Immer weiter, schneller, höher
S cott überreichte ihr am nächsten Morgen den Brief, den er aus dem Briefkasten geholt hatte. „Deine Nachbarn haben mir ein skeptisches Guten Morgen gewünscht“, erzählte er und fuhr sich durch das zerzauste Haar.
Sie hatten die letzte Nacht kaum ein Auge zugetan. Audrey stellte die Tassen mit extra starkem Kaffee auf dem Küchentisch ab. Das Weiß des Kuverts, das zusammen mit einem Messer und einer Serviette in der Mitte des Tisches lag, schien ihr höhnisch entgegenzulächeln. Scott setzte sich, sie nahm ihm gegenüber Platz.
„Soll ich aufmachen?“, fragte er.
Audrey schüttelte den Kopf. Sie schluckte die Angst hinunter und konzentrierte sich auf die kleine Hoffnung, die sie am Leben hielt. Schnell griff sie nach dem Messer, ließ die Klinge zwischen die Klebenaht des Kuverts gleiten und schlitzte es auf. Dabei stellte sie sich vor, dass es Mr. Xs Kehle wäre, durch die sie den kalten Edelstahl zog. Nein, so tief durfte sie nicht sinken.
Sie ließ den Inhalt herausgleiten. Das Puzzleteil fiel auf die Serviette, gefolgt von dem Brief, der kleiner gefaltet war.
Das Puzzleteil war entgegen ihrer Erwartung schneeweiß. Sie drehte es in den Händen. Kein Hinweis, kein Ausschnitt eines Fotos. Scott runzelte die Stirn, griff danach und schüttelte es, als würde sich dadurch etwas ändern. Audrey faltete unterdessen den Brief auseinander und las. Als sie ihn anschließend Scott reichte, trat Schweiß auf ihre Stirn. Sie hatte den Verdacht, dass Mr. X nun völlig durchdrehte.
Ms. Richards, Mr. Emery,
gute Arbeit! Mein neues Buch ist immer noch nicht draußen. Alles zieht sich. Diese Trottel sind zu langsam, das geht mir gehörig auf die Nerven. Ein Genie lässt man nicht warten. Außerdem frage ich mich, warum sie bald einen Roman deines Vaters verfilmen wollen und nicht zuerst meinen? Ich weiß, was du nun denkst, Richards, dass er nicht meiner ist, weil er ihn geschrieben hat. Ich habe es überwacht, Ideen eingebracht, ihn motiviert. Der Thriller ist meiner!
Ich will mehr, schneller. Vier Kapitel diesmal, bis morgen Abend!
Mr. X
P. S. Brian ist eifersüchtig, seit ich ihm gesagt habe, dass Emery und du euch immer besser versteht.
Scott ließ den Brief sinken, als er ihn zu Ende gelesen hatte. „Dieser Irre.“
Das Klingeln des Handys riss Audrey aus ihrer Gedankenschleife. Es war die Klinik. Dr. Fitzgerald, der inzwischen wieder in die Klinik zurückgekehrt war, erklärte ihr, dass man eine Flasche Whisky im Nachttisch ihrer Mutter gefunden habe.
„Was? Nein!“ Audrey rieb sich die feuchte Stirn, fühlte sich wie im Fieber. Das konnte nicht wahr sein. Ihre Mutter war entschlossener denn je gewesen, damit aufzuhören. Da stimmte etwas nicht. „Wer hat sie ihr gegeben? Oder denken Sie, sie hat sie sich selber irgendwo gekauft?“
„Sie sagt Nein. Es wäre auch das erste Mal gewesen, dass sie das Haus weiter als zum Park verlassen hätte.“
Dennoch hörte sie die Skepsis in seiner Stimme.
„Das hätte doch jemand bemerkt, wenn sie länger weggewesen wäre“, beharrte Audrey.
„Soweit wir wissen, hatte sie keinen Besuch. Sie hat sich häufiger zurückgezogen und war oft auf ihrem Zimmer. Sie sagte, sie habe viel geschlafen und Ruhe gebraucht. Und dass Sie ihr geraten haben, in der Klinik zu bleiben.“
„Hat sie von dem Whisky getrunken?“
„Nein, aber sie hat nicht gleich erwähnt, dass die Flasche da ist. Verstehen Sie mich nicht falsch …“
„Dann muss sie jemand heimlich hineingelegt haben!“
„Glauben Sie?“ Wieder diese Skepsis.
Audrey riss der Faden. „Ich weiß es, verdammt! Ich will mit ihr reden.“
Wenige Sekunden später war ihre Mutter am anderen Ende der Leitung. „Mir gehört diese Flasche nicht“, sagte sie schluchzend. „Ich habe sie auch nicht angerührt. Ich habe nur nicht gleich etwas gesagt, weil ich befürchtet habe, was nun geschieht, und selbst erst überlegen wollte, wie sie da hineingelangt ist. Aber mein Hirn ist wie ein Sieb. Ich muss ein paar starke Medikamente nehmen und schlafe daher viel. Es ist natürlich nicht immer jemand an meiner Seite, aber das hätten die bemerkt, wenn ich mich von der Klinik entfernt hätte“, sprudelte es aus ihr heraus.
Audreys Herz zog sich zusammen. „Ich komme zu dir. Wir klären das“, sagte sie so ruhig wie möglich.
„Nicht nötig. Du glaubst mir doch, Audrey, oder?“
„Ja, Mom, das tue ich. Gib mir noch mal den Arzt.“
Der war selbst überfordert. „Wir wollen nur das Beste für Ihre Mutter. Sie müssen nicht vorbeischauen. Wir passen besser auf sie auf.“
„Das merke ich.“
„Bitte, Miss Richards.“
Dann war wieder ihre Mutter in der Leitung. „Du brauchst nicht extra zu kommen, ich kann das selbst regeln. Ich bin kein Kind und lasse mir das nicht unterschieben.“
„Mom, du …“
„Nein, ich werde das allein regeln.“ Damit legte sie auf.
Scott ging neben ihr in die Hocke. Behutsam strich er ihr über den Arm.
„Er … Er war bei ihr. Eine neue Warnung!“, brachte sie noch heraus, dann fiel sie Scott um den Hals, und er hielt sie so fest er nur konnte.
Eine Stunde später rief die Klinik erneut an. Mit guten Neuigkeiten, wie Dr. Fitzgerald verkündete. Ein verwirrter Patient hatte zugegeben, die Flasche in der Stadt besorgt zu haben. Er habe ihrer Mutter damit ein Geschenk machen wollen und den Whisky in ihr Zimmer geschmuggelt. Es hatte eine Überraschung werden sollen.
„Es ist ein armer, alter Mann“, erklärte der Arzt. „Er hat kaum Geld und keine Familie, daher sucht er dauernd Anschluss. Manchmal leidet er unter Aussetzern. Normalerweise darf er nicht ohne Begleitung in die Stadt. Aber … meine Güte, wir sind kein Gefängnis. Trotzdem habe ich das Personal informiert. Wenn so etwas noch einmal vorkommen sollte, werden einige gehen müssen. Es tut mir leid, im Namen der ganzen Klinik.“
Audrey fiel ein riesiger Stein vom Herzen. „Sagen Sie das vor allem meiner Mutter.“
„Das habe ich bereits.“
„Gut, machen Sie Ihren Job, Doktor, oder ich sorge dafür, dass sie in eine andere Klinik kommt. Ich habe mich schon umgehört.“
„Sie will bleiben, Miss Richards.“
„Ist sie in der Nähe?“
„Moment.“
Die Stimme ihrer Mutter klang kräftiger und wurde nicht mehr durch Schluchzer unterbrochen. „Ich will wirklich hierbleiben, Schatz. Die meisten sind nett, und es haben sich alle so lieb entschuldigt, auch dieser alte Mann. Er tut mir leid. Er wollte mir nur eine Freude machen.“
„Du bist ein gütiger Mensch, Mom.“
„Ich hab dich so lieb, Kind.“
Scott sprach aus, was sie dachte, sobald sie aufgelegt hatte. „Er hat sich eine neue Marionette gesucht und sie in dem alten Mann gefunden.“
***
Ihre Muse streikte. Audrey fand auch am darauffolgenden Tag keinen Zugang mehr zu ihrer Geschichte, nicht einmal für ein paar Minuten. Der letzte Brief und die indirekte Drohung, mit der Mr. X noch einmal seine Macht verdeutlicht hatte, erstickte jede Hoffnung. Scott ging es nicht anders. Das war zu viel für sie beide.
Das Ticken der Wanduhr über der Tür ihres Zimmers schien immer lauter zu werden. Scott warf in regelmäßigen Abständen einen Blick darauf. Der Druck wuchs ins Unermessliche. Daher beschlossen sie, nach draußen in den Garten zu gehen.
„Wir schaffen es nicht“, stellte Audrey unnötigerweise fest. Nur noch drei Stunden bis zum Abgabetermin.
Scott lehnte sich an einen Baumstamm. „Was jetzt?“
Ein paar Vögel zwitscherten in den Ästen, die wie ein schützendes Dach über ihnen hingen und Schatten spendeten. Nach einem Regenschauer war es nun wieder heiß. Die frische Luft, hatte Audrey gehofft, würde den Nebel aus ihren Köpfen verjagen und ein paar der dunklen Gedanken dazu, die den Blick auf ihre Romanwelten versperrten.
„Dieses Ausharren macht mich verrückt“, sagte Audrey.
„Wir müssen es ihm mitteilen“, beschloss Scott.
Sie sahen sich verzweifelt an.
Audrey nickte schweren Herzens. „Wir schreiben ihm einen Brief.“
„Er muss einsehen, dass wir keine Maschinen sind und er nichts erzwingen kann.“
Da hatte er absolut recht. „Ich möchte ihm sagen, dass ich nichts mehr von seinen Versprechen glauben kann.“
Scott schüttelte den Kopf. „Das könnte erst recht nach hinten losgehen, Audrey.“
„Ich glaube, er ist so krank, dass er im Grunde überhaupt nicht rational denken kann. Das macht mir solche Angst. Die ganze Zeit über geistern diese Puzzleteile in meinem Kopf herum. Haben sie überhaupt jemals eine Bedeutung gehabt?“
Unvermittelt zog Scott sie an seine Brust und schlang die Arme um sie. Sie konnte den schnellen, unregelmäßigen Schlag seines Herzens an ihrer Wange spüren. Eine Träne löste sich und fiel auf sein Shirt. Er strich ihr übers Haar, so wie ihr Vater es früher oft getan hatte, wenn sie traurig war.
„Ich will, dass er zurückkommt. Er und Brian“, flüsterte sie.
***
Scott legte den Brief, den sie zusammen verfasst hatten, wenig später am Ufer des Sees ab. Die Zeilen hatte Audrey selbst geschrieben.
Mr. X,
wir müssen Sie diesmal enttäuschen. Der Druck, dem Sie uns aussetzen, erstickt jegliche Fantasie. Wir brauchen Hoffnung, keine weiteren Drohungen. Wie sollen wir da an die Aufrichtigkeit Ihrer Versprechungen glauben? Wir hätten die Geschichten fertig geschrieben, keine Frage. Aber so geht das nicht, unsere Kräfte schwinden. Wir wissen ja nicht einmal, ob Brian und mein Vater noch am Leben sind. Auf Ihr Verständnis hoffend, erwarten wir Ihre Antwort.
Audrey Richards und Scott Emery
Es war ihr mehr als schwer gefallen, Mr. X anzubetteln. Bei jedem Wort war sie versucht gewesen, die Feder des Füllers ins Papier zu rammen. Scott hatte sie immer wieder ermutigt, freundlich zu bleiben. Keine Beschimpfungen! Wie gern hätte sie Mr. X eine ganze Litanei davon an den Kopf geworfen. Aber dann wäre sie nicht besser gewesen als er. Sie musste Würde bewahren. Vielleicht würde der Brief tatsächlich etwas bei ihm bewirken. Sie betete darum.
***
Audrey ging im abgedunkelten Wohnzimmer auf und ab, bis sie das Klingeln an der Haustür zusammenzucken ließ. Wie von der Tarantel gestochen, sprang Scott von der Eckcouch auf. Seit ihrer Rückkehr vom See vor etwa drei Stunden saßen sie nun hier und durchforsteten noch einmal alle Hinweise, die sie bis jetzt hatten sammeln können. Auch den Roman von Hartman hatten sie sich erneut vorgenommen. Stündlich gab es neue Rezensionen dazu im Netz. Viele freuten sich schon auf das von der Presse bereits betitelte „neue Meisterwerk“.
Scott holte sie im Flur ein.
„Lass mich gehen“, bat sie. „Ich will kein Feigling sein.“
„Unsinn!“
Irritiert sah sie ihn an.
„Du bist kein Feigling. Aber ich habe Angst um dich, Audrey.“
Die Worte lösten Gefühle in ihr aus, die sie nicht recht einordnen konnte.
Es klingelte erneut.
„Wir gehen gemeinsam“, entschied Scott.
Audrey nickte. Als er die Tür einen Spalt öffnete, vernahm Audrey die Stimme von Hugh Longfield.
„Guten Abend. Ich wollte nicht stören.“
Scott und Audrey atmeten auf.
„Tun Sie nicht, Mister Longfield“, sagte Audrey und zog die Tür ganz auf.
Scott begrüßte den alten Mann. Audrey war überzeugt, dass seine Frau ihn geschickt hatte. In Händen hielt er einen Apple Pie, garniert mit frischer Sahne.
„Martha hat mich gebeten, Ihnen den Kuchen vorbeizubringen. Die Äpfel sind aus unserem Garten. Wir haben einen Überschuss dieses Jahr.“ Er lächelte und musterte Scott.
Audrey konnte den beiden nicht böse sein. Irgendwie waren sie so etwas wie Großeltern für sie geworden. Lächelnd nahm sie den Pie entgegen. „Der riecht ja köstlich.“ Der Duft erinnerte sie an Kindheitstage.
Mr. Longfield strahlte übers ganze Gesicht. „Wir hoffen, er schmeckt auch Ihrem Freund.“
„Scott ist ein guter Bekannter, der ein paar Tage zu Besuch ist“, stillte Audrey die offensichtliche Neugierde ihres Nachbarn ein wenig.
Mr. Longfield hob die buschigen Brauen. „Ah, verstehe, dann viel Spaß. Darf ich noch erfahren, wie es Ihrer Mutter geht?“ Er beugte sich ein wenig vor, nachdem er Audrey den noch warmen Kuchen überreicht hatte. „Ich will ja nicht taktlos erscheinen, aber Martha bat mich zu fragen.“
„Verstehe“, erwiderte Audrey und war sich sicher, dass Mrs. Longfield mit einem Fernglas hinter einem der Fenster ihres Hauses stand und alles genau im Blick hatte. „Es geht ihr gut.“
Die Antwort erleichterte den alten Mann. „Das freut mich.“
Scott schob sich an ihr vorbei. „Ich schaue kurz in den Briefkasten.“
Audrey nickte, und alles war zurück. Der ganze Albtraum.
Der Stimmungswechsel blieb Mr. Longfield nicht verborgen. „Habe ich etwas Falsches gesagt?“
Diesmal konnte Audrey nicht lächeln, beruhigte ihn jedoch. „Alles gut. Und vielen Dank für die Aufmerksamkeit.“
Hugh Longfields Gesichtsfarbe wechselte von Blassrosa zu Rot.
„Es ist gut, wenn man solche Nachbarn hat“, fügte Audrey hinzu und sah Scott nach. Ihr Brustkorb verengte sich.
„Wir machen uns nur Sorgen. Und ja, wir sind auch neugierig“, glaubte Mr. Longfield, nun ein Geständnis ablegen zu müssen.
„Ich danke Ihnen, für alles.“
Seine Augen nahmen einen solch warmen Ausdruck an, dass sie ihm einen Kuss auf die Wange drückte. Sein Mund formte sich zu einem O, und es verschlug ihm die Sprache.
„Sagen Sie Martha, dass ich das alles sehr zu schätzen weiß.“
„Das werde ich. Und wenn etwas sein sollte, Miss Marple und ich wohnen ja direkt gegenüber.“ Er zwinkerte ihr zu.
Scott kehrte unterdessen mit leeren Händen zurück.
***
Es war mitten in der Nacht, als Audrey aus ihrem Albtraum hochschreckte. Splitternde Fenster, Schreie, Hände, die sich an ihr festzuhalten versuchten, finstere Gestalten, die sie umschwirrt hatten, und eine Stimme, die nach ihr gerufen hatte. Sie hatte versucht, die Schatten zu durchbrechen.
„Dad? Dad? Dad?“ Ihre Stimme war zu leise gewesen, sie hatte lauter schreien müssen, es war ihr jedoch nicht gelungen. Es hatte nach Erbrochenem, Schwefel und Staub gerochen – und nach Blut. Da hatte sie gewusst, dass die Bombe bereits gezündet worden war. Doch sie hatte nicht alle vernichten können. Ein paar waren noch am Leben gewesen. Darunter sie und ihr Vater. Das Rufen nach ihr war lauter geworden, und da hatte sie erkannt, dass es ihr Vater gewesen war. So sehr sie sich angestrengt hatte, sie hatte seine Worte nicht verstehen können. Die Schatten waren nähergekommen und hatten sie zurückgedrängt. Mit aller Macht hatte sie versucht, sich weiter voran zu kämpfen.
„Ich gebe nicht auf. Ich gebe nicht auf …“, hatte sie geschrien.
Plötzlich schwebte Scotts Gesicht über ihr. Er hielt sie an den Schultern fest. Seine Miene verriet, dass er sich Sorgen machte. „Du hast geträumt, Audrey, nur geträumt.“
Erst jetzt bemerkte sie, dass sie schnell und abgehackt atmete. Ruckartig setzte sie sich auf und fiel Scott um den Hals. „Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben.“
Scott löste sich erst von ihr, als sie sich beruhigt hatte, blieb aber dicht an ihrer Seite. „Du hast recht. Ich habe versucht weiterzuschreiben. Es hat funktioniert. Ich bin zwar nicht ganz zufrieden damit, aber das bin ich sowieso nie.“
„Das ist toll. Ich muss auch …“
Das Klingeln ihres Handys ließ sie mitten im Satz abbrechen. Unbekannte Rufnummer.
Ohne zu überlegen, ging sie ran. „Hallo?“
„Miss Richards, eine wunderbare Nacht, nicht wahr?“
Scott suchte ihren Blick. Die Frage darin war nicht schwer zu erraten.
„Haben Sie unsere Nachricht erhalten, Mister X?“, fragte sie und versuchte, normal zu klingen. Seine betont ruhige, herablassende Stimme machte es ihr nicht gerade leicht.
„Allerdings! Du spielst mit dem Feuer, Kind. Es könnte jederzeit Boom machen, und ich könnte hier alles in die Luft fliegen lassen.“
Audrey stellte auf laut und legte das Telefon vor sich aufs Bett.
„Das ist kein Spiel. Jedes Wort ist ernst gemeint“, brach es aus ihr hervor.
Stille, die nach ein paar Sekunden durch ein Röcheln unterbrochen wurde.
„Was war das?“, flüsterte Scott.
„Mister X?“, fragte Audrey und biss sich auf die Zunge.
„Planänderung!“, meldete er sich wieder.
Erneute Stille. Die Sekunden wurden zur Zerreißprobe.
„Also gut, ich gebe dir neue Hoffnung. Und ich halte mein Wort, Miss Richards. Beleidigt mich nicht! Nicht noch einmal. Ihr habt etwas, das ich will, und ich etwas, das ihr wollt.“
„Wie können Sie sicher sein, dass wir schweigen, wenn Brian und Dad erst einmal frei sind?“
„Oh, das werdet ihr, glaub mir. Denk an das Mittelchen, das euch alles vergessen werden lässt!“ Das Lachen dieses Wahnsinnigen gefiel ihr nicht, ganz und gar nicht.
Scott ballte die Hände zu Fäusten.
„Glaub mir oder lass es, aber dann sagt es gleich“, fuhr Mr. X fort.
„Ein Zeichen!“, flehte Audrey. „Bitte! Ich will mit ihnen reden.“
Wieder Stille.
„Brian, sag etwas“, forderte Mr. X schließlich und klang desinteressiert.
Zwei Herzschläge später vernahmen sie Brians Stimme, leise und erschöpft. „Bitte findet uns. Beeilt euch!“
Er keuchte, wollte noch etwas sagen, doch Mr. X schnitt ihm das Wort ab. „Das reicht.“
Brian gehorchte sofort. Der Schmerz, der Audrey durchfuhr, war mit nichts zu vergleichen.
„Mein Vater“, brachte sie mühsam hervor und spürte, dass Scott sie stützte.
„Mister Richards, bitte!“, sagte Mr. X. Ein Rascheln war zu hören. Brians Keuchen verebbte. Brachte Mr. X ihn in einen anderen Raum oder weiß Gott wie sonst zum Schweigen?
Audreys Puls raste so schnell, dass ihr schwindelig wurde. Die Angst raubte ihr den Verstand. „Dad?“
Dann endlich, wie aus einer fernen Galaxie, Lichtjahre entfernt: „Mein Gott, Audrey!“ Er begann zu schluchzen.
Sie schnappte nach Luft. Der Druck auf ihrer Brust wurde unerträglich. Scott drückte ihre Hand fester.
„Daddy.“
Seine Stimme. Unverkennbar! Diese Klangfarbe, die Wärme, die Sanftheit. Wie sehr hatte er ihr gefehlt. Heiße Tränen liefen über ihre Wangen.
„Ich bin es, ja. Ich lebe. Wie geht es dir und deiner Mutter?“
Audrey holte Luft. „Sie vermisst dich. Gott, es gibt so vieles, das …“ Ein greller Schrei im Hintergrund ließ sie innehalten. „Wer war das? Brian?“
Keine Antwort, nur die Stimme von Mr. X. „Verdammt noch mal.“ Er schien abgelenkt.
„Dad?“, rief Audrey.
Der Schrei wiederholte sich.
Kurz darauf meldete sich ihr Vater zurück. „Liebling, hör zu. Ich bin kurz allein, aber das Telefon wird vielleicht abgehört. Sei vorsichtig!“
„Ist Brian etwas passiert?“, wollte Audrey wissen.
„Nein. Hör mir genau zu. Wir wollen nicht sterben, hörst du? Ich liebe dich und deine Mutter. Sag ihr das. Und danke Scott …“
Audrey presste das Handy fester ans Ohr. „Dad? Bist du noch dran?“ Kein Laut mehr. Aufgelegt! Sie ließ die Hand sinken.
„Sie leben!“ sagte Scott und klang, als wäre er gerade ein paar Meilen gerannt.
Die Worte ihres Vaters hallten in ihr nach. Sie ging zum Fenster, öffnete es und atmete gierig Luft ein. Die grün leuchtenden Augen einer streunenden Katze glotzten zu ihr herauf, bevor sie durch die Rabatten verschwand.
„Es ist unglaublich.“ Am liebsten hätte sie sofort ihre Mutter angerufen. Aber was, wenn sie es dann nicht schaffen würden, ihn und Brian zu befreien? Dann wäre es für ihre Mom, als würde er ein zweites Mal sterben. Ein eisiger Schauer überlief Audrey bei dem Gedanken. Das durfte nicht passieren.
„Ich hoffe, dass Mister X ab jetzt fair sein wird“, sinnierte Scott laut.
Urplötzlich fiel es Audrey wie Schuppen von den Augen. „Wir wollen nicht sterben , Scott!“, rief sie.
Perplex starrte er sie an, schüttelte dann den Kopf. „Natürlich nicht. Aber ich werde alles geben, um …“
„Nein!“, stieß sie hervor.
Scott legte die Stirn in Falten. „Nein?“
Sie sprang auf ihn zu und rüttelte ihn an den Schultern. „Wir wollen nicht sterben , hörst du?“
„Audrey, du brauchst keine Angst zu haben“, versicherte Scott ihr.
Die Worte blieben ihr in der Kehle stecken. Sie musste sich sortieren. „Versteh doch, das ist der Titel eines Romans, den mein Vater mal geschrieben, aber nie herausgebracht hat. Er fand ihn nicht gut genug. Ist schon lange her. Aber ich bin überzeugt, er meint ihn. Es ist ein Hinweis. Er ist so schlau. Dad, Gott, danke!“
Und urplötzlich begriff auch Scott. „Du meinst, darin findet sich ein Hinweis auf ihren Aufenthaltsort?“
Sie nickte energisch.