Das Geheimnis am Leuchtturm
„
D
er Vorname kann Zufall sein, das weißt du. Es gibt seltsame Zufälle.“ Brian versuchte, ihr am nächsten Tag das Mittagessen, Backfisch mit Kartoffeln, schmackhaft zu machen, indem er ihr einen Bissen unter die Nase hielt.
„Nein, danke.“ Sie blickte zur Seite. Von dem Restaurant, in dem sie saßen, hatten sie einen herrlichen Blick auf einen Park.
„Aber seltsam ist es schon, das stimmt“, fügte er hinzu und aß weiter.
„Mehr als seltsam.“ Ein Blick auf die Uhr ließ sie seufzen. Die Stunden bis zum Abend schienen sich endlos zu ziehen.
„Du solltest schreiben. Du sagtest selbst, dabei vergeht die Zeit wie im Flug.“
„Daran kann ich überhaupt nicht denken, Brian.“
„Dann solltest du wenigstens etwas essen. Du bist so blass.“
„Was, wenn man meinen Dad tatsächlich gezwungen hat, den Roman zu schreiben? Wenn sich dieser Scott Emery als Hartman ausgibt? Dass mein Vater versteckte Hinweise gestreut hat, falls er den Roman tatsächlich verfasst hat, ist das seinem Entführer hoffentlich in seinem Wahn nicht aufgefallen. Aber was, wenn dieser Wahnsinnige Dad nicht mehr braucht und vorhat, ihn zu töten?“, sinnierte Audrey laut.
„Oder ihn schon getötet hat. Oder, oder, oder“, gab Brian zu bedenken.
„Herrgott noch mal, ich werde noch verrückt, wenn ich nicht bald Klarheit habe“, sagte sie, was ihr im nächsten Moment schon wieder leidtat.
„Wenn er noch lebt, finden wir ihn. Aber vorher – Besonnenheit, Audrey. Wenn Scott der Entführer ist, müssen wir vorsichtig sein. Dann ist er zu allem fähig.“
Sie begann, auf ihren Fingernägeln zu kauen.
„Ich weiß, dass es schwer ist, ruhig zu bleiben. Doch alles andere lässt uns Fehler machen. Du machst mich ganz nervös, Audrey, bitte!“ Er langte über den Tisch hinweg und drückte ihre Hand.
Vielleicht war es gut, dass just in diesem Augenblick Audreys Handy klingelte. Es war Grace. Dabei fiel ihr ein, dass sie ihre Mutter hatte anrufen wollen.
„Grace, hallo.“ Audrey versuchte, sorglos zu klingen.
Brian aß unterdessen weiter und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. Grace schwebte nach wie vor auf Wolke sieben, wenn nicht höher, und wünschte Audrey das Gleiche.
Es war schön, ihre Stimme zu hören, es erdete Audrey wieder, wenngleich sie froh war, dass Grace keine verfänglichen Fragen stellte. Anders als ihre Mutter, die sie gleich danach anrief.
„Warum willst du wissen, ob noch jemand davon weiß, dass du einmal fast ertrunken wärst? Oder ob jemand den Kosenamen kennt, den dein Vater für dich hatte?“
„Ist mir einfach so eingefallen“, erwiderte Audrey vage.
„Den Kosenamen kennen ganz gewiss nur wir. Und ich habe nie jemandem von dem Unfall erzählt. Und soweit ich weiß, dein Dad auch nicht, nicht einmal im Krankenhaus. Es war ihm sowieso unangenehm genug, dass er durch das Schreiben Zeit und Raum vergessen hat. Und es hätte ja nichts geändert. Ich habe ihm nie einen Vorwurf gemacht. Es ist dir einfach so wieder eingefallen? Hattest du einen Unfall?“
„O nein, Mom. Mir geht es fabelhaft, Brian ist hier.“
„Richte ihr Grüße von mir aus“, flüsterte er.
„Beste Grüße von ihm.“
„Das freut mich, vielen Dank. Die gebe ich gerne zurück. Und dir geht es wirklich gut, Kind?“
„Natürlich.“
„Ich meine ja nur. Diese Frage und der Unterton in deiner Stimme, als würde dich irgendetwas quälen, Audrey.“
„Das täuscht. Wie geht es dir?“
„Ich denke an mein Ziel und vor allem an dich. Das hilft mir, den Entzug durchzustehen. Und ich habe nach deinem Dad Ausschau gehalten. Leider habe ich ihn nicht gefunden. Dachte ich mir schon. Der Gentleman hatte wohl nur große Ähnlichkeit mit ihm, denn eine Halluzination lass ich mir nicht aufschwatzen.“
Audrey lächelte mit Tränen in den Augen. „Ich hab dich lieb, Mom.“
„Ich dich auch, Kleines. Melde dich bald mal wieder. Und vergiss nicht, mir das nächste Kapitel zu senden.“
„Das mache ich.“
Nach dem Telefonat schob Audrey das Handy zurück in die Tasche und berichtete Brian.
„Wenn sie recht hat, ist auch das eigenartig“, erwiderte er und nippte an seinem Glas Sprudelwasser. Sein Blick richtete sich in die Ferne.
„Sie klang fest überzeugt, Brian. Ich glaube ihr, dass sie sich sicher ist.“
„Ja, und du kennst sie besser als ich, Audrey. Entschuldige.“
***
Rotorangefarbenes Licht fiel auf die zerrupften Wolken auf dem zartblauen Himmel, der langsam der Nacht entgegenblinzelte. Der renovierte Leuchtturm thronte auf großen Steinen, den See im Blick. In der Nähe wehte eine amerikanische Flagge an einem Mast im Wind. Ein paar Möwen zogen darüber hinweg. Eine steinerne Treppe führte zum Eingang des Leuchtturms. Vielleicht, dachte Audrey, konnten sie vor ihrer Abreise einen Blick über das grün gestrichene Geländer der rundumlaufenden Aussichtsplattform werfen.
Ungeduldig sah sich Audrey um. Der geteerte Weg, den sie genommen hatten, war menschenleer.
„Hoffentlich hat sie es sich nicht anders überlegt“, sagte sie gedämpft.
Brian saß auf einer der Steinplatten und zog sie neben sich. „Sie kommt bestimmt. Es ist erst kurz vor halb.“
Audrey atmete aus und nickte. In ihren Ohren begann es zu rauschen.
Dann, zehn Minuten später, erschien eine dunkle, dünne Gestalt in der Ferne. Die Schritte waren zögerlich, sie reckte den Hals. Das musste sie sein. Auch Brian hatte sie entdeckt und stand auf.
„Gehen wir ihr ein Stück entgegen?“, fragte Audrey im Gehen.
Brian folgte ihr. Die zierliche Frau mit dem hellen Teint und dem rabenschwarzen, langen Haar, das ihr wirr über die zarten Schultern hing, blieb ein paar Schritte entfernt von ihnen stehen und musterte sie. Audrey und Brian waren ebenfalls stehen geblieben. Amelie Dexter besaß grünbraune Augen, unter denen sich dunkle Schatten abzeichneten. Sie knetete ihre Hände. Der schwarze Jumpsuit war zu groß, die weißen Turnschuhe abgenutzt.
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Miss Rich?“
Audrey nickte.
Dann wanderten Amelies Augen zu Brian. „Und wer ist das?“
„Mein Freund“, antwortete Audrey.
Amelie blieb skeptisch. „Also, wer sind Sie?“
Audrey fiel es schwer, erneut zu lügen. Die Situation machte es allerdings notwendig. „Wir sind Bekannte von Scott.“
Amelie blinzelte. „Hat er Sie etwa geschickt?“
„Ja“, warf Brian ein.
Die junge Frau schluckte und trat ein paar Schritte näher. „Warum?“
Audrey räusperte sich. Die Hoffnung, die in ihren Augen aufflackerte, war unübersehbar.
„Wir sind auf der Durchreise. Da hat er uns gebeten, Ihnen Grüße auszurichten. Er wollte wissen, wie es Ihnen geht“, sagte Audrey und überraschte sich selbst.
Amelie sah skeptisch drein. „Wie es mir geht? Das interessiert ihn? Wieso?“
„Wieso nicht?“, entgegnete Audrey.
Amelies Augen verengten sich. „Weil … weil er mich nie wiedersehen wollte.“
Audrey überlegte fieberhaft, wie sie Amelie dazu bringen konnte, mehr über Scott preiszugeben, vor allem, ob sie tatsächlich wusste, wohin er gezogen war.
„Hat er Ihnen nicht von unserem Streit erzählt?“, fragte Amelie.
„Nein, er meinte nur, er sei bereit, Ihnen zu verzeihen“, erwiderte Brian schnell.
Die Augen der jungen Frau weiteten sich. Sie begann zu lächeln. „Ich wusste es“, sagte sie mehr zu sich selbst. „Aber, Moment, er könnte mich doch einfach anrufen. Meine Nummer hat er ja.“
„Vielleicht hat er sie verlegt“, schlug Audrey vor.
„Sie steht im Telefonbuch.“ Amelie war nicht dumm. Ihre Skepsis war zurückgekehrt, was deutlich an ihrer Miene und ihrer Haltung abzulesen war. „Sie kennen ihn gar nicht, stimmt’s? Das letzte Mal, als ich ihn getroffen habe, sagte er, ich wäre für ihn gestorben. Er würde mir die Polizei auf den Hals hetzen und meinem Mann alles beichten, wenn ich es wagen sollte, ihm noch einmal nach Chicago nachzureisen auf sein verdammtes Boot.“
Chicago also. Das war einfacher gewesen als gedacht. Audrey jubelte innerlich. Jedenfalls für einen Moment.
Denn Amelie trat näher und zog urplötzlich ein Klappmesser. „Wer seid ihr wirklich?“
Brian stellte sich vor Audrey. „Ganz ruhig. Er war also ein Schuft, der Ihre Liebe nicht erwidert hat.“
„Scott ist ein Verräter. Er wollte nur seine Eitelkeit an mir stillen, weiter nichts. Hat er das etwa bei dir auch versucht? Warst du seine Bitch, Audrey Rich?“, rief sie. Plötzlich stürzte sie sich wie eine Furie auf Brian. „Er ist gefährlich, Audrey Rich. Sehr gefährlich!“ Dann raunte sie Brian zu: „Pass gut auf sie auf, wie immer du heißt.“
Audrey zog ihn von ihr weg. Es war nicht notwendig, weiter den Helden zu spielen. Die Frau schien verrückt zu sein.
Dennoch machte er zwei Schritte auf sie zu, während er Audrey bat, weiter zurückzugehen. „Volltreffer!“, rief er.
Hilfe suchend blickte sich Audrey um. Noch immer war niemand zu sehen. Die Dämmerung senkte sich über den See, was der Situation eine zusätzliche unheimliche Note verlieh.
„Was meinst du?“ Amelies Stimme zitterte.
„Wir sind auf der Suche nach ihm. Er hat versucht, meiner Freundin auf heimtückische Weise den Kopf zu verdrehen“, log Brian, „nur um sie dann wegzuwerfen. Als wäre sie ein Spielzeug.“
Audrey sah an Brian vorbei, der beide Hände hob, um der jungen Frau zu signalisieren, dass er unbewaffnet war.
„Wir suchen nach ihm. Er hat eine Lektion verdient“, fuhr Brian fort.
„Wirst du ihn um die Ecke bringen?“, zischte Amelie.
„Das habe ich nicht gesagt“, erwiderte Brian.
„Nein, natürlich wird er das nicht“, ging Audrey dazwischen.
„Das letzte Mal habe ich ihn auf seinem Boot gesehen. In Chicago, am Pier. Er hat ein schickes Boot namens Marsha
. Wohl auch eine, bei der er seine Eitelkeit gestillt hat. Obwohl er seine Eltern verloren hat, und das auf so schreckliche Weise, bedeutet das nicht, dass er einen Freifahrtschein für alles hat.“ Sie spuckte Brian direkt vor die Füße.
Audrey schüttelte es. Amelie konnte durchaus recht haben. Der Tod seiner Eltern konnte Emery skrupellos gemacht haben oder noch skrupelloser, als er anscheinend ohnehin schon gewesen war.
„Wann war das? Ich meine, wann haben Sie ihn zuletzt dort gesehen?“, erkundigte sich Brian.
„Vor einem halben Jahr. Die ersten Male, als ich ihn besucht habe, war er normal. Hat mich getröstet, weil ich oft weinen musste. Scheißehe. Aber beim letzten Mal hat er mich rausgeworfen. Scott hat mich nur benutzt … Er kann mich mal! Endgültig.“ Sie fuhr sich mit der Messerklinge andeutungsweise über die Kehle und stieß ein Lachen aus, das Audrey das Blut in den Adern gefrieren ließ.
„Komm, Brian“, bat sie leise. „Lass uns gehen. Wir wissen genug.“
Brian nickte. „Wir werden eine gerechte Strafe finden. Auch in Ihrem Sinne.“
So schnell wie möglich wollte Audrey hier verschwinden.
„He!“, rief Amelie ihnen hinterher.
Brian ergriff Audreys Hand. Beide sahen sich nach Amelie um, die wie ein Kampfhund in der Dämmerung stand, das Messer nach wie vor in der Hand.
„Ich will erfahren, wie die Rache gewirkt hat. Ihr wisst ja, wo ihr mich findet.“
Brian zeigte ihr einen Daumen nach oben.
***
Gleich am nächsten Morgen waren sie nach Chicago aufgebrochen, um keine Zeit zu verlieren. Die Schwüle des Tages drückte auf sie hinab. Brian kühlte sich die Stirn an einer Flasche Wasser. Sie checkten in der Nähe des Navy Pier ein. Nachdem sie Port Clinton hinter sich gelassen hatten, hatte Audrey zum ersten Mal seit dem Treffen mit Amelie Dexter wieder richtig durchatmen können.
„Sie hat sich benommen wie jemand, der von einem Dämon besessen ist. Andererseits hatte sie etwas Zerbrechliches, das Mitleid in mir hervorruft.“ Und Audrey an ihre Mutter erinnerte.
„Eine Verrückte, wenn du mich fragst. Gut, dass sie unsere richtigen Namen nicht kennt.“
„Vielleicht ist dieser Scott Emery wirklich so, wie sie ihn beschrieben hat und … Wenn er hinter allem steckt, dann ist er der Dämon“, schlussfolgerte sie.
Ihre Schritte wurden schneller, während sie sich dem Pier näherten. Milder Abendwind hüllte sie ein. Vermutlich hätten sie Marsha
und Scott längst gefunden, wären sie nicht durch eine Autopanne aufgehalten worden. Der Pier, gesäumt von Souvenirläden und Fastfoodrestaurants, war brechend voll. Holzbänke luden zum Verweilen ein. Menschen aller Hautfarben strömten ihnen entgegen. Die Aussicht auf die Skyline war atemberaubend. Audrey hatte jedoch keinen Blick dafür. Vom Ufer des Michigansees drang Jazzmusik zu ihnen. Audrey rieb sich die Fingerspitzen. Brian reckte den Hals. Viele Boote von Privatbesitzern, die hier anlegten, trugen einen Namen.
Cindy
, Michigan Dreams
, Exot
, First Love
, Patsy
und so weiter. Doch keines davon wollte Marsha
sein.
„Vielleicht prangt der Name nur nicht am Boot“, meinte Brian und seufzte, als sie die Reihen abgelaufen waren.
Audrey schüttelte den Kopf. „Wäre ja zu schön gewesen.“
Beruhigend legte Brian einen Arm um sie. „Vielleicht haben wir es übersehen.“
Sanft küsste er ihren Nacken. Diesmal blieb das Kribbeln allerdings aus. Zu sehr war sie darauf fokussiert, Scott Emery zu finden und damit endlich Licht in den Tunnel zu bringen, der sich tief in ihr Leben gegraben hatte wie ein Krebsgeschwür.
Brian wich enttäuscht zurück.
Sie umarmte ihn und legte den Kopf an seine Brust. „Ich bin müde“, murmelte sie.
Sie war sich sicher, dass Brian es auch war. Dennoch ließ er es sich nicht anmerken, versuchte, ihr stattdessen neuen Auftrieb zu geben. Woher nahm der Mann nur seine Kraft?
„Wir finden den Mistkerl.“ Er zog sie mit sich den Weg zurück.