Geheime Zeilen
D ie Migräne, die Audrey den Rest des Wochenendes überfallen hatte, klang erst am Montagvormittag ab. Die Gedanken um den Roman setzten ihr auch körperlich zu. Für den Tag hatte sie sich frei genommen.
„Geht es dir besser?“, fragte ihre Mutter und spähte in ihr Zimmer.
Audrey war ohne schmerzhaftes Pochen bis zum Fenster gekommen und zog die Jalousie hoch. Zwar blendete sie das Tageslicht, ansonsten ging es ihr gut. Erleichtert atmete sie auf. „Ja.“
Ihre Mutter reichte ihr eine Tasse Kräutertee. „Trink den, ist gut für die Seele.“
„Danke, Mom.“
„Du bleibst doch zu Hause heute, oder? Schone dich noch.“
„Mach ich.“ Mit Schrecken dachte Audrey an die Migräneattacken, die sie in den ersten Monaten nach dem Unglück ihres Vaters malträtiert hatten. Dagegen war die letzte harmlos gewesen. Sie nippte an dem Tee und genoss die Wärme, die sich nach dem ersten Schluck in ihrem Magen ausbreitete. „Im Büro habe ich schon angerufen. Warren Lee hat es nett aufgenommen. Winton Folder ist auf Geschäftsreise und danach in Urlaub. Er bekommt es also gar nicht mit. Wusste gar nicht, dass er Ferien machen will.“
„Glaubst du, Folder hätte gesagt, du müsstest dennoch arbeiten? Dein Vater hat immer große Stücke auf ihn gehalten.“
„Ja, ich weiß. Und nein, das wollte ich damit nicht sagen.“
„Ruh dich noch etwas aus, und ich packe schon mal. Übermorgen geht meine Reise los. Und danach sollten wir beide einen gemeinsamen Urlaub planen. Was hältst du davon? Die Karibikinsel, auf der wir das letzte Mal mit deinem Dad gewesen sind, wäre wunderbar. Im Geiste nehmen wir ihn einfach mit.“
Audreys Finger krampfte sich um den Henkel der Tasse. Es war ein fantastischer Urlaub gewesen, der bereits zehn Jahre zurücklag. Ihre Eltern hatten sich die ganze Zeit wie Teenager verhalten. Damals hatte sie es nervig gefunden, im Nachhinein aber witzig. Sie hatten in einer einfachen Hütte gelebt, ganze drei Wochen lang, Fisch gegrillt und das Leben genossen. Am Lagerfeuer hatte ihr Vater ihnen oft Geschichten erzählt und mit ihnen die Sterne gezählt. Dass sie sich dabei immer wieder in die Quere gekommen waren, hatte sie Tränen lachen lassen.
„Ja, wir nehmen in einfach mit, Mom.“
Sie spürte, dass ihre Mutter ernsthaft an sich arbeiten wollte.
Ihre Augen wurden glasig, doch sie straffte die Schultern und nickte. „Zusammen schaffen wir es weiterzuleben. Das Leben wieder zu spüren, Audrey. Danke, dass du da bist.“
***
Audrey zog die unterste Schublade des Schreibtischs ihres Vaters auf, in der sie das letzte Mal nur flüchtig nachgesehen hatte. Jetzt wollte sie intensiver suchen. Nach dem Packen hatte es sich ihre Mutter auf einem Liegestuhl im Garten bequem gemacht und war eingeschlafen. Ihre Antidepressiva ließen sie schnell müde werden.
Der Geruch von altem Holz stieg Audrey in die Nase. Den Schreibtisch hatte ihr Vater einst von seinem Vater geerbt, ein Rechtsanwalt, der seinen Sohn bei seinem Traum, Schriftsteller zu werden, immer unterstützt hatte. Leider war er bereits mit einundfünfzig an einem Blutgerinnsel im Gehirn gestorben. Zehn Jahre später war ihm Audreys großherzige Grandma Virginia gefolgt.
Außer ein paar verblichenen Quittungen und alten Füllfederhaltern fand Audrey nichts. Noch einmal durchstöberte sie die Fächer. Nichts Ungewöhnliches. Als sie aufblickte, starrte sie ihr Vater von einem gerahmten Foto aus an, auf dem sie und ihre Mutter neben ihm zu sehen waren.
„Tut mir leid, Dad. Du weißt, warum ich das mache“, sagte Audrey. Dennoch blieb ein unwohles Gefühl in ihr zurück. Sie kam sich vor wie eine Schnüfflerin. „Moment, unter dem Schreibtisch gibt es ein Geheimfach“, fiel ihr ein.
So geheim war es auch wieder nicht. Ihr Vater hatte es ihr selbst gezeigt. Sein Dad hatte darin angeblich Zigarren versteckt. Seiner Frau hatte er versprechen müssen, mit dem Rauchen aufzuhören, nachdem ihm sein Arzt einen erhöhten Blutdruck diagnostiziert hatte.
Gespannt kroch Audrey unter den Tisch. In der Mitte war eine centgroße Scheibe eingelassen, die sie lediglich einmal um die eigene Achse drehen musste, um das unter dem Holz befindliche Schloss zu entriegeln und herunterzuklappen. Die Klappe hatte ungefähr die Größe eines durchschnittlichen Buchs. Sie griff hindurch, gelangte zu einem Hohlraum, der wiederum so groß war wie ein DIN-A3-Blatt. Tatsächlich konnte Audrey dort etwas tasten. Eindeutig Papier. Als sie es hervorzog, hielt sie ein paar Briefe in Händen. Warum hat er sie dort versteckt?
Sie kroch zurück und stieß sich dabei an der Tischkante den Kopf. „Autsch.“
Der dumpfe Schmerz war gleich vergessen, sobald sie den Absender der drei Briefe las. Allesamt stammten sie von einem Scott Emery aus Ohio. Der Name sagte Audrey nichts. Sie konnte sich auch nicht erinnern, dass ihr Vater ihn jemals erwähnt hatte. Sie ließ sich auf dem Schreibtischstuhl nieder, sortierte die Briefe dem Poststempel nach und zog den ältesten aus dem Kuvert. Das gelbe Briefpapier roch ein wenig modrig. Sie faltete es auseinander.
Sehr verehrter Mr. Richards,
ich schreibe Ihnen in der Hoffnung, dass Sie mir ein paar Schreibtipps geben können. Ich bin ein großer Fan Ihrer Thriller, und das seit dem ersten Roman. Da war ich gerade zehn. Meine Eltern haben es mir damals nicht erlaubt, einen Thriller zu lesen. Aber ich habe auf das Hardcover gespart, ihn heimlich gekauft und wie einen Schatz behandelt. Ich habe ihn immer noch. Zur nächsten Lesung bringe ich ihn mit und hoffe auf eine Widmung. Ich lege Ihnen einen Text bei. Es würde mich überglücklich machen, wenn Sie ihn lesen würden. Es ist das erste Kapitel meines Thrillers. Der halbe Roman ist bereits fertig. Nun habe ich eine Blockade. Kennen Sie das? Wenn ja, was tun Sie dagegen? Vielleicht wäre es auch möglich, Sie einmal privat zu treffen. Keine Angst, ich bin kein verrückter Fan oder dergleichen. Nur ein hoffnungsvoller, unbekannter Autor, der in Ihnen einen Mentor sieht. Danke fürs Lesen. Ich freue mich schon auf Ihre nächsten Werke.
Viele Grüße aus der Kleinstadt Port Clinton in Ohio
Ihr Scott Emery
Ein Brief wie viele, die ihren Vater erreicht hatten. Er hatte stets versucht, jeden einzelnen zu beantworten, bis es überhandnahm, sodass er jeden Tag mehrere Stunden dafür gebraucht hätte. Sofort zog sie Brief Nummer zwei aus dem Umschlag. Emerys Handschrift war klein und schnörkelig. Dennoch nutzte er das gesamte Blatt, was auf einen großzügigen Charakter deutete. Audrey hatte darüber einmal etwas gelesen. Die stark nach rechts geneigte Schrift bedeutete, dass Emery empfänglich für Reize von außen war, impulsiv und spontan, oft sehr leidenschaftlich, aber auch ziemlich reizbar und unbeherrscht. Mehr Deutungen kannte sie nicht, aber die, sollten sie stimmen, waren interessant. Den nächsten Brief hatte er drei Wochen nach dem ersten geschrieben.
Verehrter Mr. Richards,
dass Sie vorsichtig mit Fantreffen sind, kann ich Ihnen nicht verübeln. Dennoch vielen Dank für Ihr Antwortschreiben und die Einschätzung meines Textes. Es freut mich, dass er Ihnen gefallen hat. Die Anmerkungen werde ich beherzigen. Wenn sich die Gelegenheit bietet, können wir nach Ihrer nächsten Lesung einen Plausch halten. Die Blockade hat sich inzwischen gelöst. Danke für den Tipp mit der Musik. Außerdem haben Sie recht. Es schreibt sich wirklich viel besser, kurbelt gleich die kreative Seite des Gehirns an.
In Dankbarkeit
Ihr Scott Emery
Brief Nummer drei war vier Wochen darauf gefolgt.
Sehr geehrter Mr. Richards,
ich hoffe, Sie verzeihen, wenn ich Sie abermals mit meinem Text behellige. Könnten Sie ihn nun, da überarbeitet, noch einmal lesen, wenn Sie die Zeit dazu finden? Ich habe das erste Kapitel verbessert und die darauffolgenden neu geschrieben, da ich im Nachhinein nicht mehr zufrieden damit war. Ich bin mir nun jedoch nicht sicher, ob die Fortführung nicht zu künstlich wirkt. Gerne können Sie Anmerkungen hinterlassen. Das Ergebnis könnten Sie mir ja bei Ihrer Lesung in Chicago übergeben, wenn wir uns dort treffen sollten. Eine Eintrittskarte habe ich bereits. Ich freue mich sehr darauf. Damit bin ich bestimmt nicht allein.
Alles Gute und mit den besten Grüßen
Ihr Scott Emery
Ob sich ihr Vater und dieser Emery jemals getroffen hatten? Noch einmal kroch Audrey unter den Schreibtisch und tastete bis an den hinteren Rand des Fachs. Weitere Briefe schienen dort zu schlummern. Aber es waren nicht nur Kuverts, die sie an Land zog, sondern auch etwas Hartes. Audrey stockte der Atem, als sie auf die Waffe in ihrer Hand starrte. Sie war geladen. Ein heißkalter Schauder überlief ihren Rücken. Schnell legte sie die Pistole zurück, schob Emerys Briefe hinterher und hob die anderen vier Kuverts wieder auf, die sie hatte fallen lassen. Wie sie wusste, besaß ihr Vater nicht einmal einen Waffenschein. Er hasste Waffen. Dass er eine im Haus hatte, machte ihr deutlich, dass er wohl Angst gehabt hatte. Nur vor wem?
Sie besah sich die Kuverts in ihrem Schoß. Allesamt weiße Umschläge. Sie waren, wohl von ihrem Vater, nummeriert worden, von eins bis vier. Die Adresse ihres Vaters war mit blauer Tinte geschrieben worden. Die Kuverts waren bis auf das älteste, anders als diejenigen, die Emery geschickt hatte, unwirsch von ihrem Vater geöffnet worden, als hätte er Wut dabei empfunden. Außerdem trugen sie keinen Poststempel, mussten also abgegeben worden sein. Ein Absender fehlte.
Nachdenklich zog Audrey den ersten Brief heraus. Was ihr sofort auffiel, es war in etwa die gleiche Schrift wie die von Emery, nur dass die Buchstaben aufrechter standen und die Schnörkel beim S und T fehlten.
Hallo Mr. Richards,
ich bewundere Ihre Romane. Gott, das haben Sie bestimmt schon Tausende Male gehört. Aber es ist so. Ich bin ein glühender Fan. Verraten Sie mir Ihr Geheimnis. Ich behalte es auch für mich. Jetzt werden Sie lachen. Doch ich bin ein sehr loyaler Mensch, vorausgesetzt, man ist loyal zu mir. Das verstehen Sie sicher!
Audrey stutze. Diese Zeilen gefielen ihr nicht. Sie kaute auf der Unterlippe und las weiter.
Ich bin ein verdammt guter Autor. Wenn wir uns zusammentun, können wir etwas GROSSES erschaffen. Viel größer als das, was Sie bisher erreicht haben. Na, wie wäre es? Ich erwarte Ihre Antwort in Bälde. Senden Sie diese an die Postfachadresse auf der Rückseite.
Kollegialer Gruß
Ihr X
Da hielt sich jemand für etwas ganz Besonderes, schoss es Audrey durch den Kopf. Sie öffnete rasch den zweiten Brief. Auch auf diesem war kein Datum vermerkt.
Hallo Mr. Richards,
warum eine Absage? Sie haben also genug eigene Ideen, die Sie umsetzen wollen. Sie wollen ja nicht einmal wissen, welche ich habe. Sie sind mir einer. Sie schreiben, ich solle allein Großes erschaffen, und Sie wünschen mir Glück dabei und viel Erfolg. Ich müsse aber noch viel lernen. Heißt das, Sie halten mich für talentfrei? Wie herablassend. Ich möchte Sie treffen. Nur ein Gespräch. Dann erfahren Sie, wer ich bin.
Noch mit freundschaftlichen Grüßen
Ihr X
Lange starrte Audrey auf die Zeilen. Ihre Gedanken waren ein einziges Rauschen. Auf dem nächsten Kuvert hatte ihr Vater eine Anmerkung an den Rand geschrieben: Scott E. evtl. überprüfen lassen. Der Schrift nach hatte Emery den Brief nicht verfasst. Doch sie war eindeutig mit Absicht verändert worden. Mal war sie groß, dann klein, mal geschwungen, dann wieder steif.
Ihr Vater glaubte allem Anschein nach, dass Emery auch die anderen Briefe geschrieben hatte. Trotz des – gewollten – Schriftunterschieds. Ein Beweis? Oder steckte hinter X eine gespaltene Persönlichkeit. Ob er Emery je hatte überprüfen lassen? Und wenn ja, von wem? Sollte sie jede Detektei in Indianapolis und Umkreis befragen? Und was, wenn er auf eigene Faust ermittelt hatte? Audrey schluckte. Das Gedankenkarussell drehte sich immer schneller. Sie schüttelte den Kopf und kam ins Hier und Jetzt zurück, um den nächsten Brief zu lesen.
Mr. Richards,
Sie enttäuschen mich. Keine Antwort mehr! Ich war geduldig. Habe drei Monate gewartet. Sie sind mir ein Treffen schuldig. Ich bin Ihr Fan. Ohne Leute wie mich wären Sie nicht da, wo Sie jetzt sind. Vergessen Sie das nicht!!! Wissen Ihre schöne Frau und Ihre Tochter, wie eiskalt Sie sein können? Denken Sie darüber nach. Ein Termin, ein kurzes Treffen. Was ist schon dabei?
In Erwartung
Ihr X
Mit zitternden Fingern holte Audrey den letzten Brief aus dem Umschlag.
He Richards,
das werde ich Ihnen nie vergessen. Ich würde Sie am liebsten von Ihrem hohen Ross holen. Zeigen Sie die Briefe niemandem. Ich würde es wissen, und dann … Nun gut. Keine Antwort ist auch eine Antwort.
Adieu, Mr. Richards
X
Hatte er danach aufgegeben? Oder hatte er am Ende sogar etwas mit dem Attentat auf ihren Vater zu tun gehabt? Sollte sie die Briefe der Polizei übergeben? Oder interpretierte sie zu viel in die Zeilen eines Spinners und Möchtegernautors? Auf keinen Fall wollte sie, dass ihre Mutter davon erfuhr oder die Öffentlichkeit. Erst einmal wollte sie selbst versuchen herausfinden, was es mit X und Scott Emery auf sich hatte. Wer weiß, dachte sie, vielleicht hat er eine Antwort auf die Frage, wer Gene Hartman ist.