Zeichen
G race schwebte im siebten Himmel. Audrey hatte sich am Donnerstag nach der Arbeit mit ihr auf einen Drink in einer Bar in Fayes getroffen. Sichtlich verträumt schlürfte ihre beste Freundin an ihrem Sex-on-the-Beach-Cocktail. Der Anwalt hatte sie geküsst und wollte alsbald mit ihr ein Wellnesswochenende verbringen. Audrey freute sich für Grace, auch wenn das alles ein wenig zu schnell ging für ihren Geschmack.
„Wir könnten mal zu viert ausgehen. Zwei Pärchen, das …“, schlug Grace vor.
„Grace!“
Audrey schüttelte den Kopf, während ihre Freundin aus ihrer rosaroten Zuckerwattewolke auftauchte und sie mit großen Rehaugen anblinzelte. „Was?“
„Wir sind kein Paar.“
„Kann ja noch werden.“
Audrey war froh, dass sich ihre Wangen ruhig verhielten. Ein Blick aufs Handy zeigte, dass Brian und ihre Mutter ihr eine Nachricht geschrieben hatten. Zu Brians Erleichterung war Warren Lee für den Rest der Woche krankgeschrieben. Ihn hatte wohl eine Sommergrippe erwischt. Obwohl sie gespannt war, was er ihr mitzuteilen hatte, las sie die Nachricht ihrer Mutter aus der Klinik zuerst, in die sie sie gestern begleitet hatte. Hier ist alles so weit prima. Nur die Psychologin ist seltsam. Die scheint selbst ein Problem zu haben. Ich wechsle sie. Sonst komme ich prima klar. Mach dir also keine Sorgen, Kind. Es wird nicht immer leicht sein, aber ich will nach wie vor mein Ziel erreichen. Kuss, Mom.
Audrey antwortete: Kuss zurück. An die großartigste Mom der Welt. Ich bin so stolz auf dich.
Über Brians Nachricht errötete sie. Hi zukünftige Bestsellerautorin. Ich freu mich schon auf morgen Abend. Hole dich um sieben ab. Herzlichst, B.
Sie antwortete: Ich freu mich auch. Bin schon gespannt auf deine Wohnung.
„Simst du ihm gerade?“, fragte Grace und reckte den Kopf.
„Er hat nur geschrieben, dass er sich auf morgen freut. Und Mom, dass es ihr gut geht.“
„Schön.“ Sie grinste von einem Ohr zum anderen.
***
Wieder zu Hause, kehrten die Gedanken an diesen seltsamen Scott Emery und Mr. X zurück und begleiteten Audrey bis in den Schlaf, aus dem sie immer wieder aufschreckte.
Am darauffolgenden Morgen war es ruhig im Büro, sodass sich ihre Gedanken wieder mehr Raum verschaffen konnten. Audrey seufzte. Wurde sie langsam manisch? Vielleicht, beruhigte sie sich, hatte Miller ja recht und Mr. X hatte nach seinem letzten Schreiben tatsächlich aufgegeben. Besser, sie konzentrierte sich auf ihre Arbeit, um nicht verrückt zu werden und später objektiver noch einmal in Ruhe über alles nachdenken zu können. Also machte sie sich daran, die letzten Anweisungen von Warren Lee abzuarbeiten.
Eileen Jackson, eine Lektorin, reichte ihr einen Stapel Manuskripte herein.
„Die sind für Lee, wenn er wieder da ist. Mit meiner besten Empfehlung für die nächste Konferenz.“ Sie zeigte Audrey ihr schönstes Zahnpastalächeln und warf die schwarzen Locken zurück, bevor sie sich umdrehte und wieder hinaus in den Flur stöckelte. Nach ein paar Sekunden kehrte sie jedoch noch einmal zurück und stellte sich vor Audreys Schreibtisch wie ein Model, das im Begriff war, auf den Laufsteg zu gehen. Ihre dunkler Teint schimmerte perfekt samtig, der kurze graue Rock betonte ihre langen Beine.
„Könnten Sie mir einen Gefallen tun?“, fragte sie verschwörerisch.
Audreys Antennen fuhren aus. Vorsicht war geboten. Eileen war eine derjenigen, die gerne lauschte, wenn es um sie ging. Das hatte sie schon zweimal gehört, aber nie etwas erwidert. Wieso nicht? Sie hatte nichts zu verbergen. Eileens Lächeln erreichte ihre Augen nicht. Doppelte Vorsicht.
„Sie könnten Lee ja sagen, dass Sie ebenfalls einen Blick darauf geworfen haben und die Manuskripte gut finden.“
„Das ist nicht mein Fachgebiet. Außerdem …“, erwiderte Audrey.
Eileen schürzte die Lippen. „Aber Sie sind Richards’ Tochter. Lee gibt daher viel auf Ihre Meinung. Vererbte Gene und so. Sie würden den Autoren und mir einen großen Gefallen tun. Oder machen Sie das nur bei männlichen Kollegen? Was verspricht er Ihnen dafür? Einen Kuss oder mehr?“ Ihr Blick wurde dunkler.
Was sollte das? Spielte sie da gerade auf Brian an? „Ich mache so etwas grundsätzlich für niemanden. Und ich sitze hier, weil ich anscheinend gut in meinem Job bin. Jedenfalls gebe ich mein Bestes, Eileen. Wie Sie, nehme ich an. Und jetzt entschuldigen Sie mich. Ich habe zu tun.“
Eileen wollte etwas erwidern, da steckte Brian den Kopf zur Tür herein.
„Auch einen Tee? Zur Abwechslung?“ Er lächelte, was Eileen die Augenbrauen hochziehen ließ, bevor sie sich hüftschwingend an ihm vorbei hinaus aus dem Büro schob.
Perplex schüttelte Audrey den Kopf.
Brians Lächeln verflog, da er ihren ernsten Gesichtsausdruck bemerkte. Rasch kam er zu ihr an den Schreibtisch und stellte den dampfenden Teebecher ab. „Alles okay?“
Audrey seufzte und nickte Richtung Tür, aus der Eileen entschwunden war. „Zickenalarm. Sie denkt, ich verschaffe dir Vorteile.“
Brian verschluckte sich an seinem Tee. „Wie bitte?“
„Ich wusste ja, dass mich hier manche nicht gerade mögen, weil sie denken, ich hätte Vorteile durch Dad, aber das war Hass“, sagte sie.
„Geh zu Folder und sag es ihm“, riet Brian ihr. „Die sollte abgemahnt werden.“
„Nein, so etwas würde ich nie tun. Ich versuche, die Sache zu vergessen.“
„Vergessen?“ Er zog die Manuskripte, die Eileen dagelassen hatte, zu sich heran. „Sind die von ihr?“
„Sie denkt allen Ernstes, ich würde für dich bei Lee ein gutes Wort einlegen, wenn ich dafür einen Kuss oder Sonstiges bekommen würde. Na klar. Ich bin käuflich und bekomme überall grünes Licht, nur weil ich die Tochter eines großen Autors bin. Wenn es nicht so traurig wäre und dreist, würde ich darüber lachen.“
„Einen Kuss kannst du sehr gerne und jederzeit umsonst haben.“
Stille legte sich zwischen sie. Audrey starrte ihn an. Diesmal war er es, der rot anlief.
„Sorry. Das war wieder mal ein Volltreffer in Sachen Fettnäpfchen.“
Sie wusste nicht genau, was sie darauf erwidern sollte. Dennoch gefiel ihr der Gedanke mit dem Kuss. Bloß nichts anmerken lassen, dachte sie und war froh, dass das Telefon klingelte. Sie lächelte und kam sich irgendwie bescheuert vor.
„Wir sehen uns heute Abend? In der Pause kann ich leider nicht. Meine Eltern wollen etwas mit mir besprechen“, sagte er schnell.
Sie nickte. „Dann bis heute Abend.“
Während er zur Tür lief und sie an den Apparat ging, ertappte sie sich dabei, einen Blick auf seinen Po zu werfen. Brian war wirklich gut gebaut. In jeder Hinsicht.
***
Ein letzter prüfender Blick in den Spiegel. Die weiße Jeans saß perfekt und bildete einen fabelhaften Kontrast zu der hellblauen Bluse. Zufrieden stieg Audrey in die roten, bequemen Ballerinas und band sich das Haar zu einem Zopf. Anschließend legte sie ihre silbernen Creolen an und dezentes Make-up auf. Fertig! Nicht zu überkandidelt, sondern lässig und dennoch stilvoll. Das jedenfalls war das Urteil von Grace, der sie ein Spiegelselfie von sich geschickt hatte.
„Noch eine halbe Stunde“, sagte Audrey zu sich selbst und ging in ihrem Zimmer auf und ab. Sie überlegte, eine Flasche Sekt mitzunehmen, entschied sich aber dagegen. Brian konnte ja keinen Alkohol trinken, da er fuhr.
„Oder sollte ich ein Taxi nach Hause nehmen? Vielleicht mag er gar keinen Sekt. Oder denkt, ich wolle ihn betrunken machen und … Nein, kein Sekt.“
Ein wenig kam sie sich vor wie ein Teenager. Ihre Hände wurden feucht, die Minuten zogen sich wie Kaugummi. Sie öffnete das Fenster, atmete frische Regenluft ein und dachte dabei an eine Szene aus ihrem Roman, den sie alsbald weiterschreiben wollte. Das erste Kapitel hatte sie ausgedruckt und in eine Klarsichtfolie geschoben. Brian wäre wohl beleidigt, würde sie ihm heute bei den Probeseiten einen Korb geben und ihn weiter auf die Folter spannen. Im Nebel der Intrigen lag auf ihrem Nachttisch.
Die Zeit würde mit Lesen sicher schneller vergehen, sagte sie sich, umrundete das Bett und nahm das Buch zur Hand. Für einen Moment überzogen Eiskristalle ihren Körper und ließen sie frösteln, wenn sie an die Briefe von Mr. X – alias Scott Emery? – dachte.
Dennoch las sie weiter.
Kapitel 5 – Schatten
Der Wind heulte wie Kojoten um die altersschwachen Holzbretter der Fassade und ließ die Fensterläden klappern. Ernest Bloom wusste, dass er mutterseelenallein war. Allein in diesem Haus in der Wildnis von Vancouver, das voller Erinnerungen steckte. Außer ihm wussten nur seine Frau Emily und sein Sohn von ihrer Oase der Ruhe, wie sie es nannten. Die besaß sogar eine Alarmanlage. Er war hier sicher. Doch anders als erhofft, fühlte er sich nicht so. Im Gegenteil. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt, der Kopf dröhnte, und seine Brust fühlte sich an, als würde darin ein Krieg toben, den sein Herz gegen seine Nerven führte. Ein neuer Plan musste her. Er wünschte sich, seine Frau wäre hier. Die kleine Poetin, wie er sie liebevoll nannte, fehlte ihm. Er wusste, sie glaubte, er war tot. Aber das taten auch seine Gegner, und das sollten sie, bis er eine Lösung gefunden hatte.
„Irgendwann schlage ich eine Brücke zu dir, petit poète“, murmelte er vor sich hin, strich sich über den grauen Bart, der mittlerweile sein Kinn bedeckte, und fasste neuen Mut.
Audrey hielt inne. Das Buch rutschte ihr vom Schoß und fiel mit einem dumpfen Laut zu Boden. Sie starrte darauf. Der Name des Autors brannte sich in ihre Netzhaut.
Petit poète .“ So hatte ihr Vater sie immer genannt.
Sie erinnerte sich an die Worte ihrer Mutter. „Egal wie weit die Wege sind, die uns getrennt, meine Liebe zu dir alle ihr Eigen nennt und Brücken schlägt, die nicht einmal der Tod kennt.“
„O. Mein. Gott!“ Ein Hustenanfall überfiel sie, der sie aufstehen und zum Fenster eilen ließ. Mit zitternden Fingern stützte sie sich am Sims ab und atmete gierig die frische Luft ein und stoßweise wieder aus. Schwindel überkam sie, und zeitweise dachte sie, ihre Knie würden nachgeben. Ihr Magen drehte sich um. Sekunden später spürte sie einen Brechreiz, schaffte es gerade rechtzeitig zur Toilette und übergab sich.