Port Clinton
B
rian wirbelte Audrey herum, als er sie an ihrem letzten Arbeitstag vor dem Urlaub im Flur traf. Ein paar Kollegen und Kolleginnen drehten sich nach ihnen um.
„Brian, lass mich runter. Bitte!“ Audrey war verlegen.
Er folgte ihrem Wunsch sehr gemächlich. „Warren Lee hat zugegeben, dass er sich getäuscht hat. Er hat nun doch ein Manuskript genommen, das ich ihm empfohlen habe. Eines, das ich wirklich äußerst gut fand. Der Autor ist zu beneiden. Er wird ganz groß, und ich habe ihn entdeckt.“ Seine Augen glänzten.
„Wow, das freut mich. Ist es Fänger der Begierde
?“
Sofort wurde Brian ernst. „Ja, woher weißt du das?“
„Ich fand die Leseprobe auch gut.“
„Die du entsorgen solltest, Audrey? Oder hat dich Lee nach deiner Meinung gefragt?“
„Ja. Ich habe nur nebenbei erwähnt, dass ich deine Entscheidung verstehen kann.“
„Hast du?“
Sie nickte und legte die Stirn in Falten, da ihr der Unterton in Brians Stimme seltsam vorkam.
„Dann habe ich es nur dir zu verdanken. Nicht, weil er noch einmal nachgedacht hat und dann …“ Er machte eine Pause.
„Das Wichtigste ist, dass …“
Brian brachte sie zum Schweigen, als er energisch den Kopf schüttelte. „Warum fragt er nicht gleich dich? Die Tochter eines Bestsellerautors und selbst Autorin muss ja ins Schwarze treffen.“
„Wie bitte?“, rief Audrey.
Was für ein dummer Scherz des Schicksals, dass es in ebendiesem Moment Eileen vorbeischickte, die gespannt lauschte und ihre Schritte in Zeitlupentempo verwandelte.
„Das ist nicht wahr!“, widersprach Audrey. „Ich habe lediglich deine Meinung unterstützt.“
„Ach, sie gibt es also zu“, säuselte Eileen und spitzte die Lippen.
Sie drehten sich zu ihr um.
Audrey schüttelte den Kopf. Ihr reichte es. „Glaubt doch, was ihr wollt.“ Mit diesen Worten ließ sie die beiden stehen.
„Mit Vitamin B kommt man überallhin. Daddy lässt grüßen“, stichelte Eileen.
Nein, diese Behauptung konnte sie nicht auf sich sitzen lassen. Abrupt drehte sich Audrey zu ihr um. „Seien Sie still. Brian hat mich nicht überredet, bei Lee ein gutes Wort einzulegen. Ich habe lediglich meine Meinung geäußert, weil ich, unabhängig von Brian, gut fand, was ich gelesen habe. Das ist alles! Bis jetzt habe ich es übrigens auch ohne Vitamin B sehr gut geschafft, und das will ich weiterhin. Denn ich bin ein Mensch, der eigenständig etwas bewerkstelligen will und kann. Dafür nehme ich gerne mal den unbequemen Weg. Aber bitte nicht mit dem verwechseln, den Sie kennen, nicht wahr, Eileen? Keine Sorge, ich bin keine Klatschtante, die Gerüchte in die Welt setzt oder intime Tatsachen ausplaudert.“
Eileen wurde bleicher als die Wand. Sie sagte kein Wort mehr, schluckte nur mehrfach. Sie wusste genau, auf was Audrey anspielte. Es war ungefähr ein Jahr her, dass Audrey Eileen beim Sex mit Harry Pitsy erwischt hatte. Winton Folder hatte lange überlegt, ihn zu seinem Geschäftspartner zu machen, was Eileen enorme Vorteile eingebracht hätte. Nachdem Folder Pitsy einen Korb gegeben hatte, schien sie ihn fallen gelassen zu haben. Ihr war klar, dass Audrey einen guten Draht zu Winton Folder hatte und er ihr daher Glauben geschenkt hätte.
„Audrey, warte!“, hörte sie Brian hinter sich rufen, lief jedoch weiter.
An der Pforte fing er sie ab.
Audrey seufzte.
„Ich bin unverbesserlich“, sagte er.
„Ich glaube es ist besser, wenn ich wieder nach Hause ziehe und …“
Brian hielt sie an beiden Schultern fest, als sie ihren Weg fortsetzen wollte. „Nein, bitte! Ich … Verdammt!“
Sie löste sich von ihm und ging an ihm vorbei.
„Ich sollte lernen, dass es Leute gibt, die an mich glauben, und nicht nur solche wie meinen Vater. Bitte, Audrey, ich war ein Idiot.“
Ihre Schritte wurden langsamer, bis sie ganz stehen blieb. Seine Erklärung klang plausibel, auch wenn sie nach wie vor verletzt war. Andererseits war sie froh, dass sie Eileen die Meinung gesagt hatte und die Lektorin nun hoffentlich endlich ihr vorlautes Mundwerk hielt.
„Eine letzte Chance?“, bat Brian. Sein Atem streifte ihren Hals.
Das Kribbeln, das er in ihr entfachte, ließ sie endgültig weich werden. „Nur noch eine“, gab sie zurück.
***
Audrey nutzte das Wochenende, um ihre Mutter zu besuchen, die bei ihrem letzten Telefonat durcheinander geklungen hatte. Brian bereitete unterdessen alles für ihren Rechercheausflug nach Port Clinton vor, für den Audrey bereits vorgepackt hatte. Gleich am Montag wollten sie aufbrechen. Die Klinik, ein Komplex aus mehreren weißen Gebäuden, war umgeben von einem Park mit Bänken und geteerten Wegen, die sich zwischen frisch gemähtem Rasen, Blumen und Bäumen schlängelten. Ihre Mutter empfing Audrey in der Cafeteria, in einer stilleren Ecke. Audrey bemerkte sofort, dass sie müde aussah.
„Hallo, Mom. Wie schön, dich zu sehen.“
Ihre Mutter breitete die Arme aus und schloss sie fest um sie. Mit beiden Händen strich Audrey ihrer Mutter über den Rücken. Es schien ihr, als würde ihre Mom sie gar nicht mehr loslassen wollen.
„Hallo, mein Kind.“
„Alles in Ordnung?“ Audrey ließ ihrer Mutter Zeit und hielt sie weiter fest, bis die ein Stück zurückwich, gleichzeitig aber ihre Hände suchte und sie auch noch festhielt, als sie sich gegenüber an den runden Tisch setzten.
„Ich habe es niemandem erzählt.“ Sie schaute sich um.
Das Flackern in ihrem Blick entging Audrey nicht.
„Vielleicht liegt es an der Entwöhnung. Oder an den Tabletten“, fügte sie hinzu.
„Was meinst du damit, Mom?“
Ein junger Mann kam zu ihnen an den Tisch, um ihre Bestellung aufzunehmen.
„Sie haben hier gute Eisschokolade“, meinte ihre Mutter.
Kurzerhand bestellte Audrey zwei und widmete sich ihr wieder ganz, sobald der Kellner weg war. „Mom?“
Ihre Mutter zögerte.
„Was hast du?“
Ihre Mutter sah sie eindringlich an. „Halte mich aber bitte nicht für verrückt. Das tue ich langsam selbst.“
„Solange ich nicht weiß, was passiert ist …“
„Er ging einfach so vorbei. Etwa dreißig Yards von mir entfernt. Meine Augen sind noch gut, das weißt du. Der letzte Sehtest war einwandfrei. Ich habe auch keine Kalkablagerungen im Gehirn. Doktor …“
„Mom, wer ist vorbeigegangen?“, unterbrach Audrey sie.
Ihre Mutter schluckte. „Monty!“
Was? „Du meinst … Dad?“ Audreys Stimme kippte.
„Er hat direkt zu mir hergesehen. Für zwei, drei Sekunden haben sich unsere Blicke getroffen.“
„Und dann?“, fragte Audrey. Sie konnte spüren, wie sich ihr die Nackenhaare aufstellten und sie bleich wurde.
„Dann bin ich aufgestanden. Dabei war mir, als würde mich jemand hochziehen und antreiben. Wie in Trance bin ich ihm gefolgt. Er ist nicht stehen geblieben. Ich habe seinen Namen gerufen. Dann ist er schneller gelaufen und um eine Ecke verschwunden. Eine Schwester hat mich eingeholt. Ich habe sie gefragt, ob sie den Mann gesehen habe, der … Sie hat verneint.“ Sie umfasste Audreys Hände fester und beugte sich ein wenig nach vorne. „Ich werde doch nicht verrückt, Kind? Oder er war es wirklich. Dann wäre er aber stehen geblieben, nicht wahr?“
„Ganz sicher“, murmelte Audrey. Ihre Gedanken rasten.
Tränen stiegen ihrer Mutter in die Augen. „Ich habe ihn noch einmal gesehen. Als Engel, der er ganz sicher ist. Vielleicht wollte er mich besuchen, um mich bald …“ Sie brach ab, aber Audrey wusste genau, was sie meinte.
Sie stand auf, umrundete den Tisch und umarmte ihre Mutter. Ihr Herz zog sich zusammen. „Ich brauche dich, Mom. Wenn er es wirklich war, als Engel, meine ich, dann wollte er dir bestimmt Mut machen.“
Audrey entschied, mit dem behandelnden Arzt über die Sache reden. Ihre Mutter musste es ja nicht erfahren. Gleichzeitig wollte sie an das glauben, was sie ihr gerade offenbart hatte. Möglicherweise war er wirklich da gewesen. Nein, ihre Mom hatte recht, dann wäre er nicht wieder verschwunden, oder?
„Das stimmt. So habe ich es gar noch nicht gesehen“, sagte ihre Mutter kaum hörbar.
Audrey setzte sich zurück an ihren Platz, als der Kellner ihre Getränke servierte. Ein Lächeln schlich sich auf die Lippen ihrer Mutter. Sie hatte sich beruhigt.
„Und irgendwann“, fuhr sie fort, „werden wir alle wieder zusammen sein.“ Ihr Blick glitt in die Ferne. Dann fügte sie nachdenklich hinzu: „Oder er kehrt vorher zurück, wie durch ein Wunder.“
Audrey rührte schweigend mit dem Löffel in ihrer Tasse.
„Er würde das, was du geschrieben hast, sicher genauso wunderbar finden wie ich, Kind.“
„Du magst es also?“ Audrey wurde verlegen.
„Ich liebe deinen Stil. Du musst mir unbedingt bald das nächste Kapitel schicken. Ich lege jetzt den Turbo ein, was die Fortschritte anbelangt.“
Audrey musste lachen. So gefiel ihr ihre Mutter schon viel besser, auch wenn sie nicht vergessen würde, was sie ihr erzählt hatte.
Dr. Fitzgerald, der sich nach dem Besuch zu einem Gespräch mit Audrey in seinem Büro bereit erklärte, versprach ihr, gegenüber ihrer Mutter Stillschweigen zu bewahren. Audrey wollte ja nur das Beste für sie.
„Sie macht gute Fortschritte. Natürlich gibt es Tiefpunkte. Aber dann sind wir da und fangen sie auf. Und sie hat Sie. Das ist ganz wichtig. Sie weiß, dass Sie sie nie im Stich lassen würden.“
„Ich sollte doch öfter vorbeikommen.“
„Nein, das haben wir besprochen. Es ist gut so, wie es ist. Sie braucht Zeit für sich, um zu sich selbst zurückzufinden. Was die Sache mit Ihrem Vater anbelangt … Es ist keine Seltenheit, dass der Entzug Halluzinationen hervorruft.“
„So real?“ Audrey war erstaunt.
„Ja, es wundert mich nicht. Machen Sie sich keine Sorgen, Miss Richards. Ihre Mutter ist auf einem sehr guten Weg. Sie kann stolz auf Sie sein, und Sie können es auch.“
Audrey erhob sich. „Vielen Dank für das Gespräch, Doktor Fitzgerald.“
„Wenn Sie Fragen haben, können Sie sich jederzeit an mich wenden.“
Sie nickte. „Danke.“
„Dafür bin ich da.“ Zum Abschied schenkte ihr der Arzt einen festen Händedruck und ein warmes Lächeln.
***
Nach einer ruhigen Fahrt erreichten Audrey und Brian Port Clinton, als die Sonne im Zenit stand. Ihre Strahlen heizten den Innenraum des delfingrauen Ford Mustangs, den sie sich in Indianapolis gemietet hatten, gehörig auf.
„Wir sollten die Klimaanlage einschalten“, sagte Audrey und tupfte sich Schweißperlen von der Stirn.
„Noch fünf Meilen bis Port Clinton.“
Die ebene Landschaft mit ihren Laubwäldern und Maisfeldern zog an ihnen vorbei. Fünf Minuten später tauchte in einer Kurve eine schwarze Kutsche mit zwei grauen Pferden davor auf. Brian drosselte das Tempo. Der Kutscher, ein älterer Mann mit Hut, drehte sich um und winkte sie vorbei. Als Kind hätte Audrey ihn wegen seines weißen Rauschebarts, der ihm bis zur Brust reichte, mit dem Weihnachtsmann verwechselt.
„Das ist wohl einer von den Amischen“, bemerkte Brian.
„Faszinierend. Als wäre er aus einer anderen Zeit oder wir gerade in einer früheren gelandet.“
„Stimmt.“
Audrey warf einen Blick in den Rückspiegel. Ihr Vater hatte über diese Leute einmal in einer seiner Geschichten geschrieben. Das Völkchen lebte wie vor zweihundert Jahren, ohne jegliche Anpassung an die Zivilisation. Kein TV, kein Handy … Aber auch innerhalb der Amischgemeinden gab es unterschiedliche Ansichten in Bezug auf das Leben, wie Audrey von ihrem Vater erfahren hatte. Demnach gab es liberale, die ihren Mitgliedern das Fahren von Autos oder Traktoren erlaubten. Nur mussten die Fahrzeuge schwarz lackiert sein, in der Hauptfarbe der Amischen. Warum, das hatte Audrey vergessen.
„Du hast übrigens nicht viel vom Besuch bei deiner Mutter erzählt.“ Wie kam Brian gerade jetzt darauf?
„Ich bin froh, dass es ihr gut geht“, erwiderte Audrey.
„Schön.“ Er warf ihr einen Seitenblick zu und lächelte.
„Das Krankenhaus gleicht mehr einem Hotel. Mom ist oft im Park. Sie hat auch schon neue Bekannte. Frauen in ihrem Alter, die auch da sind, weil … Du weißt schon.“
„Das freut mich sehr für sie. Das nächste Mal kann ich gerne mitkommen.“
***
Audrey drückte ihm einen Kuss auf die Wange.
„Port Clinton, da sind wir“, murmelte Audrey und warf einen Blick aus dem Fenster des Hotels, in das sie eingecheckt hatten. Es lag am Rand der Stadt und besaß eine eigene Tiefgarage. Die blaue Fassade war neu gestrichen. In den Zimmern war es stickig, weshalb Audrey das Fenster öffnete und Frischluft hereinließ. Sie hatten sich für ein Doppelzimmer entschieden. Das Bett war weich. Audrey setzte sich auf die Matratze und hörte ein verräterisches Quietschen. Brian zog die Brauen nach oben und stellte ihr Gepäck ab.
Audrey wurde rot. Sie war sich sicher, dass er in diesem Moment das Gleiche dachte wie sie.
„Hunger?“, fragte er, vielleicht auch, um sie aus der peinlichen Situation zu befreien.
Doch Audrey war viel zu aufgeregt. Endlich hatten sie die Stadt auf der Marblehead-Halbinsel erreicht, auf der Scott Emery hoffentlich ein paar brauchbare Spuren hinterlassen hatte.
***
„Das da vorne muss es sein.“ Audrey bat Brian anzuhalten und deutete auf das etwa hundert Yards entfernte Haus in der Bricklane. Sie nahm ein ausgedrucktes Foto des Anwesens, das der Detektiv ihrem Vater geschickt hatte, aus dem Rucksack und zeigte es Brian.
„Und da wohnt nun dieses Ehepaar. Silver, richtig?“
„Ja“, bestätigte sie.
„Gut, aber ich würde ihnen gegenüber nicht zu viel erwähnen. Man weiß nie, wem man trauen kann, Audrey.“
Sie nickte. Brian fuhr bis zur Einfahrt, stellte den Motor ab und stieg aus, gefolgt von Audrey. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Blaue Holzläden zierten die Fenster. An der Veranda hing eine Bankschaukel. Der Garten dagegen sah weniger gepflegt aus. Bevor sich Audrey ein paar Worte zurechtlegen konnte, klingelte Brian bereits.
„Ich wollte eigentlich besprechen …“, sagte sie, da hörten sie Schritte, als würden sie erwartet werden.
„Wir kriegen das schon hin“, erwiderte Brian gedämpft und reckte das Kinn.
Eine ältere Frau mit grauem Haar, das sie zu einem Dutt zusammengebunden hatte, öffnete und schenkte ihnen ein strahlendes Lächeln. Audrey schätzte sie auf siebzig. Ihre Augen waren winzig hinter der Brille, die viel zu groß für ihr zierliches Gesicht war. Obwohl es warm war, trug sie eine graue Strickjacke über ihrer weißen Bluse und eine dicke schwarze Stoffhose, dazu weinrote Pantoffeln.
„Oh, Besuch. Hallo!“ Ihre piepsige Stimme klang freundlich.
„Wer ist denn da, Josi?“ Die tiefe männliche Stimme drang aus dem Inneren des Hauses zu ihnen.
„Sie wünschen?“, fragte die Frau.
Brian überließ Audrey das Wort. „Guten Tag. Ich bin Audrey Rich… Rich aus New Jersey. Mein … Freund und ich haben nur eine Frage an Sie.“
„Hallo“, sagte Brian, ohne seinen Namen zu erwähnen.
„Ja, also, welche Frage denn?“, wollte die Frau wissen.
„Wir kaufen nichts, hörst du, Josi?“ Höchstwahrscheinlich war es Mr. Silver, der aus dem Hintergrund seinen Senf dazugab.
„Ja. Nein. Wir kaufen nichts“, wiederholte Mrs. Silver, deren Hände zitterten, als sie sich am Türrahmen festhielt und weiter lächelte.
„Wir wollen nichts verkaufen, Mrs. Silver“, versicherte Audrey.
Nun erschien der Herr des Hauses aus dem Schatten des Flurs, gestützt auf einem Stock. Seine Frau überragte er trotz seiner gebückten Haltung um mindestens zwei Köpfe. Wie sie trug er eine graue Jacke zu einer ebenso grauen Stoffhose.
„Hallo, wir kaufen nichts“, beharrte er. „Jeden Tag klingelt ein Vertreter. Nun kommt ihr schon zu zweit.“ Er hob drohend den Stock.
Brian schob sich schützend vor Audrey. „Wir haben nur eine Frage zum Vorbesitzer dieses Hauses. Das ist alles.“
„Wir wären Ihnen sehr dankbar, wenn Sie uns weiterhelfen würden“, schaltete sich Audrey wieder ein und trat vor.
Mr. Silver schloss zu seiner Frau auf und musterte sie eindringlich. „Zu Scott Emery haben wir keinen Kontakt, tut uns leid.“
„Willst du sie nicht erst einmal hereinbitten, George?“, fragte seine Frau lächelnd. Die Falten, die sich dabei um ihre Augen bildeten, sahen aus wie kleine Zweige.
„Wenn Sie wirklich keine Vertreter sind, dann meinetwegen.“
„Versprochen“, beteuerte Audrey.
Der Mann nickte ihr zu, und zum ersten Mal lächelte er verhalten.
Das Ehepaar führte sie den dunklen Gang entlang, der voller Erinnerungen war in Form von gerahmten Fotos an den Wänden. An der vorletzten Tür auf der rechten Seite hielten sie inne. Mr. Silver ließ seiner Frau den Vortritt.
Die Silvers baten sie ins Wohnzimmer, das vom monotonen Ticken einer alten Standuhr aus Eichenholz erfüllt wurde. Die Einrichtung erinnerte Audrey an die ihrer Großmutter mütterlicherseits, die sie als Kind manchmal in Auburn, Kalifornien besucht hatte. Leider war sie vor ein paar Jahren gestorben. Auch sie hatte gehäkelte Decken auf Tischen und Schränken geliebt. Zwei alte Porzellanpuppen saßen in der Ecke der geblümten Couch. Auf dem ovalen Glastisch stand eine dickbäuchige Vase mit gelben Lilien, die einen süßlichen Duft verbreiteten. Die Silvers nahmen auf der einen Seite des Sofas Platz, Audrey und Brian in höflichem Abstand. Brian knetete die Finger.
„Was möchten Sie denn wissen? Viel ist es allerdings nicht, was wir Ihnen über Scott Emery sagen können“, ergriff Mr. Silver das Wort.
Seine Frau nickte. „Aber nett war er. Und gut aussehend.“
Audrey musste schmunzeln, da Mrs. Silver ihr zuzwinkerte. Die alte Lady war forscher, als es anfangs den Anschein gemacht hatte.
„Tatsächlich?“, bemerkten Brian und Mr. Silver gleichzeitig.
Josi Silver kicherte wie ein kleines Mädchen über den Anflug von Eifersucht ihres Mannes. Audrey lächelte zu Brian hinüber, der allerdings keine Miene verzog.
„Du bist mir eine“, sagte Mr. Silver.
„Ach, George. Du weißt, wer mein Traummann auf diesem Planeten ist.“
Zufrieden lächelte er, als er auf sich zeigte und sie nickte. Wie lange die beiden wohl schon ein Paar waren? Sicher Jahrzehnte. Bemerkenswert, dass das Feuer zwischen ihnen offensichtlich immer noch hell loderte.
„Wissen Sie zufällig, wohin er gezogen ist?“, erkundigte sich Brian.
„Das wissen wir nicht“, gab Mr. Silver zurück.
„Das stimmt“, bestätigte seine Frau. „Er hat damals mit uns den Vertrag gemacht, und als alles abgeschlossen war, haben wir ihn nicht mehr gesehen. Natürlich wollten wir auch nicht neugierig sein und nachfragen, wohin es ihn verschlägt.“
„Kannten Sie ihn von früher?“, fragte Audrey und lächelte der gutmütigen Frau zu.
Das Ehepaar schüttelte die Köpfe.
„Wir haben vorher in Michigan gewohnt“, erzählte George Silver. „In einem großen Haus am See. Hier in Ohio haben wir früher manchmal Urlaub gemacht. Waren Sie schon am Leuchtturm oder am See? Es lohnt sich.“
Josi stimmte ihm zu. „Wunderschön, wie am Michigansee. Aber hier fühle ich mich inzwischen richtig heimisch. Die Nachbarn sind nett, das Haus ist nicht zu groß, viele ebene Wege.“
„Das freut mich für Sie“, bemerkte Audrey.
„Ja, wir haben das Verkaufsschild durch Zufall bei der Durchfahrt entdeckt und sofort angehalten. Scott Emery war uns von Anfang an sympathisch.“ Josi Silver nickte ihrem Mann zu. „Wollen Sie etwas trinken?“, fragte sie dann.
Audrey und Brian verneinten dankend.
„Und Ihnen ist nichts Seltsames an ihm aufgefallen?“, wollte Brian wissen.
„Nein. Er war höflich, wirkte ehrlich. Er hat uns sogar jeden Mangel gezeigt. Er hatte nichts zu verheimlichen. Sagen Sie, sind Sie etwa von der Polizei? Ist …?“ Josi Silver wurde bleich, ihr Mann rückte näher an sie heran.
Brian wollte etwas erwidern, Audrey kam ihm jedoch zuvor. „O nein, nein. Wir sind nicht von der Polizei. Wir müssten ihn nur in einer dringenden Angelegenheit sprechen. Das ist alles.“
„Tut uns leid, dass wir Ihnen nicht weiterhelfen können“, entgegnete George Silver und hielt die Hände seiner Frau. Das Bild erinnerte Audrey sofort an ihre eigenen Eltern. Sie bekam einen Kloß im Hals.
Sie erhob sich und reichte ihnen die Hand. „Vielen Dank trotzdem. Und alles Gute Ihnen beiden.“
„Ihnen auch“, gab Mrs. Silver zurück. „Gott sei mit Ihnen.“
Brian gesellte sich zu ihnen. „Emery wollte angeblich ganz neu anfangen nach dem Tod seiner Eltern. Die haben doch hier gewohnt, richtig?“, unterbrach er die Verabschiedung.
„Darüber hat er nicht mit uns gesprochen, was wir gut verstehen können“, antwortete George Silver. „Wir haben erst später von den Nachbarn davon erfahren.“
„Kennen Sie jemanden, der mehr über ihn wissen könnte?“, fragte Brian weiter.
Die beiden verneinten.
„Lass gut sein“, bat Audrey und schob ihn weiter.
Das Ehepaar begleitete sie bis zur Tür.
„Ach, da fällt mir noch etwas ein“, warf Josi Silver ein.
Brian und Audrey wandten sich nach ihr um.
Sie tippte sich mit dem Zeigefinger an die Lippen und deutete auf ihren Mann. „Hat Amelie nicht einmal etwas über Scott Emery gesagt? Dass er da, wo er nun sei, glücklicher wäre als an einem Ort, in dem nur viele Schwätzer lebten?“
George Silver verengte nachdenklich die Augen. „Stimmt. Das war, als Bruce und sie sich gestritten haben. Das muss wegen ihm gewesen sein.“
„Wer sind Amelie und Bruce?“, fragten Audrey und Brian wie aus einem Mund.
„Amelie und Bruce Dexter. Ein junges Ehepaar, seit fünf Jahren verheiratet. Bruce hat seiner Frau wohl einen Flirt mit Scott angedichtet. So hat es sich jedenfalls angehört. Die beiden streiten häufig. Sie können nicht mit, aber auch nicht ohne einander.“ Mr. Silver seufzte.
„Ah okay“, murmelte Brian.
„Vielleicht fragen Sie Amelie mal. Aber sagen Sie nicht, dass wir Ihnen den Tipp gegeben haben. Die Kleine hat Haare auf den Zähnen“, bat er.
„Versprochen, Mister Silver“, entgegnete Audrey.
Das alte Ehepaar winkte ihnen, bis sie im Mietwagen saßen und davonfuhren.
„Sie waren so nett. Und so glücklich. Das ist beeindruckend. Ich meine, sicher sind sie schon lange zusammen. Meine Eltern wären auch bis zum Ende …“, sagte Audrey, schaffte es aber nicht, den Satz zu beenden.
„Aber vielleicht wäre es gut gewesen, wenn du mehr nachgedacht hättest.“
Für einen Moment verschlug es Audrey die Sprache.
„Ich meine, als sie gefragt haben, ob wir von der Polizei seien, da hättest du doch einfach Ja sagen können“, fügte Brian hinzu.
„Und wenn sie nach dem Ausweis gefragt hätten?“
Er zuckte mit den Schultern und bog in eine Seitenstraße. „Dann hättest du improvisieren müssen. Deinen Führerschein kurz hochgehalten. Wie in einem Krimi.“
„Aha.“
Anscheinend ziellos kurvte Brian im Schneckentempo durch ein Wohngebiet. Oder suchte er etwas Bestimmtes? Außerdem verstand Audrey seine Vorhaltung nicht.
„Wir haben einen Hinweis, dem wir nachgehen können. Anscheinend weiß diese Amelie, wo er ist.“
„Trotzdem“, entgegnete Brian gekränkt.
Audrey schwieg und lehnte sich im Beifahrersitz zurück. In den nächsten Minuten sprachen sie nicht miteinander. Dann zückte sie ihr Handy und gab Amelie und Bruce Dexter
sowie Port Clinton
in die Suchmaschine ein. Adresse und Telefonnummer erschienen binnen weniger Sekunden.
„Volltreffer!“, rief sie.
***
„Was tust du da, Brian?“, fragte Audrey und ließ sich auf seinem Schoß nieder.
„Das siehst du doch, lesen.“
„Ich wusste gar nicht, dass du den Roman eingepackt hast.“
Er legte Hartmans Buch neben sich aufs Bett, auf dessen Kante er saß, und massierte Audreys Nacken. Genüsslich schloss sie die Augen und versuchte dabei, den Thriller und alles um sich herum wenigstens für ein paar Minuten zu vergessen.
„Du bist ziemlich verkrampft. Wir sollten hierblieben und uns entspannen.“
Dabei wollten sie noch einmal probieren, Amelie Dexter telefonisch zu erreichen. Da die Silvers sie vorgewarnt hatten, waren sie nicht einfach bei ihr vorbeigefahren.
„Und was hast du dir vorgestellt?“, fragte Audrey und stöhnte auf, als er seine Finger tiefer in ihre Haut grub.
„Zuerst küsse ich dich, versetze jede Faser in dir in Ekstase. Dann hole ich den Laptop und lass dich schreiben. Nackt, wie Gott dich erschaffen hat. Dazu male ich dich. Block und Kreide habe ich dabei. Und danach bekommst du eine weitere Massage. Und anschließend die volle Packung Ekstase. Alles kostenlos. Na, wie klingt das?“
„Verlockend, mehr als das.“
„Also dann.“
„Und Amelie?“
„Läuft uns schon nicht davon.“ Stürmisch warf er sie aufs Bett.
Bevor sie etwas erwidern konnte, küsste er sie.