Die Stadt
S
cott legte das Handy weg. Er saß schon den ganzen Nachmittag an seinem Exposé und der Überarbeitung seiner Kapitel. Audrey versuchte ebenfalls voranzukommen. Wenn sie eintauchen konnte, war das Schreiben vergleichbar mit einem Fluss, der munter plätscherte, zumindest eine kleine Weile. Denn der Gedanke an ihren Vater, Brian und die Angst um ihre Mutter und Grace machten es ihr nicht leicht. Scott ging es nicht anders.
„Sie haben sie“, sagte er plötzlich.
Audrey fing seinen Blick auf, in dem Erleichterung lag, aber auch noch etwas anderes, Unbestimmtes. Sie saß mit ihrem Laptop auf dem Bett, er an seinem vor ihrem Schreibtisch. Audrey runzelte die Stirn, obwohl sie ahnte, wen er meinte.
„Sie haben Amelie vor meinem früheren Haus abgefangen. Sie hat davor randaliert. Sie dachte, ich komme zurück. Sie war völlig stoned. Meine Güte, sie haben sie in eine Klinik gebracht! Ich hoffe, dort können sie ihr helfen.“
„Mein … mein Gott“, stammelte Audrey und stellte den Laptop beiseite.
Scott stützte die Ellenbogen auf und verbarg das Gesicht zwischen den Händen. „Ich scheine nur Unglück zu bringen“, hörte sie ihn murmeln.
Audrey durchfuhr ein Stich, als sie ihn so sah. Sie ging zu ihm und legte ihm die Hände auf die Schultern, so wie er es bei ihr kürzlich getan hatte. Er ließ es geschehen.
„Irgendetwas stimmt nicht mit ihr. Es scheint tief verwurzelt. Ich glaube nicht, dass du schuld daran bist. Die Liebe zu dir war höchstens der Auslöser. Sie hat einen Wahn, das hast du selbst gesagt, Scott.“
Erst sagte er nichts dazu, nickte nur und ließ die Hände sinken. Und dann, ohne sich umzudrehen, begann er zu erzählen. „Als ich sie kennengelernt habe, war sie so zerbrechlich. Ich habe in ihr eine gute Freundin gesehen, zumal sie verheiratet ist. Aber dann wollte sie mehr, rief mich dauernd an, belagerte mich regelrecht. Und wieder verlor ich eine Freundin.“
„Wieder?“, fragte Audrey.
„Ich hatte nie wahre Freunde. Hört sich traurig an, oder? Ist es auch. Ich erzähle das aber nicht, weil ich Mitleid will. Ich weiß nur nicht, woran es liegt, dass ich vor allem Leute angezogen habe, die mich letztendlich immer enttäuscht haben, vor allem dadurch, dass sie sich eine Zeit lang verstellt haben, um an ein bestimmtes Ziel zu gelangen. Die vorgegeben haben, an mich zu glauben und es doch nicht taten. Denen ich lange geglaubt habe. Daher ziehe ich mich gerne zurück und bin lieber für mich.“
Audrey verstand das gut, fürchtete aber, dass er in ihr ebenfalls jemanden sah, der nicht an ihn glaubte. Das war nicht von der Hand zu weisen. Und sie hatte das Gefühl, sich dafür noch einmal entschuldigen zu müssen.
„Das tut mir leid, Scott. Ich musste vorsichtig sein. Es …“
Endlich drehte er sich um, fing ihren Blick auf. Oder war es umgekehrt? Er faltete die Hände wie zum Gebet, hielt sie lässig zwischen seinen Beinen und beugte sich nach vorne. „Das ist ja wohl eine Ausnahme.“
„Nein, ist es nicht. Ich hätte mehr hinterfragen sollen. Und es soll keine Rechtfertigung sein, ich hatte jedoch nicht die Zeit dazu.“
„Das weiß ich, Audrey.“ Er rang sich ein Lächeln ab, und sie bat ihn, sich neben sie aufs Bett zu setzen. Sie glaubte, er brauchte ihre Nähe nun genauso wie sie seine. Freundschaftliche Nähe! Ohne ein Wort folgte er ihrer Bitte.
„Die Einzigen, denen ich richtig vertrauen konnte, waren meine Eltern“, fuhr er fort. „Sie haben mich immer ermutigt.“ Seine Stimme war angenehm und beruhigte sie.
„Erzähl weiter“, bat sie. „Von deiner Kindheit, von deinen Träumen.“
„Aber vielleicht sollten wir lieber …?“
„Bitte“, unterbrach sie ihn und schenkte ihm einen eindringlichen Blick, dem er nicht widerstehen konnte.
„Also gut.“ Er kreuzte die Beine, sie tat es ihm gleich.
„Ich war ein Wildfang, der Mom und Dad auf Trab gehalten hat. Ich erinnere mich nicht an alles.“
Der lässige Ton, den er nun anschlug, brachte sie zum Lachen und ließ ihn einstimmen. Sie brauchten diesen Ausflug in die scheinbare Normalität dringend. Audrey merkte kaum, dass sie zwischendurch den Kopf an seine Schulter lehnte und er ein wenig näher rückte, während er von seinen Jugendsünden berichtete.
„Sie haben immer daran geglaubt, dass mein Traum, einmal Autor zu werden, dessen Geschichten Leserinnen und Leser lieben werden, in Erfüllung gehen würde. In der Schule hingegen haben die meisten nur gelacht, wenn sie es mitbekamen. Nur ein Lehrer fand, ich hätte Talent. Ja, und dann habe ich Bücher deines Dads gelesen, wurde regelrecht süchtig danach. Ich habe jeden Roman, jedes Interview verschlungen. Ich war sogar auf Lesungen. Leider bin ich bei den Signierstunden nie an ihn herangekommen, um ihm zu sagen, wie klasse ich seine Geschichten finde. Gott, ich habe so viele Fragen. Es ist jedes Mal etwas dazwischengekommen, als wollte das Schicksal es so. Und so habe ich ihm eines Tages geschrieben. Von seinem Privatleben hat er stets wenig preisgegeben. Verständlich! Dennoch wollte ich es probieren, ein paar Tipps erhalten. Das war für mich wie Weihnachten, Ostern und Geburtstag zusammen, als er mir geantwortet hat. Und ich habe verstanden, als er den Kontakt ausklingen ließ. Er wollte seine Privatsphäre wahren. Doch all seine Antworten waren nett. Er hat sich wirklich Gedanken gemacht, dafür bin ich ihm dankbar. Ich habe die Briefe noch, in einer Box, die ich extra dafür gekauft habe. Ich hoffe, du nennst mich nun nicht auch verrückt.“
Sie lächelte. „Nein.“
„Ich konnte ihn verstehen, was sein Privatleben betrifft. Ihr seid seine Oase der Ruhe.“
„Wir haben immer hundert Prozent hinter ihm gestanden und tun es nach wie vor.“
Scott lächelte nun ebenfalls. „Es ist mir eine Ehre, Audrey, dich zu unterstützen. Gott, er lebt! Mein Idol, wenn du so willst, ist in den Händen eines Kranken. Das ist ein Albtraum. Es ist selbstverständlich, dass ich helfe. Selbst wenn mich dieser Wahnsinnige nicht bedrohen würde, würde ich das tun. Ich finde es toll, dass ihr als Familie so zusammenhaltet.“ Er machte eine kurze Pause. „Das haben wir auch getan.“
„Aber immer hat man es als Tochter eines solch bekannten Autors nicht leicht. Die Neider übertreffen die Gönner bei Weitem.“
Er wurde ernst. „Das glaube ich dir.“
Audrey erwiderte seinen warmen Blick. „Das mit deinen Eltern tut mir leid, Scott.“
„Man hat mir gesagt, dass sie sofort tot gewesen sind …“ Seine Stimme versagte.
Zum ersten Mal war Audrey versucht, seine Hand zu drücken, und tat es. Er lächelte dankbar. So saßen sie einige Minuten lang da, ließen die Stille zu und füllten sie mit Gedanken an die Vergangenheit.
***
Warum antwortest du nicht, du treulose Tomate?
, simste Grace am Tag der Abgabe, und das schon zum dritten Mal. Sie fügte ihrer Nachricht einen weinenden Smiley und die Frage Habe ich dir irgendetwas getan?
hinzu. Audrey seufzte und bemerkte, dass Scott sie beobachtete, wie sie auf ihr Handy starrte.
„Es ist besser, wenn sich Grace eine Weile von mir fernhält“, beantwortete sie seine stumme Frage.
„Ja, ist es wohl. Sie versteht es nicht, richtig?“
Audrey nickte und presste die Lippen aufeinander.
„Dennoch würde ich ihr wenigstens ein Lebenszeichen geben.“
Just in diesem Moment erreichte Audrey eine neue SMS: Oder geht es dir nicht gut? Soll ich dich und deine Mom mal besuchen kommen? Wäre kein Problem. Daniel hat die Tage sowieso einige Meetings.
„Ich hab dich lieb, Grace“, flüsterte Audrey, während sie tippte: Das ist lieb von dir. Aber nein, wir sehen uns daheim. Sorry, dass ich mich so selten melde. Ich hab viel zu tun. Mach dir keine Sorgen. Bye, Süße.
Sie fühlte sich besser, nachdem sie die Nachricht abgeschickt hatte. Allerdings kam nur ein Wort zurück: Verstehe.
Audrey war sich sicher, dass Grace das tat. Schließlich stand sie auf und reichte Scott das Kuvert, in das sie ihre erst vorhin fertig gewordenen Kapitel gesteckt hatte. Die Erben von Avalon
gingen langsam aufs Finale zu.
Scott zog die Brauen nach oben. „Ich habe mein Bestes gegeben. Ich weiß nicht, ob es reicht. Aber es war gut zu schreiben, als es endlich Klick gemacht hat.“
Audrey nickte. „Ja, ging mir auch so.“
Scotts Finger berührten das Kuvert am einen, Audreys am anderen Ende.
„Darf ich?“, fragten sie gleichzeitig und mussten lachen. Sie war froh, dass sie das trotz allem noch konnten. Eine Stunde bis zum Abgabetermin.
„Gerne“, erwiderte Audrey.
„Gerne“, kommentierte Scott.
Jeder entnahm seinen Teil und reichte ihn dem anderen. Dann zogen sie sich in eine Ecke des Zimmers zurück und lasen. Audrey setzte sich auf das Sims und öffnete das Fenster. Die warme Luft des Sommertags streichelte ihre Arme und spielte mit ihrem Haar.
Um was es in seinem Roman ging, davon hatte Scott ihr bereits erzählt. Es war eine spannende Idee, wie sie fand. Sein Protagonist Clarence war Lehrer, der durch Zufall mitbekam, wie sich zwei Schüler seiner Schule, an der er Geschichte und Mathematik unterrichtete, im Darknet über Amoklauffantasien austauschten. Daraufhin wollte er herausfinden, um wen es sich handelte, und geriet dabei in ein dunkles Netz, das viel größer und gefährlicher war als in seinen schlimmsten Albträumen.
Audrey war sofort mitten in der Geschichte und wurde von ihr schier mitgerissen. Am Ende wollte sie unbedingt wissen, wie es weitergehen würde mit Clarence.
Scott war noch in ihre Zeilen vertieft, als sie fertig war. Sie schwieg, ließ ihn zu Ende lesen.
„Es ist toll“, sagte sie, als er aufschaute. „Flüssig, angenehm, und schau, ich habe Gänsehaut.“ Sie streckte beide Arme aus. „Viel zu schade für Mister X.“
„Wow, danke.“ Scott sah nicht so aus, als hätte er mit so viel Lob gerechnet. „Ich kann aber auch durchaus Kritik vertragen“, schob er hinterher.
„Wenn ich welche habe, wirst du sie erfahren, in Ordnung?“
Sein Schmunzeln gefiel ihr. Audrey kletterte von der Fensterbank, schloss das Fenster und steckte die Seiten ins Kuvert zurück. Danach reichte sie es Scott, damit er es ihr gleichtun konnte.
„Oder soll ich etwas ändern?“, fragte sie. Die Neugierde, was er zu ihrem Text zu sagen hatte, war nicht zu leugnen.
„Einen Kritikpunkt habe ich.“
Audrey nickte. „Sprich es ruhig aus. Dann ändere ich das, wenn ich dir zustimmen kann.“
Wieder schmunzelte er, ließ sich Zeit mit der Antwort. „Es ist zu kurz. Ich will mehr.“
„Im Ernst. Es hat dir gefallen?“
Sein energisches Nicken machte sie stolz.
„Danke, Scott.“
„Für was? Es ist so. Also werfen wir die Seiten diesem Mistkerl in den Rachen. Aber wir holen sie uns zurück.“
Der Kampfgeist packte Audrey wie nie zuvor. „Darauf kann Mister X Gift nehmen!“
Das Wetter schien umzuschlagen, weshalb Audrey und Scott das Kuvert vorsorglich in einem Plastikbeutel verstauten. Auf dem Weg zum See gingen sie dicht an dicht nebeneinander her. Diesmal war es Scott, der die Waffe unter seiner Jacke trug. Immer mehr dunkle Wolken trafen über ihren Köpfen zusammen. Bald würden sie sich zu einem einzigen grauen Tuch zusammenschließen und sich in einem Unwetter ergießen.
Wie Scott ließ Audrey den Blick schweifen und achtete auf jedes Geräusch. Bevor sie zum See abbogen, kam ihnen eine junge Joggerin entgegen, sonst war weit und breit niemand zu entdecken. Doch der Schein konnte trügen, das wussten sie beide. Der See lag ruhig da. Sie legten das Kuvert ab und schauten eine Weile auf die Wasseroberfläche. Audrey hatte Scott erzählt, dass sie hier oft mit ihrem Vater gewesen war.
„Ein schönes Plätzchen, wie aus einem Bilderbuch.“
Audrey nickte und merkte, dass Scott sie von der Seite ansah. Und wieder einmal bohrte die Frage in ihr, wie es ihrem Vater und Brian gerade ging, während sie hier standen und, genauso wie sie, der Willkür eines Verrückten ausgeliefert waren. Sie wollte die Tränen zurückhalten. Aber genau an diesem Ort brachen sie aus und rannen ihr über die Wangen. Scott ergriff ihre Hand und drückte sie leicht. Sie ließ es zu und schloss die Augen, um ein Gebet gen Himmel zu schicken.