Neuanfang
A udrey ließ die Kanne Tee in der Küche stehen und stellte zwei Tassen für ihre Eltern dazu.
In diesem Moment trat ihr Vater ein. „Störe ich?“
Sie lächelte. „Niemals!“
Er kam auf sie zu und nahm sie in die Arme. Seine Haut hatte ihre gesunde Farbe wiedergefunden, und das Strahlen in seinen Augen beruhigte Audrey gleichermaßen. Bald wollte er auch seine Zähne richten lassen. Audrey hatte ihm inzwischen auch die Puzzleteile gezeigt. Er hatte ihr erzählt, dass das Blut auf diesen nicht von ihm und Brian war, sondern von Ratten stammte.
„Gehst du zu ihr?“
Audrey nickte.
Ihr Vater küsste sie auf den Scheitel. „Ich liebe dich, Kleines. Und ich bin verdammt stolz auf dich.“
„Wir beide“, hörte sie ihre Mutter, die im Türrahmen stehen blieb.
Ihr Dad zog es gleich wieder zu ihr.
„Wir sehen uns später beim gemeinsamen Grillabend“, fuhr sie fort. „Und nicht vergessen: Der Fernseher und die Handys bleiben aus. Keine Neuigkeiten mehr vorerst.“
Davon hatten sie erst einmal genug.
Audrey stand stramm. „Aye, aye, Käpten Lauren.“
Leise lachend zogen sich ihre Eltern zurück. Ihr Vater dachte sogar schon wieder ans Schreiben. Ein gutes Zeichen. Auch sie wollte es trotz allem nicht aufgeben. Dass ihn hin und wieder Albträume plagten, versuchte er vor ihr geheim zu halten. Sie hatte ihn und seine Mutter zufällig darüber reden hören. Audrey wusste, dass er irgendwann zu ihr kommen und ihr alles erzählen würde. Keinesfalls wollte sie ihn drängen. Doch er sollte wissen, dass er sie nicht zu beschützen brauchte.
Sie goss Früchtetee in zwei Tassen und nahm sie mit auf die Veranda, wo es sich Grace auf der Schaukel, die unter dem Vordach des Blockhauses angebracht war, bequem gemacht hatte. Die Hütte war aus Zedernstämmen gebaut und lag an einem Südhang. An seinem Fuß ruhte der Francois Lake im Herzen von British Columbia. Ihre Eltern hatten in Kanada in solch einem Haus ihre Flitterwochen verbracht. Abgesehen von den Geräuschen der Natur war es hier ruhig. Und Ruhe brauchten sie nun alle erst einmal dringend.
Der Duft von Kiefern und Laubbäumen erfüllte die Luft. Audrey konnte nicht genug davon bekommen. Von drinnen hörte sie das Lachen ihrer Eltern. Sie waren so glücklich und wie zwei starke Magnete, die vorhatten, für immer zusammenzubleiben. Nie zuvor hatte Audrey die beiden so glücklich erlebt. So schafften sie es mit der Zeit, die Dunkelheit zu vertreiben, die noch über ihnen schwebte. Audrey wollte ihnen dabei helfen. Sie wusste, wenn jemand wirklich reich war, dann sie.
„Es ist wie ein zweites Leben. Es ist eine zweite Chance“, hatte ihr Vater gesagt, und ihre Mutter sah es genauso.
Grace lächelte. Es war das schönste Geschenk des Tages. Dennoch entging Audrey die Traurigkeit hinter ihrem Lächeln nicht.
„Es ist schön hier“, sagte ihre beste Freundin.
Audrey nickte und nippte an ihrem Tee. „Es ist schön, dass du dich entschieden hast, mit hierherzukommen.“
Das glitzernde Wasser des Sees blendete sie. Es hatte Scott von Anfang an angezogen. Seit einer Stunde war er am Ufer unterwegs.
„Ein bisschen herumstreunen und warten, was sich ergibt“, hatte er erklärt.
Und Audrey hatte sich gefragt, was er genau damit meinte. Wahrscheinlich hatte er es einfach nur so dahingesagt, dachte sie.
Scott und sie waren Freunde geworden. Sie war so dankbar, dass er ihr weiterhin beistand. Dass das nicht selbstverständlich war, war ihr klar.
Graces Finger wanderten zu Audreys. Sie hörte ihre Freundin tief durchatmen, bevor sie etwas sagte. Und Audrey wusste, sie sollte einfach zuhören, sie reden lassen.
„Dass Daniel der Anführer dieser – ich weiß nicht, wie ich sie nennen soll – war, hätte ich niemals gedacht, nicht im Entferntesten. Es gab keinen Hinweis, außer, im Nachhinein betrachtet, dass er Bücher, vor allem Thriller, mochte. Seine Karriere ist nicht so gut gelaufen, wie er es anfangs dargestellt hat. Das habe ich irgendwann mitbekommen und gehofft, er würde mit mir darüber reden. Ich dachte, er tut es sicher noch. Ich meine, so lange kannten wir uns ja nun auch wieder nicht.“
Audrey nickte stumm.
„Da fällt mir ein, dass er mich in gewisser Weise nach dir ausgefragt hat. Er hat es beiläufig klingen lassen, es waren jedoch gezielte Fragen gewesen. Mein Gott, wenn ich an seine Berührungen denke, wie wir miteinander geschlafen …“ Sie brach ab und atmete erneut tief durch.
Audrey drückte ihre Hand fester.
„Es tut mir so leid“, schluchzte Grace und senkte den Kopf.“
Spätestens jetzt wollte Audrey etwas sagen. Stattdessen zog sie Grace in die Arme und hielt sie fest. Daniel Chantler war der wahre Mr. X, der in Amerika auf seinen Prozess wartete. Die Entführung ihres Vaters und die Hauptplanung des Attentats in Paris hatte er zugegeben, obwohl es ein paar Tage gedauert hatte. Zu allem anderen wollte er sich nicht äußern, während seine Komplizen, Brian und Miles, im Krankenhaus lagen. Beide waren notoperiert worden. Sie würden ihre Verletzungen überleben. Und das war gut so.
Wie Audrey von den Behörden erfahren hatte, hatten sich Daniel und Brian in einem Chatroom für Literatur kennengelernt. Daniel hatte sich für die Romane ihres Vaters interessiert, vor allem dafür, wie er es geschafft hatte, ein Bestsellerautor zu werden. Brian hatte diese Frage ebenfalls beschäftigt. Beide waren zu dem Schluss gekommen, dass es da ein Geheimrezept geben musste. Und das hatten sie an sich bringen wollen. Es hatte vor allem mit Talent, viel Arbeit und Leidenschaft zu tun, einen guten Roman zu schreiben. Und natürlich gehörte ein Quäntchen Glück dazu. Das hatten Daniel und Brian auch schon vorher gewusst, aber nie geglaubt, dass es das allein sein konnte. Daniel stammte wie Miles und Brian aus einer Familie, die ihre Kinder unterdrückt hatte, statt sie zu fördern. Freunde hatten sie kaum. Doch sie verstanden es mit der Zeit, wie man sich Anerkennung verschaffen konnte. Durch Ruhm und Geld. Alle drei lechzten danach. Daniel schrieb nicht selbst, aber Brian. Und der kannte Miles. So schloss sich ein dunkler Kreis, der nicht nur Audreys Leben aus den Angeln gehoben hatte.
„Irgendwann ist der Plan entstanden. Wir haben immer weiter daran gefeilt“, hatte Brian bei seiner ersten Vernehmung gestanden. „Miles und mir hätte es gereicht, einen Batzen Kohle abzukassieren. Daniel hatte die Idee, Richards erst einmal zu schreiben, ihn so zu ködern. Aber dann haben wir herausgefunden, dass er einen Detektiv eingeschaltet hat. Die Sache wurde uns zu heiß. Also hieß es warten, bis sich alles beruhigt hatte – und ja, wir haben den Mistkerl von Schnüffler beseitigt. Er hat selbst nach Richards’ Verschwinden keine Ruhe gegeben.“
Brian hatte auch von der Narbe gesprochen, von der er Audrey gegenüber behauptet hatte, sie wäre ihm von seinem Vater zugefügt worden. Das war nicht wahr. Es war ihr Vater gewesen, als er einmal versucht hatte, Brian die Maske vom Gesicht zu reißen. Er hatte sich nie ohne gezeigt. Außerdem hatte er zugegeben, dass Miles eifersüchtig auf Audrey war, da er wusste, dass Brian nicht nur auf Männer stand. Er war bisexuell. Das erklärt ebenfalls, warum er damals erst so abweisend und kühl war, hatte Audrey gedacht, als sie davon gehört hatte. Er hatte den Ballast loswerden wollen, wie es den Polizeibeamten schien, und hoffte so wohl auf mildernde Umstände. Brian hatte die Schrift in den Briefen mit Absicht immer wieder verändert. Einmal hatte er sogar Scotts nachgemacht, um Audrey zu verwirren. Sie hatte durch ihre Erzählungen und Vermutungen Emery, laut Brian, im Grunde selbst ins Spiel gebracht. Und er hatte zugegeben, dass er es gewesen war, der bei Scott eingebrochen hatte.
„Der Plan war, ihm das Notizbuch von Richards unterzuschieben. Der Raum mit der Truhe war perfekt. Ich konnte ja nicht wissen, dass diese Putzschlampe dazwischenkommt und alles ruiniert. Audrey Richards kam uns gefährlich nahe. Wir hätten sie das Manuskript, das sie begonnen hat, fertig schreiben lassen, und dann hätten wir es so hingestellt, als hätte Scott sie getötet und dann sich selbst, weil er es nicht mehr ausgehalten hat … Na ja, danach musste ein neuer Plan her, als das schiefging. Später haben wir sie nach Gary gelockt. Das schien uns die beste Lösung. Alles war diesmal perfekt durchdacht. Dann wäre es eben da zum Streit zwischen Scott und Audrey gekommen. Es … es tut mir leid.“
Tat es das wirklich, auch nur ansatzweise? Audrey wollte nicht weiter darüber nachdenken. Das Ganze war eigentlich viel zu verrückt, um wahr zu sein.
Miles Steele hingegen schwieg beharrlich. Und Daniel rückte nur mit ein paar Brocken heraus. Demnach war Grace nur ein Druckmittel gewesen, ein Ass im Ärmel, das er noch ausgespielt hätte. Wie, das wollte sich lieber niemand vorstellen.
Das Puzzle fügte sich endlich zu einem Bild, das sie nach und nach wieder auseinanderbrechen wollte, um es durch ein anderes zu ersetzen. Eines, das ihre Zukunft zeigte. Frei, bunt, voller Lachen und Leben.
Grace löste sich von ihr. „Wenn ich unsere Geschichte in einem Roman lesen würde, würde ich sagen, das ist unglaublich irre. Doch das ist kein Roman. Ich habe Daniel wirklich gemocht, ich war verliebt.“
Audrey sah ihr in das von Tränen aufgequollene Gesicht. „Ich weiß, Süße. Ich mochte Brian auch.“
Grace fuhr sich über die gerötete Nase, schniefte und blinzelte ein paar Tränen weg, bevor sie fragte: „Und Scott?“
Für einen Augenblick glaubte Audrey zu erröten. Grace nickte Richtung Seeufer. Als sie ihrem Blick folgte, sah sie Scott am Ufer stehen. Er winkte ihnen, sie winkten zurück.
„Er ist echt nett. Und vor allem ehrlich!“ Audrey sah zu Grace hinüber und runzelte die Stirn. „Ja, er wäre etwas für dich.“
Grace stupste sie an und lachte kurz.
„Was ist?“, fragte Audrey.
„O Audrey, stell dich nicht dümmer, als du bist.“
Audrey lächelte, wurde dann jedoch wieder ernst und sah erneut zum Ufer. Scott stand immer noch an der gleichen Stelle, hatte ihnen inzwischen den Rücken zugewandt.
„Wir werden sehen, alles zu seiner Zeit“, sagte sie leise.
„Verstehe. Geh zu ihm, Audrey.“ Grace lächelte ihr gutmütig zu, als sie verlegen mit den Schultern zuckte. „Na los, ich glaube, er wartet auf dich. Und ich glaube, du willst es auch. Ich komme klar. Hey, ich bin ein großes Mädchen. Ich lass mich doch nicht unterkriegen.“ Sie ballte eine Hand zur Faust und hielt sie ihr hin.
Audrey schlug mit ihr ab. „Bin bald zurück.“
„Lass dir Zeit, Süße.“
***
Scott lächelte und blickte weiter auf den See hinaus, als sich Audrey zu ihm gesellte.
„Na, du Streuner“, begrüßte sie ihn. Die frische Luft, die über das Wasser zu ihnen wehte, umspielte sie.
„Na, Miss Richards.“
„Hat sich schon etwas ergeben?“, wollte sie wissen.
Langsam wandte er sich ihr zu. In seinen Augen lag ein warmer, aber zugleich geheimnisvoller Ausdruck. „Ja. Schön, dass du da bist.“
Und nun war sie es, die lächelte und spürte, wie ihr die Röte in die Wangen schoss. Es war zu spät, sie zu verstecken, denn sein Lächeln wurde zu einem verschmitzten Grinsen, das ihn verriet. Sie brauchten nicht viele Worte, um sich Danke zu sagen. Füreinander! Und dann spürte sie, wie seine Finger nach ihren suchten. Langsam, ganz langsam fügten sie sich ineinander und hielten einander fest. Es war ein stilles Versprechen – und noch mehr als das.
E N D E