Im Zwielicht
E
mery stieß die Tür auf und ließ Brian ungewollt den Vortritt. Audrey folgte den beiden Männern in einigem Abstand. Die Waffe, weiterhin auf Emery gerichtet, war feucht vom Schweiß ihrer Handinnenflächen. Ein blumiger Duft stieg ihr aus dem hellen, aber schmalen, holzgetäfelten Flur entgegen. Außer einer Topfpflanze in der Ecke und einer Garderobe aus Schmiedeeisen gab es nicht viel zu entdecken. Eine Regenjacke hing an einem Haken. Darunter standen Gummistiefel und ein paar Turnschuhe. Kein Hinweis, dass noch jemand hier wohnte.
Sie wollte jeden Raum durchforschen, den das Ferienhaus zu bieten hatte.
„Das ist doch Irrsinn. Sie glauben wirklich, ich hätte etwas mit dem Verschwinden oder mit dem Tod Ihres Vaters zu tun? Hätte seine Idee geklaut, bin am Ende Hartman selbst?“ Er hatte die lockere Anrede aufgegeben. „Eines muss Ihnen beiden aber klar sein, falls Sie mich erschießen, werden Sie die Wahrheit nie erfahren.“
„Ist er hier?“, fragte Audrey.
„Ich habe es schon gesagt, ich habe nichts mit der Sache zu tun, Miss Richards.“
„Sie haben ihm Briefe geschrieben. Er konnte Ihnen nicht helfen. Haben Sie ihn anschließend als Mister X weiter kontaktiert? Das hat übrigens auch ein Detektiv vermutet.“
„Ihr Vater hat einen Detektiv auf mich angesetzt?“
„Hat er.“
„Und er hat nichts herausgefunden. Wie auch? Ich bin unschuldig.“
„Er ist tot“, entgegnete Audrey.
Emery warf ihr einen kurzen Blick über die Schulter zu.
„Nur wenige Monate nach dem Anschlag auf meinen Vater ist er gestorben. Es soll ein Unfall gewesen sein.“
Brian stoppte vor einer Tür am Ende des Flurs. Emery drehte sich jetzt ganz zu ihr um. Ein durchaus attraktiver Mann, durchfuhr es sie. Wie viele Frauen er mit diesen Augen wohl schon umgarnt hatte? Sie wirkten warm und dennoch unheimlich auf sie. Ein Typ, dem viele sicher gleich Vertrauen schenkten. Seine Stimme war angenehm.
„Was habe ich für eine Chance? Egal, was ich sage, Sie glauben anscheinend sowieso, was Sie wollen. Ich kann verstehen, dass Sie das alles durcheinanderbringt, dass Sie Klarheit wollen. Der Fall ist jedoch abgeschlossen, es wurde alles genauestens untersucht. Ich habe Ihren Vater bewundert, tue es noch. Ich habe ihm nicht mehr geschrieben, weil …“
„Komm weiter und lass dich nicht einlullen“, unterbrach ihn Brian. „Was ist hinter der Tür?“
„Ich will Sie nicht einlullen. Hören Sie, lassen Sie uns vernünftig reden! Ohne die Waffe. Wie haben Sie eigentlich herausgefunden, wo ich wohne?“ Er fixierte die Pistole.
„Was ist hinter der Tür?“, wiederholte Brian seine Frage, brüllte fast.
Ohne den Blick von Audrey zu wenden, antwortete Emery: „Das Wohnzimmer.“
„Gibt es einen Keller?“, fragte Brian weiter.
„Ja, sehen Sie sich um.“
Schon stieß Brian die Tür auf, Audrey wich Emerys Blick aus.
Brian betrat das Wohnzimmer zuerst und bedeutete Emery, sich auf die braune Couch zu setzen, die sich in der Nähe der beiden großen Fenstern befand. Auf dem viereckigen Holztisch davor stand eine Vase mit Margeriten. Sie waren es, die den Duft verströmten. Das Zimmer war karg eingerichtet. An den Wänden hing lediglich ein gerahmtes Meeresfoto. Eine Grünpflanze zierte eine der Fensterbänke. Es gab nicht einmal einen Teppich auf dem Holzboden. Zwei Sessel, die aussahen wie aus Grandmas Zeiten, waren dem Sofa gegenüber platziert. Zumindest gab es einen Schreibtisch in der Ecke. Das Holz war schwarz wie die Nacht. Eine alte Schreibmaschine stand in der Mitte, daneben ein Laptop und ein Drucker. In die Maschine war ein Blatt eingespannt. Audrey wurde übel. Die Hitze, die sich in ihrem Kopf staute, breitete sich in ihrem ganzen Körper aus. Solch eine Schreibmaschine hatte ihr Vater auch hin und wieder benutzt.
„Wenn ich Ihnen helfen kann, tue ich das. Wir haben uns auf beiden Seiten nicht richtig verhalten. Lassen Sie uns von vorne anfangen. Aber ich schwöre, ich habe nichts mit Ihrem Vater zu tun, als dass ich diese paar Briefe an ihn geschrieben habe. Er hat mir geantwortet, sogar sehr nett“, hörte sie Emery erzählen, während sie sich der Maschine näherte. Ihre Lippen begannen zu beben, sie konnte es nicht unterdrücken.
„Wo sind die Antwortschreiben von ihm?“, wollte Brian wissen.
„Das ist es ja. Sie sind bei dem Einbruch gestohlen worden. Die Polizei tappt völlig im Dunkeln. Deshalb dachte ich vorhin …“
„Natürlich.“ Brian lachte.
Emery seufzte.
Audrey beugte sich vor und las die Zeilen, die mit der alten Maschine, deren Buchstaben auf den Tasten teilweise nur noch halb leserlich waren, auf das unschuldige weiße Blatt getippt worden waren.
Es war Sommer. Schwüle Luft drückte sich auf Clarence hinab wie die dunklen Gedanken auf sein Herz. Er rannte, entkam ihnen jedoch nicht. Genauso wenig wie den Schatten, die ihm folgten. Ob Tag oder Nacht, in der Dunkelheit waren sie nur nicht sichtbar. Sie lauerten aber stetig und warteten darauf, er würde sich ergeben. Doch noch war er nicht so weit, noch kämpfte er.
Ein poetischer Stil, wie ihn ihr Vater gemocht hatte.
„Haben Sie das geschrieben?“, wollte Audrey wissen.
Er zögerte. Warum?
„Ja, ich schreibe wieder.“
„Wieder?“, fragte sie, ohne sich umzudrehen. Ihre Finger wanderten zu der obersten Schublade unter der Tischplatte. Normalerweise verbot es ihr ihre gute Erziehung, in die Intimsphäre anderer Menschen einzudringen. Doch das war, wie beim Arbeitszimmer ihres Vaters, definitiv ein Ausnahmefall. Also zog sie das Fach auf, während Emery antwortete.
„Ich habe lange nicht mehr geschrieben. Immer wieder kamen Absagen, und dann wäre ich beinahe auf einen gut getarnten Druckkostenzuschussverlag hereingefallen. Da hat es mir gereicht. Aber ich dachte immer wieder daran. Es hat mich nicht losgelassen, besonders, wenn ich die Bücher von Richards entdeckt habe. Man entkommt ihnen nicht. Und irgendwie hatte ich das Gefühl, sie würden mir zurufen: Schreib wieder! Ich konnte nicht anders. Und seitdem tue ich es wieder. Es ist kein Thriller, ich versuche es mit Romance. Ich glaube, das liegt mir mehr. Obwohl ich nun guten Stoff hätte.“
„Für jemanden, der eine Waffe vor der Nase hat, sind Sie ganz schön redselig“, bemerkte Brian spöttisch.
Audrey wusste nicht, was sie denken sollte. Reden konnte man viel. Und ein Autor hatte definitiv eines im Blut: Fantasie, egal in welchem Genre er unterwegs war. In der Schublade fand sich nichts außer Büroklammern, einer Schachtel Zigaretten, Feuerzeuge, eine Brille und einer Unmenge Kaugummis. Die letzten Hemmungen waren gefallen. Sie öffnete auch die anderen Fächer. Unter all dem Krimskrams entdeckte Audrey ein Foto. Sie zog es hervor und staunte. Er hatte tatsächlich eines aufgehoben, das ihn und die Frau aus Port Clinton verewigte. Amelies Blick war offen, verliebt, genau wie Emerys. Ein glückliches junges Paar. Sie erinnerte sich an Amelies Worte, wie aufgelöst sie gewesen war. Emery erschien Audrey wie ein Chamäleon. Nur dass er sich nicht jeder Farbe seiner Umgebung, aber anscheinend jeder Situation und den Menschen anpassen konnte.
Sie sah zu Emery hinüber, der sie beobachtete. Brian richtete weiter die Waffe auf ihn.
„Hast du etwas gefunden?“, fragte er.
„Nur ein Foto.“
Emery schaltete schnell. „Weiß Amelie, wo ich bin? Hat Sie Ihnen gesagt …?“ Er klang aufgebracht. Sogar aufgebrachter als vorhin, als sie noch auf der Veranda gestanden hatten.
„Wir haben sie getroffen, in Port Clinton“, erzählte Audrey. „Die Vorbesitzer Ihres Elternhauses haben uns gesagt, Sie und Amelie Dexter würden sich gut kennen.“
„Ehemaliges Elternhaus“, bemerkte Emery und senkte den Blick. „Aber woher dann? Und was hat sie gesagt?“, wollte er ein paar Sekunden später wissen.
„Wir stellen hier die Fragen“, blaffte Brian.
Audrey wollte Emery jedoch antworten. „Sie sagte, Sie wären ein Feigling und Betrüger. Sie hätten sie nur benutzt. Diese Adresse haben wir aber von jemand anderem.“
„Dann weiß sie nicht, dass ich hier bin, ja?“
Audrey schüttelte den Kopf.
„Gott sei Dank“, murmelte er und schien tatsächlich heilfroh darüber zu sein. „Sagen Sie ihr bitte nicht, wo sie mich finden kann. Es war schwer genug, sie abzuschütteln.“
Audrey legte das Foto zurück. „Sie hat mir leidgetan.“
„Mir tut sie ebenfalls leid. Aber Amelie kann nur über ihr Luftschloss hinwegkommen, wenn wir uns nicht mehr sehen. Sie hat sich da etwas vorgemacht. Für mich war sie eine gute Freundin, das habe ich ihr auch gesagt. Mehr nicht. Aber sie, sie wollte das nicht glauben. Was erzähle ich Ihnen das überhaupt? Jetzt schauen Sie sich weiter um, und dann gehen Sie bitte. Ich hoffe, ich wünsche es Ihnen sogar, dass Sie irgendwann Frieden finden. Sie und Ihre Mutter. Und Ihr Vater ebenfalls.“
Das reichte. „Seien Sie still!“ Audrey presste sich die Hände gegen die Ohren. Der Gedanke, dass alles, was er sagte, pure Berechnung und Lüge war, brachte sie an ihre Grenzen. „Ich will den Keller sehen und die restlichen Zimmer.“
Emery begleitete sie, die Waffe im Rücken, die Brian nicht mehr aus der Hand gab. Die Räume im Unter- und Obergeschoss waren schnell durchkämmt. Auch sie waren spärlich eingerichtet. Der Keller roch modrig. Es gab mehrere verwinkelte Räume mit vergitterten Fenstern, durch die wenig Licht drang. Das flackernde Licht der Glühbirne im Flur bereitete Audrey Kopfschmerzen. In einem Raum befand sich ein Weinregal mit ein paar Flaschen Bestand, daneben alte Schuhkartons. In einem anderen gab es leere Regale. Der Heizungsraum hing voller Spinnenweben. Im angrenzenden Raum fristeten eine Waschmaschine und ein Bügelbrett, auf dem sich ein paar Hosen und Hemden türmten, ihr trostloses Dasein. Der letzte Raum auf der linken Seite ließ Audreys Herz noch einmal heftiger schlagen.
Emery lachte unsicher. „Hier ist nichts. Sie werden darin nichts finden, das …“
Audrey drückte die Klinke nach unten. Die Tür war abgeschlossen.
„Aufmachen!“, befahl Brian.
Emery runzelte die Stirn. „Das verstehe ich nicht. Ich habe die Tür nicht abgeschlossen, sie muss klemmen.“ Er rüttelte daran, was nichts änderte.
„Verarsch uns nicht.“ Brian stieß Emery den Lauf der Pistole in den Rücken und drängte ihn gegen die Tür.
„Der Schlüssel steckte. Ich weiß nicht …“ Er sah zu Audrey. Sein Blick hatte etwas Flehendes. Doch sie konnte kein Mitleid aufbringen. Sie wollte genauso wie Brian nur eines – sehen, was sich hinter dieser Tür befand.
„Aufmachen!“, wiederholte sie Brians Forderung.
„Wie denn ohne Schlüssel?“ Er senkte den Kopf und suchte den Boden ab. „Er muss runtergefallen sein. Oder aber die Einbrecher haben …“
„Quatsch nicht“, rief Brian energisch.
Da vernahm Audrey ein Kratzen auf der anderen Seite. „Was ist das?“
„Ich habe nichts gehört“, erwiderte Emery. „Da drin ist nichts als Gerümpel. Ich habe erst mal alles, was ich höchstwahrscheinlich wegwerfen will, in den Raum gestellt, um es später, wenn ich mehr Zeit habe …“
„Still!“, herrschte Brian ihn an.
Audrey legte ein Ohr an die Tür und lauschte. Das Kratzen hatte aufgehört. Sie wich zurück und starrte Emery an.
„Ich habe einen stressigen Job in einer Kanzlei.“
„Machen Sie endlich auf!“, schrie Audrey. Den Gedanken, dass ihr Vater darin eingesperrt war, gefesselt oder schlimmer, hielt sie nicht länger aus.
„Ich habe den Schlüssel nicht“, beharrte Emery.
Brian drückte Audrey die Waffe in die Hand und machte ein paar Schritte zurück. „Scheiß auf den Schlüssel“, sagte er, presste die Lippen zusammen und trat die Tür mit voller Wucht ein, die krachend nachgab.
„Was soll das?“, brüllte Emery.
Brian fiel samt Tür ins Zimmer, in dem tiefe Dunkelheit herrschte. Audrey hielt den Atem an.
Emery fixierte sie. „Ihr Freund und Sie sind nicht ganz richtig im Kopf. Kommen hier rein, unterstellen mir unglaubliche Dinge …“
„Seien Sie still“, zischte Audrey. Dann rief sie nach Brian. „Alles klar. Wo ist der verdammte Lichtschalter?“
„Gleich rechts neben der Tür“, antwortete Emery widerwillig.
Zwei Herzschläge später erfüllte mattes Licht den Raum. Scheußlich, dachte Audrey. Genau wie der braune Hochflorteppich mit dem weißen Blütenmuster, der wahrscheinlich schon von Anfang an hier drin lag. An einigen Stellen war er vollkommen ausgetreten. Audrey war auf alles gefasst. Brian versperrte ihr die Sicht. Als er zur Seite trat, konnte sie sehen, dass der Raum bis auf eine Holztruhe leer war. Wo war das besagte Chaos? Und ihr Vater? Ihr kam ein grausiger Gedanke, der sie in die Knie zwang. Brian zog Emery in den Raum. Audrey folgte ihnen und gab ihm die Waffe zurück.
Emery schien wie vor den Kopf gestoßen. Audrey atmete nur noch flach. Die Kiste in diesem Licht, der staubige, modrige Geruch, der sich mit irgendetwas Süßlichem kreuzte, ließ sie würgen.
„Ist das alles?“, fragte Brian scharf.
Emery runzelte die Stirn. „Ja, das frage ich mich auch gerade.“
„Was soll das heißen? Sie sagten doch vorhin, dass hier das ganze Gerümpel stehen würde.“
„Ja. Nein. Nicht nur Gerümpel. Ich …“
„Sieh nach, was in der Truhe ist, Audrey.“ Brians Worte klangen wie ein Befehl.
Audrey schob es auf seine Anspannung und tat wie ihr geheißen. Sie dachte an das Kratzen und lief auf die Truhe zu.
„Ich verstehe das nicht“, murmelte Emery hinter ihr.
Ihre Finger zitterten, als sie den Deckel hob. Die Kiste war nicht abgeschlossen. Auf jeden Fall hätte ein Mensch darin Platz. Nie zuvor in ihrem Leben hatte ihr das Herz so stark gegen die Rippen gehämmert. Hoffnung, die Freude auf ein Wiedersehen, auf eine gemeinsame Zukunft, vermischten sich mit nackter Angst. Zoll für Zoll schob sie den Deckel nach oben, bis sie den Inhalt erkennen konnte. Zumindest das, was darüber lag: ein paar alte, bunt karierte Wolldecken. Ihre Hoffnung zerschlug sich mit einem Mal.
„Gott!“, rief sie und ließ den Deckel nach hinten klappen.
„Da ist keine Leiche drin, falls Sie das vermuten“, sagte Emery wie aus weiter Ferne.
Im nächsten Moment stolperte er neben sie. Brian drückte ihn auf die Knie, richtete die Waffe auf seinen Hinterkopf und bedeutete ihm, die Decken wegzuziehen. Audrey wurde kurz schwarz vor Augen, als das Kratzen erneut ertönte. Sie musste sich am Rand der Truhe festklammern, die vielleicht zum Sarg ihres Vaters geworden war. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass sich Brian umwandte. Eine Sekunde später fiel ein Schuss. Audrey schrie auf und sackte zur Seite. Emery zuckte, drehte sich um.
„Verdammtes Mistvieh“, fluchte Brian.
Ein Schrei drang zu ihnen in den Keller, eine weibliche Stimme. Audreys Gedanken überschlugen sich. Doch sie schaffte es irgendwie sich umzudrehen. Eine tote Ratte lag in der Nähe der Tür auf dem Boden. Brian hatte sie erschossen. Ihr Blut klebte an der Wand. War es das Tier gewesen, das sie gehört hatten? Und von wem hatte dieser Schrei hergerührt?
Brian kümmerte sich nicht darum, sondern lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf Emery. „Los jetzt, weg mit den Decken!“
„Mister Emery!“ Die Frauenstimme von vorhin. Entsetzt, überrascht.
Emery hatte seine Hände gerade auf die erste Decke gelegt. Ohne sich umzudrehen, sagte er: „Keine Sorge, Maria.“
„Wir sind nur … Freunde“, mischte sich Brian ein, rückte näher an Emery heran und verdeckte die Waffe mit seinem Körper.
Audrey wandte sich um und erblickte eine Frau um die fünfzig, das dunkelbraune Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie war gut gebaut, trug einen dunklen knielangen Rock, schwarze Schuhe, eine dicke Strumpfhose und eine blaue Bluse mit grauer Strickweste. Als wäre es Herbst.
Ihr „Okay“ klang wie eine Frage. „Ich habe etwas gehört und mir Sorgen gemacht.“ Ihre dunklen Augen wurden größer, als sie die tote Ratte entdeckte. „Jesus und Maria!“, rief sie in hartem Akzent. Ihrem Teint und den fast schwarzen Augen nach war sie entweder Griechin, Italienerin oder Spanierin.
„Du kannst wieder gehen, Maria. Ich brauche dich nicht, es ist alles in Ordnung“, sagte Emery. Audrey verstand. Er hatte also ein Hausmädchen. Vielleicht machte sie auch seine Wäsche.
„Sind Sie sich sicher, Sir?“
Emery nickte. „Gehen Sie!“ Seine Stimme klang energischer.
Die Frau wirkte zunehmend verwirrter. „Gut, dann … dann gehe ich wieder.“
Kaum war sie aus der Tür, rief Emery sie zurück. „Ach, Maria?“
Zögerlich erschien sie noch einmal im Rahmen und beäugte ihren Boss, der sie anlächelte. „Ja, Sir?“
Er zeigte umher. „Wo sind all meine Sachen geblieben?“
Maria zog ihre buschigen Brauen nach oben. „Sie haben mir doch gesagt, ich solle alles zusammenräumen. Das habe ich. Sind alle auf dem Müll, bis auf die Truhe da.“
Emery entwich ein Stöhnen. „Nur ein wenig übersichtlicher stapeln, hatte ich gemeint. Ich wollte sie mir ansehen, bevor … Ach, Maria.“
„Oh!“, entfuhr es ihr.
„Egal, nun ist es nicht mehr zu ändern.“
„Tut mir leid, Sir.“ Marias Gesicht nahm traurige Züge an.
„Schon gut, Maria. Vielleicht war es gut so. Bis bald.“
Emery spielte sein Verständnis nicht. Es verwunderte Audrey, damit hatte sie nun wirklich nicht gerechnet.
„Sie lassen ihr das einfach so durchgehen? Wo ist der Müll?“, wollte Brian wissen.
„Schon abgeholt. Ein halber Laster voller Tassen, verstaubter Bücher, Regale, Bettwäsche und weiterem Zeug“, antwortete Maria.
„Ts, das gibt es nicht!“ Brian schüttelte den Kopf, als ginge es um seine Sachen. Audrey bemerkte die Schweißtropfen auf seiner Stirn. Die Anspannung zerrte an ihren Nerven.
Emery erwiderte nichts darauf, wandte sich wieder der Truhe zu und verabschiedete seine Haushaltshilfe. „Wiedersehen, Maria!“
„Tut mir wirklich leid“, wiederholte sie, bevor sie endgültig ging.
Audrey musste sich an die Wand lehnen, sie konnte nicht hinsehen.
„Mach schon, Emery!“, drängte Brian.
Emery riss die Decken weg und schleuderte sie zur Seite. Niemand sagte ein Wort. Brians Gesicht war starr auf den Inhalt der Kiste gerichtet, den sie von ihrer Position aus nicht sehen konnte. Am liebsten hätte sie ihn angeschrien, gefragt, was er sah, konnte es aber nicht. Ihre Kehle fühlte sich an wie abgeschnürt.
Emery schien die Frage in ihren Augen lesen zu können.
„Da, sehen Sie selbst, Miss Richards. Keine Leiche, kein Geheimnis, nur Gerümpel.“
Was? Was hatte er da gesagt? Die Worte drangen erst nach und nach zu ihr durch. Brian reichte ihr die Waffe, die sie mechanisch an sich nahm. Keine Leiche? Sie musste sich selbst überzeugen und zwang sich aufzustehen. Tatsächlich! Langsam bekam sie wieder Luft. Die Pistole in ihren Fingern zitterte.
„Halt sie richtig“, rief Brian. Kalter Schweiß lief ihr über den Rücken.
Emery fixierte sie immer noch. Brian stürzte sich unterdessen auf den Inhalt der Truhe und durchsuchte sie.
„Ich habe nichts zu verbergen, Miss Richards. Lassen Sie mich bitte in Ruhe! Ich werde auch nicht zur Polizei gehen wegen der Sache heute.“ Emerys Stimme war flehend und gleichzeitig von Mitgefühl durchzogen.
Audrey musste hier raus, an die frische Luft, an einen anderen Ort. Wie von einer fremden Hand gezogen, verließ sie das Ferienhaus. Sie rannte immer weiter, Schritt für Schritt.