Die ganze Wahrheit
„
I
ch bin nie in dem Pariser Hotel angekommen. Man hat mich im Taxi entführt“, berichtete ihr Vater, nachdem sich die Aufregung ein wenig gelegt hatte. Er saß Scott und Audrey auf der Matratze gegenüber und erzählte, wie sich alles zugetragen hatte, soweit es seine Erinnerung zuließ. Zeitweise hatten ihm die Entführer ein Mittel eingeflößt, das seine Wahrnehmung trübte. Eine ganze Weile hatte er auch eine Schreibblockade gehabt.
Scott hing gebannt an den Lippen seines Idols.
„Ich bin ehrlich, Mister Emery, ich habe lange gedacht, Sie wären involviert. Es … es tut mir von Herzen leid“, gab ihr Vater zu. Seine Hände zitterten. Er war dünn und ausgemergelt. Wenn sie wieder zu Hause wären, würde Audrey ihn aufpäppeln, hegen und pflegen. Allerdings war sie sich sicher, dass sich ihre Mutter das nicht würde lange nehmen lassen.
„Ich bin so froh, dass deine Mom wieder aus ihrem Tief gefunden hat. Dank dir, wie Brian mir berichtet hat. Ich habe sie jeden Tag vermisst, so sehr. Euch beide.“ Er tupfte sich eine Träne von der Wange.
Audrey küsste ihn auf die Stirn. „O Dad, wir schaffen es hier raus.“
Wo blieb nur die Polizei?, fragte sie sich.
„Ich weiß zwar noch nicht, wie, aber ja, Audrey hat recht, wir schaffen es hier raus“, entgegnete Scott.
„Tut nichts, was euer Leben gefährdet, Kinder“, bat ihr Vater.
„Ich kann nicht glauben, dass wir uns auf diese Weise treffen.“ Scott schüttelte den Kopf.
„Und weiter?“, kam Audrey wieder aufs Thema zurück. „Sie haben dich entführt. Und du hast keine Ahnung, wer dahintersteckt? Entschuldige, dass ich so nachbohre, aber …“
„Ist schon gut“, beruhigte ihr Dad sie. „Nein, ich habe keine Ahnung. Am meisten hatte ich mit dem Kerl von vorhin zu tun. Er ist der Anführer, von ihm geht alles aus. Die anderen erhalten nur einen Anteil. Er ist besessen von Geschichten, besonders von meinen. Manchmal hat es Prügel gesetzt, in letzter Zeit immer öfter. Doch ich konnte nicht mehr.“
Schon allein die Vorstellung schlug eine tiefe Wunde in Audreys Herz. Sie umarmte ihren Vater noch einmal.
Ein paar Sekunden später erschien Brian mit einer dritten Schreibmaschine, die er auf den Boden in der Nähe der Tür abstellte. Ein Auge war blau und geschwollen. Audrey stand auf. Er winkte ab.
„Bleib, wo du bist. Mir geht’s so weit gut, aber ihr müsst schreiben. Ich soll euch sagen, dass ich alle fünf Stunden kommen und mindestens zwei Kapitel holen soll. Wenn nicht, dann … dann wird er es an mir auslassen. Bitte, Audrey, Scott, Monty.“
Kaum ausgesprochen, wurde Brian an der Schulter gepackt und zurück in den Flur gerissen, woraufhin sich die Tür sofort wieder schloss.
„Dieser elende Bastard“, fluchte Audrey und schluckte neue Tränen hinunter.
Ihr Vater legte eine Hand auf ihre Wange. „Wir haben schon so viel gemeinsam geschafft. Lass uns schreiben und weiter überlegen. Ich glaube an einen Gott und höhere Gerechtigkeit, du nicht?“
„Ich will zumindest daran glauben“, erwiderte Scott, und ihr Dad nickte ihm lächelnd zu.
Audrey stimmte ein. „Ich auch.“
***
Es schauderte Audrey, wenn sie an das dachte, was ihr Vater erzählt hatte. Sie hatten ihm Zähne gezogen, den Anschlag wie einen Terrorangriff aussehen lassen und dafür genügend Spuren gelegt. Alles war genial durchdacht gewesen. Und es machte ihr Angst. Angst, die sie weder Scott noch ihrem Vater zeigen wollte. Alle drei rangen sich Sätze ab, irgendwie!
„Ich weiß nicht, ob das, was ich schreibe, überhaupt einen Sinn ergibt“, murmelte Scott irgendwann.
Ihr Dad seufzte. „Geht mir ähnlich.“
„Verdammt, und ich hatte gehofft, mir von einem Genie wie Ihnen einen guten Rat einholen zu können“, erwiderte Scott.
„Mein Junge, ich bin Schriftsteller, kein Genie.“
Scott spitzte die Lippen, absolut nicht überzeugt. Audrey lächelte. Für ihn würde ihr Vater immer ein Idol bleiben.
„Ich hoffe, ich habe Sie nicht enttäuscht, Mister Emery.“
„Sie enttäuschen mich, wenn Sie mich nicht endlich Scott nennen. Ansonsten können Sie mich, glaube ich, nicht enttäuschen. Sie sind nicht nur der beste Autor, sondern auch ein netter Kerl.“
Das entlockte ihrem Vater ein Lachen, und seine Augen blitzten auf wie in alten Zeiten. Audrey hätte ihn stundenlang dabei beobachten können.
„Du bist ein Schleimer, Scott.“
„O nein, Audrey, sag es ihm.“
„Er sagt meistens ganz direkt, was er denkt und fühlt“, gab sie zurück.
Scott runzelte die Stirn. „Wieso meistens?“
Nun spitzte ihr Dad die Lippen. „Und hast du meiner Tochter schon direkt gesagt, dass du ein Auge auf sie geworfen hast?“
Das verschlug Scott die Sprache.
„Sieht ja ein Blinder. Und jetzt lasst uns weiterschreiben.“
Scott konnte immer noch nichts erwidern. Gut, dachte Audrey, dass es so düster im Raum ist, sonst würde er meine erhitzten Wangen sehen. Gleichzeitig aber dachte sie an Brian und machte sich wieder an Arbeit. Scott schlug eine Saite in ihr an, das war unverkennbar. Doch sie mochte Brian ebenso. Auf keinen Fall wollte sie einem von beiden wehtun.
„Audrey, ich …“, raunte Scott.
„Schreiben wir“, wiegelte sie ab.
Rund zwei Stunden später schaute Audrey von ihrer Schreibmaschine auf. „Ich glaube, ich habe eine Idee.“ Inzwischen hatte sie die Hoffnung aufgegeben, dass ihnen die Polizei zur Hilfe kam. Anscheinend hatten sie Brian falsch verstanden.
„Ich hätte es nicht gedacht, aber ich bin fertig“, berichtete ihr Vater.
Scott blies die Wangen auf. „Ich auch.“
Beide Männer sahen sie an. „Welche Idee?“, fragten sie gleichzeitig.
Bevor Audrey ihnen eine Erklärung geben konnte, öffnete sich die Tür. Diesmal tauchte Mr. X persönlich auf. Zumindest war Audrey sich sicher, dass es der Statur nach derselbe Mann war.
„Seid ihr so weit? Ich will was sehen.“
„Ja, fast“, antwortete Scott.
„Fast! Ihr hattet genug Zeit. Meine Großzügigkeit kennt Grenzen. Ich habe euch gewarnt!“
„Wir sind fertig. Sie wollten nur noch überarbeiten, aber das können wir später.“ Audrey schnappte sich die Seiten von allen und trat auf Mr. X zu.
„Ein braves Kind hast du da, Monty.“ Der Hohn in seiner Stimme war unüberhörbar.
Audreys Finger bohrten sich in das Papier. Seine Augen hinter der Maske funkelten gierig. Gerade als er die Hand danach ausstreckte, feuerte Audrey es ihm ins Gesicht. Das brave Mädchen konnte auch anders. Es war ihre einzige Chance, sie musste auf Risiko gehen. Nie im Leben würde sie dieser Psychopath lebend hier rauslassen. Früher oder später würde er sie umbringen. Alles musste jetzt schnell gehen. Sie stieß ihn zurück, ehe er reagieren konnte. Mit einem Aufstöhnen prallte er rücklings gegen die Wand. Scott und ihr Vater waren sofort bei ihr. Beide drückten ihn zu Boden.
„Bist du verrückt?“, rief Scott und suchte Mr. X nach der Waffe ab, die er ihnen abgenommen hatte.
Ihr Entführer wand sich wie eine Schlange unter ihm. Plötzlich löste sich ein Schuss!
Scott fiel zurück und hielt sich das Bein. „Verdammt, er hat mich getroffen.“
Mr. X versuchte, die Pistole auf Audrey und ihren Vater zu richten, doch sie waren schneller.
Ihr Dad konnte sie ihm entwinden. „Ich habe ihn.“
Audrey zog sich ihre Schnürsenkel aus den Sneakers und fesselte Mr. X damit. Danach robbte sie zu Scott, der die Zähne aufeinanderbiss, das Gesicht schmerzverzerrt.
„Wir müssen hier weg. Die sind …“ Er hielt inne.
Auch Audrey hatte die Geräusche gehört, die vom Flur in den Raum drangen. Scott und ihr Vater wollten sie zurückhalten, es gab jedoch kein Zurück mehr. Sie schnappte sich die Waffe und entsicherte sie.
„Wir werden euch alle töten“, schrie Mr. X.
Audrey trat in den Flur, die Pistole im Anschlag. Ein paar Yards weiter entdeckte sie eine Tür auf der rechten Seite, die nur angelehnt war. Sie hielt inne, lauschte. Keuchende Geräusche drangen von innen zu ihr.
Urplötzlich riss jemand die Tür auf. Ein weiterer Maskenträger. Von der Statur her nur ein wenig kleiner als Mr. X. Er trug Anzug und Krawatte. Ein Geschäftsmann, der nach Feierabend kranke Spielchen spielte? Audrey zuckte zusammen, wich ein paar Schritte zurück, hob die Waffe und zielte. Der Mann war nicht allein. Brian begleitete ihn, ein Messer an der Halsschlagader.
„Wieder zurück. Wo ist Mister X?“, fragte der Angreifer.
Brian machte keinen Mucks. Schweiß perlte auf seiner Stirn. Sein Blick war flehend auf Audrey gerichtet.
„Wir haben ihn festgesetzt“, antwortete sie und verengte die Augen.
„Ihr lasst ihn frei – oder ein Schnitt und er verblutet!“
Brian kniff die Lider zusammen und stöhnte.
„Mach schon!“, keifte der zweite Entführer. Sie wusste, er bluffte nicht. Was sollte sie tun?
„Bitte, Audrey!“, brach es aus Brian hervor.
„Zurück, rein da!“, brüllte Mr. Xs Komplize.
Audrey stieß gegen eine Kommode. Die Zeitschriften darauf fielen zu Boden. Aus dem Zimmer, aus dem Brian und sein Geiselnehmer gekommen waren, fiel Licht.
„Verflucht“, entwich es dem Entführer.
Audrey folgte seinem Blick – und glaubte nicht, was sie sah!
Brian bückte sich, doch es war zu spät. Eindeutig war das die Mappe, in der Brian seine Zeichnungen sammelte. Und eindeutig war das auf derjenigen, die bei dem Sturz herausgefallen war und obenauf lag, Miles, dessen erigiertes Glied Brian mit einer Hand massierte. Die Lust war auf ihren gut getroffenen Gesichtern deutlich zu sehen.
„Du Idiot“, zischte Brian.
Der Entführer war perplex.
Was wurde hier tatsächlich gespielt? Steckten die beiden etwa unter einer Decke?
„Sie ahnt es“, sprach es der Mann aus.
Brian sah Audrey direkt an, seine Augen glühten.
„Du Miststück, gib mir die Waffe“, verlangte der Maskierte. „Wir sollten dem Ganzen endlich ein Ende setzen, ich habe keine Lust mehr. Wir haben genug Geld gescheffelt. Und er hat gesagt, wir bringen sie um, wenn wir sie nicht mehr brauchen, lassen es wie gegenseitigen Mord aussehen. Jetzt ist es so weit. Mal ehrlich, Brian, scheiß auf den Boss. Wir schaukeln das jetzt alleine. Erst die Kleine, dann gehen wir da rein und erledigen den Rest.“
„Ich glaube es nicht“, flüsterte Audrey. Brian gehörte dazu. Die ganze Zeit über hatte er ihr nur etwas vorgespielt. Er war es auch gewesen, der ihr das Post-it mit der Warnung in Hartmans Buch geklebt hatte. Und ihr fiel seine Bemerkung ein, er würde auch Männer nackt malen.
„Das können wir nicht machen“, widersprach Brian seinem Komplizen, während sie Schritt für Schritt zurückwich. „Du schießt sowieso nicht, Audrey!“ Er lachte.
Ihr Finger lag am Abzug.
Plötzlich war Scott hinter ihr. Er nahm ihr die Waffe ab, und ehe sie sich versah, zielte er abwechselnd auf die beiden. „Aber ich tue es, darauf könnt ihr wetten!“
Brians Augen weiteten sich.
Auch sein Komplize wirkte plötzlich gar nicht mehr so entschlossen. Dennoch lachte er frech. „Das werden wir ja sehen, Arschloch.“
„Geh zu deinem Vater, Audrey.“ Scotts Stimme duldete keinen Widerspruch. So hatte sie ihn nie zuvor erlebt. „Bewacht den Bastard zusammen, ich kümmere mich um die hier.“
Audrey tat, was er sagte. Erst jetzt bemerkte sie, wie weich sich ihre Knie anfühlten.
„Was jetzt? Alles läuft aus dem Ruder“, brüllte Brian.
„Maul halten!“, wies sein Komplize ihn zurecht.
Einen Herzschlag später hörte sie ein Ächzen, dann Schritte – und einen Schuss, gefolgt von einem weiteren. Audrey hielt sich die Ohren zu. Spätestens zu diesem Zeitpunkt gaben ihr Beine nach. Sie sank neben ihrem Vater auf die Knie. Der zog sie an sich.
„Ich muss zu Scott“, brachte sie noch heraus.
„Mir geht es gut“, rief er, als hätte er sie gehört.
Audrey atmete auf. Doch es gelang ihr nicht, einen tiefen Zug zu nehmen.
Ihr Vater versuchte, seine Nervosität vor ihr zu verbergen. Mr. X knurrte vor sich hin. Da bemerkte Audrey, dass ihr Vater ihn geknebelt hatte.
„Sie hatten vor, uns alle umzubringen. Sie hätten es bei mir und Scott wie einen gegenseitigen Mord aussehen lassen.“ Was sie mit ihrem Vater gemacht hätten, daran wollte Audrey erst gar nicht denken.
Scott erschien in der Tür, die Waffe im Anschlag. Er ließ sie sinken und hinkte auf sie zu. Audrey zog ihn zu sich und fiel ihm in die Arme.
„Sie sind beide auf mich losgegangen und haben mir keine andere Wahl gelassen, als zu schießen.“
Audrey blickte zu Mr. X, der sich nach wie vor gegen die Fesseln wehrte.
Dann griff sie nach seiner Maske und zog sie ihm vom Gesicht.