weise das unverdiente Lob zurück.
»Nein. Ich bleibe im regulären Programm.« Unsere Blicke treffen sich. »Auntie, ich möchte Zeit zum Angeln und für Erik … und um in Teilzeit mit Cooper zu arbeiten. Ich werde das Warrior Girl nach Hause bringen. Cooper hat mir vom Institute of American Indian Arts in Santa Fe erzählt. Sie bieten einen neuen Studiengang in Museumsstudien an.« Ich drehe mich zu der Community, die gemeinsam unseren Vorfahren bei der weiteren Reise hilft. »Ich könnte das alles im Schnellverfahren durchziehen, aber …«
»… aber du willst dein Leben genießen«, beendet sie den Satz für mich. »Warrior Girl war bereit, sich für ihre Community zu opfern. Sodass andere ein gutes Leben haben können.«
Als Auntie mich umarmt, fühle ich ihren harten Bauch, gefolgt von einem Tritt. Ein winziger Fuß mit viel Power.
»Hier ist eine gewaltige Kämpferin«, sage ich.
»Sie kommt aus einer langen Ahnenreihe von Kämpferinnen.« Auntie reibt sich den Bauch. »Sugar Island ist immer bereit, unsere Warrior Girls zu Hause, wo sie geliebt werden, willkommen zu heißen.«
In meinem Blickfeld sind alle – alle, die ich liebe, meine Community und Ziisabaaka Minising. Wenn ich es sage, klingt es wie ein Gebet.
»Bigiiwen enji zaagigooyin, Ogichidaakwezans. Komm nach Hause, wo du geliebt wirst, Warrior Girl.«