Umwege
B
loomington – beschaulich, umgeben von malerischen Wäldern, Seen und Farmen, besonders geeignet für Outdoorfans. Dem Foto nach war Scott Emery einer davon. Es gab drei große Seen. Anscheinend zog das Wasser Emery an. Laut dem Angebot hatte er sich am Lake Lemon für ein Ferienhaus interessiert, das er für längere Zeit mieten wollte. Der riesige See lag ruhig da, als sie einen Tag später gegen zwei Uhr mittags dort ankamen. Eingerahmt von Wäldern, Wiesen und Häuschen war er gut besucht, aber nicht überlaufen. Weiße Wolkenbänke spiegelten sich im Blau des Wassers.
Über Samuel verloren sie kein Wort mehr, nachdem Brian sie aus seinen schmierigen Fingern gerettet und ihr danach eine Standpauke über ihre Unvorsichtigkeit gehalten hatte.
„Dem Angebot nach liegt das Haus westlich, durch Bäume von den Nachbarn getrennt. Also müssen wir dorthin“, murmelte Brian und streckte eine Hand in besagte Richtung aus.
Ihre Schritte wurden langsamer, je weiter sie sich dem Ziel näherten, Audreys Puls beschleunigte sich. Ein paar Boote waren auf dem See zu sehen. Menschen tummelten sich an den Anlegestellen, wirkten unbeschwert. Kinder lachten. Das Herz schlug Audrey so laut in der Brust, dass sie glaubte, Emery müsste es hören können. Eine Windbö drückte sich ihnen entgegen, als wollte sie sie aufhalten. Kein Zurück. Sie mussten es durchziehen. Der Boden unter ihren Füßen wurde steinig. Ein schmaler Pfad schlängelte sich an alten Platanen vorbei, die wie Wächter neben dem Haus standen, das jetzt zum Vorschein kam.
„Das muss es sein“, sagte Audrey, und für einen Moment schnürte es ihr die Luft ab.
Ein weißes Bretterhaus mit Terrasse auf einer Anhöhe. Eine hölzerne Treppe mit Geländer führte zum Eingang. Der Hügel war mit wilden Gräsern und Blumen bewachsen. Hier und da steckten ein paar mondförmige Solarleuchten im Boden. Das Haus sah wenig gepflegt aus. An der Fassade blätterte an einigen Stellen Farbe ab. Das Holz des Aufgangs war verwittert, genau wie die Veranda. Dennoch versprühte es einen gewissen Charme. Zumindest auf den ersten Blick und wenn man die mysteriöse Geschichte dazu nicht kannte.
Brian zog Audrey weiter und legte einen Arm um ihre Schultern.
„Was ist, Brian? Warum …?“
„Weil wir uns auffällig verhalten sollten. Nur mal schauen. Wir sind schon näher dran, als gut ist“, sagte er im Flüsterton, als würden sie belauscht werden.
An der Veranda hatten sie eine Kamera entdeckt. Das bedeutete, Emery war vorsichtig. Wenn er etwas zu verbergen hatte, war das kein Wunder. Audreys Anspannung stieg. War er es, der hinter dem Roman steckte? Der bei ihnen eingebrochen war, um seine Spuren zu verwischen? Der mehr wusste, viel mehr? Lebte ihr Vater noch? Oder hatte er ihn damals erpresst, sein Manuskript gestohlen und ihn anschließend umgebracht oder umbringen lassen? Es gab so viele Möglichkeiten, so viele unglaubliche Möglichkeiten, dass Audrey schwindelig wurde und sie einen Augenblick stehen bleiben musste, um Luft zu holen und wieder klar denken zu können. Sie hatten sich einige Schritte vom Haus entfernt und standen am Ufer des Sees. Am liebsten wäre sie hineingesprungen, um sich abzukühlen.
Brian ging neben ihr in die Hocke. „Ist dir nicht gut?“
Sie winkte ab. „Geht gleich wieder.“
„Ich weiß, das ist alles viel für dich, vielleicht zu viel. Es reicht für heute, du brauchst Ruhe.“
Erneut winkte sie ab. „Bloß nicht. Meine Gedanken kreischen, je ruhiger es wird. Ich fürchte, es wird immer schlimmer. Ich werde bleiben und das Haus beobachten.“
Brian verstand. „Okay, aber aus der Ferne. Fürs Erste.“
„Fürs Erste.“ Sie verengte die Augen und blickte zu dem Ferienhaus, in dem Scott Emery ein dunkles Geheimnis bewahrte.
***
Allmählich verschwand die Sonne, ein orange funkelnder, auslaufender Ball, hinter dunklen Baumspitzen. Die Dämmerung verlieh dem See eine gespenstische Aura. Brian hatte Jacken und Sandwiches aus dem Wagen geholt, den sie weiter weg geparkt hatten. Wieder hielt er sich das Fernglas vor die Augen, das um seinen Hals baumelte. Ihr Versteck war gut. Hinter einem Busch, rund dreißig Yards von Emerys neuer Unterkunft entfernt. Ihn selbst hatten sie bisher nicht zu Gesicht bekommen. In dem Carport neben dem Haus parkte ein weißer Buick. Der Wagen musste seiner sein. Licht brannte in zwei Fenstern der Südseite. Audrey verharrte geduldig, ihr Puls hatte sich noch immer nicht beruhigt.
„Ich glaube, ich kriege gleich wieder einen Krampf“, sagte Brian und musste sich strecken.
Audrey starrte gebannt auf das Ferienhaus. Wie ein Adler fokussierte sie das Gebiet, in dem sie Beute witterte.
„Verdammt, ich brauche mein Magnesium. Audrey?“
Sie fasste nach seinem Bein, ohne den Blick abzuwenden. „Ich massiere dich.“
„Das allein wird nichts bringen. Heute wird er das Haus sowieso nicht mehr verlassen, da bin ich mir sicher. Morgen früh kommen wir wieder her. Wir müssen ein wenig Schlaf bekommen, um wieder fit zu werden.“
„Ich kann nicht weg“, erwiderte Audrey.
„Was soll das heißen? Du willst allein hierbleiben?“
Sie nickte. „Wenn du es allein zurück ins Hotel schaffst, dann …“
Energisch schüttelte er den Kopf. „Dann bleibe ich auch. Ich lasse dich auf keinen Fall hier im Dunkeln zurück.“ Die Zähne zusammenbeißend, ging er wieder neben ihr in die Hocke.
„Brian, bitte …“
Diesmal war er es, der abwinkte, ein lautes Aufstöhnen aber nur halb unterdrücken konnte. Audrey spürte, dass sich ihr Gewissen regte. Seine Schmerzen waren offensichtlich schlimmer als das letzte Mal.
Sie erhob sich. „Okay, ich komme mit.“
Sie griff ihm unter die Arme, er ließ es zu, das Gesicht schmerzverzerrt. Ein letztes Mal sah sie zum Haus. Das Licht hinter den Fenstern war erloschen.
Am darauffolgenden Tag liehen sie sich in aller Frühe ein Ruderboot, mit dem sie auf den See hinausfuhren und einen guten Blick auf das Haus hatten. Der Buick stand noch oder wieder im Carport. Audrey zückte das Fernglas, als sich die Haustür öffnete. Sie hielt vor Aufregung die Luft an.
„Das ist er, ganz sicher“, murmelte sie und versuchte, ihre Hände ruhig zu halten, was ihr nur mäßig gelang. Ruhig atmen, ruhig atmen, sagte sie sich.
Durch das Fernglas hatte sie das Gefühl, nur die Hand ausstrecken zu müssen, um Emery berühren zu können. Am liebsten hätte sie die Wahrheit aus ihm herausgeschüttelt. Irgendwie schaffte sie es sitzen zu bleiben, presste das Glas fester an die Augen, als könnte sie ihn dadurch noch besser erkennen. Er trug ein schwarzes Hemd, das er offen gelassen hatte. Seine Brust war leicht beharrt. Das wellige schwarze Haar, von dem ihm ein paar Strähnen in die Stirn fielen, war länger geworden, fast schulterlang. Er trug helle Jeansshorts.
Mit federnden Schritten ließ er die Treppe hinter sich und bückte sich. Um etwas aufzuheben? Nein, er band sich die Schuhe. Anschließend machte er ein paar Dehnübungen und joggte dann am Seeufer entlang. Es hatte den Anschein, Emery würde direkt zu ihnen herüberschauen. Wenn es tatsächlich so war, dann nur für ein, zwei Sekunden.
„Lass mal sehen“, bat Brian.
Audrey reagierte erst, als er seine Bitte wiederholte, und reichte ihm das Fernglas. Ihre Augen folgten Emery und kehrten schließlich zurück zum Ferienhaus.
„Ich muss da rein“, sagte sie und griff nach den Rudern.
„Was? Nein!“ Brians Ton duldete keinen Widerspruch.
„Ich muss zumindest näher ran und durch die Fenster spähen.“
„Das ist …“
„Du hältst Wache.“
Brian hob beide Hände. „Okay, aber ich übernehme das. Du hältst Wache.“
„Glaubst du, ich könnte das nicht?“
Er rollte mit den Augen. „Doch, Audrey, aber sieh dich an, du zitterst ja jetzt schon wie Espenlaub.“
Schon zog sich Brian das weiße Shirt vom Oberkörper. Seine Sneakers folgten. Die schwarze kurze Hose behielt er an. „Trocknet wieder.“
Es war ein heißer, schwüler Tag. Auch Audrey sehnte sich nach einer Abkühlung, allerdings anderer Art. „Sei vorsichtig.“
Brian hielt inne und küsste sie auf die Stirn. „Bin ich. Wenn er zurückkommt, gibst du mir ein Zeichen. Ruf einfach laut nach … nach einer Justine, in Ordnung?“
„Ja, in Ordnung. Und … danke.“
Er lächelte und machte sich zum Sprung bereit.
***
Audrey kaute auf den Fingernägeln und hielt sich immer wieder das Fernglas vor die Augen. Brian näherte sich dem Haus von der Seite, sicherlich wegen der Videoüberwachungskamera. Hätte sie daran gedacht, wenn sie an seiner statt gegangen wäre? Wahrscheinlich zu spät. Audrey ließ den Blick am Ufer entlangschweifen. Die Luft blieb rein. Brian war inzwischen, sportlich wie er war, auf die Veranda geklettert und nahm sich das erste Fenster vor. Audrey biss sich auf die Innenseite der Wange und schwenkte das Fernglas abermals am Ufer entlang. Immer noch nichts. Gut, sehr gut. Brian inspizierte unterdessen das nächste Fenster. Audreys Kopfhaut begann zu prickeln. Was sah er? Was lag hinter dem Haus? Als hätte Brian sie gehört, ging er die Fassade entlang bis zum Ende und verschwand um die Ecke zur Rückseite des Hauses. Die Jalousie des rechten Fensters auf der Vorderseite war zu drei Vierteln zugezogen, sodass es in Kombination mit dem Nachbarfenster aussah, als würde ihr Emerys Unterkunft höhnisch zuzwinkern.
Als sie erneut durch das Fernglas schaute, blickte sie Emery direkt in die Augen. Audrey riss den Feldstecher herunter und atmete stoßweise. Der Mann hielt inne, sah noch einmal zu ihr herüber. Audrey musste sich bewegen und so tun, als würde sie sich überhaupt nicht für ihn interessieren. Also nahm sie das Fernglas demonstrativ wieder hoch und lugte in die entgegengesetzte Richtung. Unauffällig blickte sie in Emerys, der weiter joggte und sich noch einmal zu ihrem Boot umdrehte. Es war Zeit, Alarmstufe rot.
„Justine! … Justine! … Justine!“
Ihre Stimme klang voller Panik, als würde sie nach einer Ertrinkenden rufen. Brian blieb im Schatten des Hauses. Mit klopfendem Herzen beobachtete sie Emery, wie er die Stufen zur Veranda hinaufsprintete, vor der Tür innehielt und in seiner Hosentasche nach etwas kramte. Wahrscheinlich nach dem Schlüssel, dachte sie und atmete auf, da machte er plötzlich zwei, drei Schritte zurück, erfror in der Bewegung und drehte den Kopf dorthin, wo sich Brian hinter dem Haus aufhielt.
„O … o nein“, stammelte Audrey und wagte einen Blick durch das Fernglas.
Emery setzte sich wieder in Bewegung, wie ein Leopard auf Beutefang.
Audrey schwenkte das Glas auf die andere Seite des Hause und hoffte inständig, Brian würde dort auftauchen und das Weite gesucht haben, wenn Scott um die Ecke bog. Dann war es so weit. Emery verschwand aus ihrem Blickfeld, tauchte in den Schatten des Hauses. Trügerische Stille!
Audrey überlegte fieberhaft. Sollte sie ausharren oder ans Ufer rudern? Sie hörte auf ihr Bauchgefühl und entschied sie für die zweite Variante, auch wenn Brian diese nicht gutheißen würde. Aber für den Fall der Fälle konnte sie ihm zu Hilfe eilen. Außerdem hatte sie die Pistole ihres Vaters in den Rucksack gepackt. Wenn es sein musste, würde sie die Waffe einsetzen. Das hatte sie sich geschworen.
Plötzlich ein Schrei, der die Stille durchschnitt. Sie war sich sicher, es war Brian gewesen. Das Boot schwankte, als Audrey nach den Rudern griff. Ihr schwirrte der Kopf, die Umgebung drehte sich. Mit Schrecken verfolgte sie, dass Brian rückwärts taumelnd auf der Veranda erschien. Emery hielt ein Messer auf ihn gerichtet!
Sie redeten miteinander, doch Audrey konnte kein Wort verstehen. Brian hob beide Hände. So schnell sie konnte, ruderte sie ans Ufer, sprang ein paar Yards vor dem Ziel ins Wasser, das ihr bis zu den Knien reichte, und schnappte sich ihren Rucksack. Sie watete aus dem See, rannte den Strand entlang und ignorierte den Schmerz in der Brust. Ihre Finger tasteten nach der Waffe. Kaum hatte sie die Pistole gefunden, zog sie sie heraus und ließ den Rucksack fallen. Emery stieß Brian zurück, schrie ihn an, das Gesicht rot vor Wut.
Seine Worte waren klar und deutlich. „Hau ab, Mann! Das nächste Mal kommst du nicht so einfach davon.“ Er war so auf Brian fokussiert, dass er sie gar nicht wahrnahm. Ein Sonnenstrahl verfing sich in der silbernen Klinge des Klappmessers.
„Es ist nicht so, wie es ausgesehen hat“, rechtfertigte sich Brian.
„Warum hast du dann durchs Fenster geglotzt?“, fragte Emery zischend.
Brian bewies weiterhin Mut. „Haben Sie was zu verbergen?“
Dennoch, war er verrückt geworden, ihn so etwas zu fragen, in dieser Situation? Das Ganze lief zunehmend aus dem Ruder.
Audrey war nur noch wenige Schritte vom Ferienhaus entfernt. „Lassen Sie ihn in Ruhe!“, stieß sie hervor.
Scott Emerys Aufmerksamkeit richtete sich sofort auf sie. Seine Stirn legte sich in tiefe Falten, die Augen weiteten sich, als er die Waffe in ihren zitternden Händen entdeckte.
„Nicht, Audrey!“, rief Brian.
Sie ließ Emery nicht aus den Augen, während sie Brian zurief: „Verschwinde!“
„Was … was soll das hier werden?“, stotterte Emery.
„Messer fallen lassen – oder ich schieße!“, rief Audrey.
Sie hätte nicht gedacht, dass Emery so schnell aufgab. In hohem Bogen warf er das Messer über die Veranda, wo es mit einem dumpfen Laut auf dem Boden landete.
Brian schloss zu ihr auf und versuchte, sie zu beruhigen. „Mir geht’s gut. Nimm das Ding runter, verdammt. Wir sollten besser gehen.“ Er blickte sich um.
„Da muss ich deinem Freund recht geben.“ Emerys Stimme klang angespannt, auch wenn er es merklich zu vertuschen versuchte. „Wollt ihr Geld? Ich hab keines da.“
Audrey erkannte, dass er zur Ecke des Hauses lugte. Offensichtlich überlegte er abzuhauen. Natürlich tat er das. Danach würde er die Polizei informieren. Doch vielleicht war es an ihnen, die Cops zu rufen.
Die Erinnerungen an ihren Vater und alles, was in den letzten Tagen geschehen war, brachen wie ein Vulkan aus ihr hervor. Sie musste endlich Klarheit haben, sie konnte nicht länger warten und ging die Stufen nach oben, direkt auf Emery zu.
Brian versuchte nicht mehr, sie zurückzuhalten, und schwieg. Die Verwirrung in Emerys Blick, seine Reglosigkeit, die Schweißperlen, die sich auf seiner Stirn bildeten, waren ihr egal. Sie wollte Antworten. Sie wollte Gerechtigkeit, die Wahrheit! Er hatte die Briefe geschrieben, möglicherweise sogar die von Mr. X. Das hatte auch ihr Vater vermutet.
„Lass dich nicht abwimmeln“, riet Brian ihr. Er hatte seinen ursprünglichen Plan völlig über den Haufen geworfen.
„He, ich kenn dich“, rief Emery plötzlich und zeigte auf sie.
Es überraschte Audrey nicht. „Ich Sie nicht, das wird sich ändern.“
Er schüttelte den Kopf. „Was soll das? Du bist Monty Richards’ Tochter. Ja, klar. So ein Gesicht vergisst man so schnell nicht. Ich habe Fotos im Internet gesehen. Ist zwar schon eine Weile her, aber …“
„Stalker!“, zischte Brian und spuckte aus.
Audrey ließ die Waffe auf Emery gerichtet, der abermals den Kopf schüttelte.
„Was? Ich bin kein Stalker. Ja, ich bin ein Fan von Richards. Allerdings …“
„Kennen Sie Im Nebel der Intrigen
, Mister Emery?“ Obwohl er sie mit Vornamen angesprochen hatte, wollte sie dies nicht tun. Sie wollte nicht einmal eine Andeutung von Nähe erzeugen.
Ein Blinzeln seinerseits, dann wieder ein Kopfschütteln.
„Nein? Sie sind Autor, nicht wahr? Sie wissen sicher, wer sich so auf den Bestsellerlisten tummelt, auf denen Sie vielleicht gerne ebenfalls stehen würden.“
„Was willst du damit sagen, Audrey Richards? Ich kann nicht glauben, dass du es tatsächlich bist, hier vor meinem Haus.“
Ihre Zähne knirschten. Sie musste sich zurückhalten, um ihn nicht zu schütteln und ihm den Abzug an die Stirn zu pressen. Was, wenn er ihren Vater umgebracht hatte, nachdem er …? Sie stoppte ihre Gedanken, da sie Tränen aufsteigen spürte. Nein, keine Tränen. Nicht jetzt! Emery durfte keine Schwäche sehen. Er musste sie für skrupellos halten. Die Zeilen des Detektivs kamen ihr in den Sinn, dazu dessen Tod. An einen Unfall glaubte sie immer weniger.
„Gene Hartman, keiner weiß, wer er wirklich ist. Sein Stil ist toll, fast so gut wie der meines Vaters. Manche sagen sogar, er sei besser. Die Angst sei spürbarer als zuvor.“
Das hatte sie in ein paar Rezensionen gelesen. Und dann war ihr in den Sinn gekommen, warum dies so war, falls ihr Vater den Roman geschrieben hatte. Weil er tatsächlich Angst gehabt hatte, während er ihn geschrieben hatte. Sie war sich sicher, nun da sie Emerys Verwirrung in seinen Augen sah, dass er etwas wusste.
„Und was habe ich damit zu tun?“ Seine Augen verengten sich, er legte den Kopf schief. Sie konnte seine Gedanken beinahe rattern hören.
„Petit poète
! So hat er mich oft genannt. Nur meine Mutter weiß das. Und natürlich er!“
„Der Roman, klar, ich habe davon gehört. Ich kenne aber nur den Klappentext. Das, was mit deinem Dad passiert ist, tut mir leid. Ich habe darüber gelesen.“
„Ich habe von Ihnen auch so manches gelesen, Mister Emery.“
Brian gesellte sich zu ihr. „Die Luft ist rein. Nur ein paar Leute auf dem Wasser in Booten, aber die sind zu weit weg.“ Er lächelte Emery überlegen zu.
„Was wollt ihr?“
„Jedenfalls kein Geld“, warf Brian ein und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Herrgott noch mal, das wird langsam lächerlich.“ Emery blickte zwischen ihnen hin und her. „Warum fragst du mich nach dem Roman dieses Autors? Und was hast du schon mal von mir gelesen? Ich habe noch nichts veröffentlicht.“
„Ach wirklich?“
Er nickte und hob beide Hände, als sie einen Schritt auf ihn zumachte und die Waffe fester hielt, mit der sie weiterhin auf ihn zielte.
„Ich verstehe das alles nicht. Ich werde hier wie ein Verbrecher verhört, dabei habe ich nichts verbrochen. Er wollte einbrechen“, sagte er und deutete auf Brian.
„Vielleicht sind Sie ein Verbrecher. Und Sie haben Brian bedroht, hätten ihn womöglich sogar …“
„Bei mir wurde vor ein paar Tagen eingebrochen. Ich bin nur vorsichtig. Am Ende wart ihr es.“
„Das ist gelogen.“ Brian lachte auf.
„Ist es nicht!“ Emerys Wangenmuskeln arbeiteten, während er sich ein Blickduell mit Brian lieferte.
„Was ist mit meinem Vater passiert? Ich bin nur hier, weil ich endlich Klarheit will“, brach es aus Audrey hervor.
„Dein Vater?“
Emery ließ vor Erstaunen die Hände sinken.
„Keine gute Idee. Lass sie, wo sie sind“, befahl Brian.
Sofort verschränkte Emery sie hinter dem Kopf. Audrey ging aufs Ganze. Keine Versteckspielchen mehr, keine Durch-die-Blume-gesagt-Spielchen.
„Ich will wissen, wo mein Vater ist, oder falls er tot ist, wer ihn umgebracht hat und wieso.“