Amelie
„
D
as Bild ist wunderschön. Aber bin ich wirklich so dünn?“ Audrey legte den Kopf schief, da schnappte Brian ihr das Blatt vor der Nase weg und legte es zurück in seine Zeichenmappe. Bewahrte er darin etwa die künstlerischen Ansichten all seiner Ex-Freundinnen auf? Zu gern hätte sie gespickt.
„Wie fühlt sich dein Nacken an?“, wollte Brian wissen und wählte ein schwarzblaues Jackett zu Bluejeans und blauem Hemd. Dann ging er ins Bad.
Audrey erhob sich und folgte ihm. „Deine Verwöhnkur hat Wunder bewirkt, danke.“
„Ich danke dir.“ Er zwinkerte, rieb etwas Gel zwischen die Finger und verteilte es in seinem Haar.
Draußen wurde es langsam Abend. Audrey lächelte, ging zurück und entdeckte das Buch, das Brian vorhin aus dem Bett gekickt hatte. Das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht, als sie es aufhob. Sollte sie noch einmal darin lesen?
„Hast du etwas Merkwürdiges entdeckt?“
Erschrocken fuhr sie herum. Brian stand direkt hinter ihr.
„Gott, musst du dich so anschleichen, Brian?“, stieß sie hervor.
Brian verzog die Mundwinkel. „Ich dachte, meine Fettnäpfchenzeit wäre vorbei.“
Unfreiwillig musste sie lachen. Kurzerhand schnappte er sich das Buch, setzte sich auf die Bettkante und drehte es ein paarmal hin und her, als würde er erwarten, dass etwas herausfiel.
Audrey nahm es ihm ab und blätterte zu ihrer letzten Lesestelle. Die Buchstaben brannten sich in ihre Augen und beschleunigten ihren Puls. Ihr Atem ging stoßweise. „Du hast recht. Ich muss es weiterlesen.“
„Das habe ich nicht gesagt, ich habe nur gefragt.“
„Indirekt hast du es. Es … macht mir nur Angst“, erwiderte Audrey.
Brian trat zu ihr, während sie sich in die Seite vertiefte. „Erst einmal sollten wir essen gehen und versuchen, Amelie zu erreichen.“
***
Nachdem Audrey mit ihren Nachbarn zu Hause telefoniert hatte, um sich zu vergewissern, dass dort alles ruhig war, verließ sie mit Brian das Hotel. Vom Restaurant aus, in das sie wenig später einkehrten, hatten sie einen wundervollen Blick auf den See mit seinen Anlegestellen und den vor Anker liegenden Booten. Die Krönung für Audrey aber war das Lighthouse auf der anderen Seite. Ein weißer Leuchtturm, der über Port Clinton und die Umgebung wachte. In das Abendblau des Himmels mischte sich der rotorangefarbene Schein der untergehenden Sonne und verlieh der Stadt einen Hauch Magie. Hier hätte es ihrer Mutter und ihrem Vater sicher auch gefallen. Die dunklen Gedanken kehrten zurück.
„An was denkst du?“, fragte Brian über den Tisch auf der Veranda des Restaurants hinweg. Seine Augen glänzten wie nasse Perlen.
„An meine Eltern und diese zwei Worte: Lass es!“, gab sie zu.
Brian sagte nichts, griff nach ihren Händen und drückte sie mitfühlend. „Sollen wir es noch einmal bei Amelie versuchen? Du lässt dich doch nicht von zwei Worten abschrecken. Falls wirklich etwas Seltsames an der Sache dran ist – und seltsam ist so einiges, wie wir wissen –, dann finden wir es heraus. Schritt für Schritt. Nicht aufgeben.“
Audrey atmete tief durch. „Probier es.“
Er reichte ihr das Handy. „Ich habe die Nummer unterdrückt.“
„Ich soll? Aber nach der Sache mit der Polizei dachte ich …“
Brian winkte ab. „Ich vertraue dir, du machst das alles fabelhaft. Mir sind nur die Nerven durchgegangen.“
„Also gut.“ Audrey nahm das Telefon und hielt es sich ans Ohr. Die nächsten Gäste saßen mehrere Tische entfernt. Wenn sie nicht zu laut sprechen würde, würden sie sie nicht verstehen. Nach dem dritten Rufzeichen nahm jemand ab.
„Dexter.“
„Amelie Dexter?“, fragte Audrey.
„Ja. Wer ist denn da?“ Die Stimme klang genervt und ungewöhnlich tief für eine Frau.
„Audrey Rich.“
„Ja und?“
Audrey stieß hörbar Luft durch die Nase. „Ich wollte Sie nur etwas fragen.“
„Soll das eine Quizshow werden? Gibt es auch was zu gewinnen?“ Wollte sie witzig sein?
„Nein. Es geht um Scott Emery.“
Stille am anderen Ende der Leitung. Nur Amelies Atem war zu hören, schnell und stoßweise.
„Wer sind Sie, verdammt noch mal? Und was wollen Sie von Scott?“, echauffierte sie sich schließlich, sprach jedoch leiser. Anscheinend war jemand in der Nähe. Vielleicht ihr Mann.
„Ich muss Ihnen etwas Wichtiges sagen“, versuchte sie, Amelie neugierig zu machen. Brian zeigte einen Daumen nach oben.
Erneutes Schweigen, diesmal kürzer.
„Von Scott? Hat er es sich anders überlegt? Wer sind Sie überhaupt?“
Audrey ging nicht darauf ein. Ihr Blick fing den Leuchtturm ein. „Können wir uns treffen? Am Leuchtturm.“
„Können Sie mir nicht am Telefon sagen …?“
„Nein, das geht nicht.“
Amelie war völlig aufgewühlt. „Okay, meinetwegen. Aber wehe, das ist eine Falle.“
„Ist es nicht.“
„Wann?“
„Gleich, wenn es passt.“
„Heute geht es nicht mehr. Und morgen kann ich erst abends, gegen halb neun. Bis acht Uhr hab ich Schicht in der Fabrik“, erklärte Amelie, „kann aber eine Stunde früher Schluss machen.“
„Verstehe.“
„Also?“, fragte die junge Frau.
„Ja, dann bis morgen, Amelie.“
Ohne ein weiteres Wort legte Amelie Dexter auf.
***
Nach dem Essen hatten Audrey und Brian noch einen Spaziergang am See gemacht, dessen Wasser im Sternenlicht glitzerte. Danach hatte es sie ins Hotel gezogen. Audrey konnte es kaum erwarten, Amelie zu treffen. Die Frau war ein Rätsel. Doch sie würde nicht aufgeben, bis sie es gelöst hatte. Wieder dachte Audrey an all die Dinge, die sie entdeckt hatte. Und wieder fiel ihr Blick auf das Buch. Obwohl sich ihr Magen verkrampfte, wie jedes Mal, schlug sie es auf. Wie ein Stück Blei lag es in ihrer Hand. Was hast du noch zu verbergen?, fragte sie stumm und fixierte eine Zeile an der zuletzt aufgeschlagenen Seite.
„Ich hatte eigentlich etwas anderes vor“, raunte Brian und beugte sich von hinten über die Couch, auf der sie Platz genommen hatte.
Audrey wandte den Kopf und sah sein Grinsen. „Später.“ Sie zwinkerte.
Er küsste sie. „Überredet.“ Rasch kletterte er über das Sofa und ließ sich neben ihr nieder. „Ich lese mit, wenn du erlaubst.“
Das war ihr sogar recht, seine Anwesenheit gab ihr Sicherheit. Brian Gomery wurde mehr und mehr zu ihrem Fels in der Brandung. Sie konnte ihm nicht genug dafür danken.
Audrey rückte das Buch in ihre Mitte. Jeder Satz ließ Adrenalin in ihre Adern schießen. Die Geschichte von Ernest Bloom wurde zur Suche nach der Wahrheit. Die Seiten flogen nur so dahin. Fesselnd geschrieben, in zweierlei Hinsicht. Und urplötzlich schlug es wieder zu, dieses Gefühl, dass das alles kein Zufall sein konnte, sondern sich mehr und mehr zur Gewissheit wandelte. Brian bemerkte, dass sie sich versteifte und für Sekunden aufhörte zu atmen.
„Hast du etwas gefunden, das …?“ Er schluckte, als sie mechanisch nickte.
Sie lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Zeilen, zwischen denen sie zu ertrinken glaubte, wie die Frau im Roman. Erst Minuten später konnte sie in Worte fassen, welche Textstelle sie derart aufwühlte. Jene, in der sich Ernest Bloom an den Beinahe-Tod seiner geliebten Frau erinnerte. Einmal wäre sie fast ertrunken, weil er unaufmerksam gewesen war. Sie trieb rücklings unter der Wasseroberfläche, die blauen Augen weit aufgerissen. Er hätte sich nie verziehen, wäre er zu spät gekommen. Und das wollte er auch jetzt nicht.
„Ich … ich habe blaue Augen“, hörte sich Audrey stammeln, und ihr war, als wäre es eine Fremde, die sprach.
„Das ist alles? Deswegen …?“
„Nein.“ Sie schüttelte den Kopf.
„Was noch?“, fragte er ungeduldig, da sie starr auf die Zeilen blickte.
Erst als er sie am Arm berührte, fiel sie aus der Vergangenheitsschleife zurück ins Hier und Jetzt. „Er hat mich einmal vor dem Ertrinken gerettet. Wir waren in einer Lagune schwimmen. Als unsere Haut langsam schrumpelig wurde, wollte er eine Pause. Auch weil er außer Atem war. Das hätte er natürlich nie zugegeben. Ich wollte aber bleiben, also zog er allein an den Strand, schrieb dort und verlor sein Zeitgefühl. Wie so oft beim Schreiben. Ich erinnere mich, dass ich einen höllischen Krampf bekam und in Ohnmacht gefallen bin. Ich weiß bis heute nicht, was da eigentlich mit mir los gewesen ist. Meine Eltern haben mich danach ins Krankenhaus geschleift. Die Ärzte haben mich sogar in die Röhre geschoben, fanden jedoch nichts Auffälliges. Ich war Dad nicht böse, es ist ja nichts passiert. Er aber hat es sich nie verziehen, das weiß ich.“
Brian stand auf und trat ans Fenster, den Rücken ihr zugewandt. „Doch es ist seine Frau, die im Roman beinahe ertrinkt, nicht du.“
„Trotzdem, es muss einen Grund haben. Alles andere ist haargenau beschrieben, hör zu. Sie trug diese Spange im Haar. Rosa mit silberfarbenen Streifen, die er so an ihr liebte. Die Sonne verfing sich darin, ließ sie aufblitzen wie ein Alarmsignal.
“ Mit Sicherheit hatten ihre Eltern nie jemandem davon erzählt, oder? Zumindest ihre Mutter konnte sie danach fragen. Mit zitternden Fingern schnappte sie sich ihr Handy.
„Was tust du?“, wollte Brian wissen und warf ihr einen Blick über die Schulter zu.
Rasch erklärte sie es ihm, während sie die Nummer wählte.
Bevor das erste Rufzeichen erklang, kam Brian zu ihr und nahm ihr das Handy ab. „Das würde sie sicher nachdenklich machen. Besonders um die Zeit, findest du nicht?“
„Stimmt“, musste Audrey zugeben. „Ja, daran habe ich nicht gedacht.“
Brian ging vor ihr in die Hocke. „Besonnenheit, das ist sehr wichtig in dieser Situation.“
Ihre Blicke versenkten sich ineinander.
„Du hast recht, Brian.“
Er warf das Telefon zur Seite und setzte sich wieder zu ihr.
„Lesen wir weiter“, sagte Brian und zog das Buch auf ihre Beine.
Aber Audrey konnte nicht mehr, nicht mehr heute. Eine bleierne Müdigkeit überkam sie. Dennoch wusste sie, dass sie nicht würde schlafen können. Brian blieb bei ihr und nahm sie in die Arme. Schon allein seine Nähe half ihr, nicht durchzudrehen.
***
Kurz nach Mitternacht war Brian eingeschlafen. Behutsam schlug Audrey die Decke zurück, nahm Hartmans Buch und ging leise zum Fenster. Der Vollmond spendete genug Licht, sodass sie die Buchstaben gut erkennen konnte. Sie musste weiterlesen. Fahrig blätterte sie eine Seite nach der anderen um. Manchmal überschlugen sich die Worte in ihrem Kopf, ergaben nichts als Chaos. Dann legte sie den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und versuchte sich zu sammeln, um wieder ganz bei der Geschichte zu sein und weitere Puzzleteile zu finden.
Langsam näherte sich Im Nebel der Intrigen
dem Ende. Blooms Sohn wurde von seinem eigenen Vater enttarnt, der angesichts dieser Tatsache völlig am Boden zerstört war. Hilfestellung hatte Jonathan außerdem von einem einflussreichen Freund aus der Sekte erhalten, der bisher im Hintergrund geblieben und mit dem er in den letzten drei Kapiteln intim geworden war. Audrey hielt sich eine Hand vor den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken, sobald der Name fiel: Scott Wood. Als hätte sie sich daran verbrannt, glitt ihr das Buch aus den Fingern und fiel mit einem dumpfen Poltern auf den Teppich. Audrey sah nach Brian. Augenscheinlich schlief er weiterhin tief und fest. Mit weichen Knien schlich sie ins Bad, hielt sich am Waschbecken fest und blickte in den Spiegel. Ihr Gesicht war fast so weiß wie die Kacheln. Schweißperlen standen auf ihrer Stirn. In einer Endlosschleife wiederholte sich dieser Name in ihrem Kopf: Scott Wood. Scott Wood. Scott Wood. Ein Hinweis auf Scott Emery?