Kapitel elf
Wenn Shanti gedacht hatte, es würde bei dem Festival um die Mittagszeit ruhiger werden, wurde sie nun eines Besseren belehrt.
Wenn überhaupt, so stellte sie fest, als sie zusammen mit Caine auf das Gelände zurückkehrte, waren wegen des bevorstehenden Wochenendes noch mehr Besucher gekommen. Die beiden DIs kämpften sich durch die Massen, die sich vor den verschiedenen Bühnen versammelt hatten, und Caine brüllte ihr über den ohrenbetäubenden Lärm hinweg zu, dass mehrere Bands mit völlig unterschiedlichen Musikstilen zu Ehren von Stigma auftraten. Eine Gruppe Pantomimen, unter dem Namen »The Tiresome Butchers« – die leidigen Pfuscher – bekannt, brachte eine surrealistisch anmutende Hommage zu den Klängen von »While My Guitar Gently Kills«, zwei einander zum Verwechseln ähnliche Schwestern aus Tennessee quälten sich durch eine Country-Version von »Tiger In The Subway«.
Als sie zur Pyramid Stage gelangten, stellten sie fest, dass diese jetzt komplett mit Sichtschutzwänden versehen war, während sich die abgesperrte Schlammgrube davor in ein Meer aus Blumen verwandelt hatte, welche die hilfsbereiten Polizisten für die trauernden Stigs dorthin gebracht hatten. Vor dem Sichtschutz auf der Bühne stand ein Schrein für Ethan – eine Mandoline auf einem Ständer im Rampenlicht, geschmückt mit Blumengirlanden.
Sie fanden Benno im Backstage-Bereich. Er wirkte leicht aus der Fassung gebracht.
»So einen Fall hatte ich noch nie, Chefin. Die Medien weltweit fordern Antworten, es kursieren bereits Dutzende Verschwörungstheorien.«
»Keine Sorge, Benno. Caine und ich werden den ganzen Nachmittag über hier sein. Wenn möglich, würden wir gern mit den Tarottänzern reden.«
»Ich habe ihnen gesagt, dass sie auf dem Gelände bleiben sollen. Ihr findet sie in ihrem Bus dort drüben.«
Es waren acht Tarottänzer – vier Männer und vier Frauen –, die etwas verloren auf Segeltuchstühlen saßen oder neben dem Tourbus halbherzige Dehnübungen machten. Shanti und Caine stellten sich vor, und es wurde offensichtlich, dass die Truppe noch immer traumatisiert war von den Ereignissen des Vortags.
»Könnten Sie uns ein bisschen mehr über Ihren Auftritt erzählen?«, bat Caine. »Vielleicht ist Ihnen ja irgendetwas Merkwürdiges oder Außergewöhnliches aufgefallen.«
»Wir hatten alles genauestens einstudiert«, sagte eine schlanke Frau mit Augen wie eine Porzellanpuppe. »Aber Ethan war immer für eine Überraschung gut. Das war nun mal seine Art.«
»Und um was für eine Überraschung handelte es sich diesmal?«
»Nun, niemand von uns kannte die Kostüme, die bekamen wir erst eine Stunde vor der Show. Ethan liebte Spontaneität. Er hatte acht Tarot-Outfits bestellt – die waren umwerfend, findet ihr nicht?« Sie sah die anderen um Bestätigung heischend an. »Anschließend hat er mit uns gesprochen und gesagt, wir sollten in die vorgegebenen Charaktere schlüpfen. Ich zum Beispiel war die Hohepriesterin.«
»Nur damit ich das richtig verstehe: Bis kurz vor der Show hatten Sie keine Ahnung, dass Sie Tarotkarten-Charaktere verkörpern sollten?«
»Das ist richtig. Selbstverständlich hatten wir eine Basis-Choreografie einstudiert, aber es war wirklich aufregend, unsere Bewegungen der jeweiligen Rolle anzupassen. Die fantastischen Kostüme waren sein Geschenk für uns. Ethans kleine Überraschung.«
»Du warst magisch, Kirsty. Du hast wahrhaftig gestrahlt«, sagte eine ihrer Kolleginnen.
»Danke, Süße. Wir waren alle magisch. Sie sehen, Inspector, Ethan hat uns inspiriert. Die meisten von uns haben schon oft mit ihm gearbeitet, und wir haben ihn verehrt. Er war sich stets so sicher, dass alles klappen würde, dass es tatsächlich klappte.«
»Sind Sie in dem Punkt alle derselben Meinung?«, fragte Caine.
»Ich nicht«, meldete sich ein junger Mann zu Wort.
»Oh, natürlich. Entschuldige, Fabrizio. Für dich war das ziemlich enttäuschend«, sagte Kirsty eilig.
Shanti und Caine wandten sich dem durchtrainierten jungen Mann zu, der von seinem Stuhl aufstand und auf sie zutänzelte. Alles an ihm deutete auf jahrzehntelange Pliés und Barrenturnen hin: die elegant nach außen gerichteten Zehen, die aufrechte Körperhaltung, der gestreckte Nacken, die herausgedrückte Brust.
»Ihr Name ist Fabrizio? Haben Sie andere Erfahrungen gemacht?«
Fabrizio antwortete mit starkem italienischem Akzent. »Es war ein Albtraum. Ethan hat diese prächtigen Kostüme verteilt, und wir brannten darauf, herauszufinden, wer wir sein würden. Und ich? Ich war der Letzte in der Reihe, wie immer, und es gab nur sieben Kostüme.«
»Für Sie gab es keins?«
»Nein. Pech für mich. So etwas passiert mir ständig.«
»Schätzchen, du scheinst zu vergessen, dass der arme Ethan tot ist«, schaltete sich eine weitere junge Frau ein.
»Das hat er nicht persönlich gemeint, Fabrizio«, versicherte ihm Kirsty. »Und das weißt du auch. Ethan war genauso enttäuscht wie du. Weißt du denn nicht mehr, dass er sogar jemanden zum Laden schicken wollte, damit er nachsieht, ob eines der Kostüme vergessen wurde?«
»Aber dafür war es ja leider zu spät.« Fabrizio bot ein Bild des Jammers. »Und jetzt werde ich nie wieder die Gelegenheit bekommen, zusammen mit Ethan Flynn als Tarotkarte aufzutreten.«
»Verstehe ich das richtig: Sieben von Ihnen waren auf der Bühne, als Tarotcharaktere verkleidet, während Sie hier warten mussten, Fabrizio?«, vergewisserte sich Shanti.
»Ich habe im Bus gelegen und geweint.«
»Haben die anderen noch ihre Kostüme?«
»Die haben Ihre Leute zur kriminaltechnischen Untersuchung mitgenommen«, sagte ein wunderschön aussehender junger Mann.
»Aber vor oder während der Show ist Ihnen nichts Ungewöhnliches aufgefallen? Zum Beispiel jemand, der sich an den Gitarren oder Verstärkern zu schaffen gemacht hat?«
Einhelliges Seufzen und Kopfschütteln.
»Wir haben das schon Tausende Male gemacht«, erklärte Kirsty. »Das war eine Show wie jede andere. Und Ethan war genauso liebenswürdig wie immer.«
»Niemand hat Wasser auf der Bühne verschüttet?«
»Wasser? Wieso?«
»Es tut mir leid, ich kann nicht ins Detail gehen, aber ich möchte, dass Sie alle überlegen, ob Sie versehentlich etwas auf der Bühne verschüttet haben oder ob Sie in Ethans Nähe irgendeine Flüssigkeit auf dem Boden bemerkt haben.«
Die Tänzer blickten einander ratlos an.
»Na schön, versuchen wir es anders«, schlug Caine vor. »Wer von Ihnen ist zu Ethan gelaufen, als er zu Boden gestürzt ist?«
Mehrere Tänzer hoben die Hand.
»Er war ganz offensichtlich tot«, sagte der schöne Mann.
»Ich wollte eine Mund-zu-Mund-Beatmung vornehmen, aber sein Gesicht …«, fügte eine der Frauen hinzu.
»Dieser schreckliche Geruch nach verbranntem Fleisch!«
»Und dann haben Sie beschlossen, ihn von der Bühne zu tragen?«, hakte Caine nach.
»Was hätten wir denn anderes tun sollen?«
»Wir hätten ihn doch nicht liegen lassen können, damit alle Welt ihn so sieht.«
»Ich musste … seine Hände von der Gitarre losreißen«, sagte der schöne Mann bekümmert.
»Das muss zutiefst traumatisierend gewesen sein.« Caine schüttelte teilnahmsvoll den Kopf. »Wenn Sie mit jemandem darüber reden möchten, wenden Sie sich bitte an unser Team. Man kann Ihnen professionellen Beistand vermitteln.«
»Ich würde Sie gern zu Tyrone Flynn befragen«, sagte Shanti. »Hat jemand von Ihnen vor der Show mit ihm gesprochen?«
Es entstand eine unbehagliche Pause.
»Wir gehen ihm eigentlich eher aus dem Weg«, antwortete eine Frau mit rasiertem Kopf. »Vor allem vor einem Gig. Er ist dann oft ein bisschen …«
»Nicht nur ein bisschen«, schaltete sich eine andere Tänzerin ein.
»… launisch. Außerdem hat er generell etwas gegen Tänzer, daher haben wir ihn so gut es ging gemieden.«
»Vielen Dank«, sagte Shanti. »Sie waren uns eine große Hilfe. Wenn Sie vorhaben, das Festivalgelände vor Sonntagabend zu verlassen, wären wir Ihnen sehr dankbar, wenn Sie einem unserer Kollegen Bescheid geben könnten. Und sollte Ihnen noch etwas einfallen, ganz gleich, wie unbedeutend es Ihnen erscheinen mag, zögern Sie bitte nicht, sich an einen unserer Officer zu wenden.«
Nachdem Shanti sich Notizen gemacht und Benno gebrieft hatte, fühlte sie sich plötzlich zutiefst erschöpft. Wer hätte gedacht, dass man auf einem Festival derartige Strecken zurücklegen musste?
Sie entdeckte Caine, der gerade die Ausgabe des POLICE-Magazins von der jungen Polizistin signierte, die Shanti gestern gefahren hatte.
»Anscheinend haben Sie einen Fan, Caine. Haben Sie ihr Ihren Half-Man-Half-Schwachsinn aufgetischt?«
»Ach, Shanti …«
»Egal. Ich habe jede Menge Papierkram zu erledigen und muss vor dem Abendessen noch eine Pressemitteilung verfassen, deshalb stoße ich später wieder zu Ihnen. Was haben Sie vor? Tantra-Massage? Darmspülung?«
»Sie wissen genau, was ich tun werde – ich werde Misty beim Singen zuhören.«
»Natürlich. Ich bin froh darüber, dass Sie Ihre Prioritäten in der richtigen Reihenfolge setzen. Geben Sie mir Bescheid, wenn Sie bereit sind, Ihre Arbeit wiederaufzunehmen.«
»Ich habe ihr gerade eine Nachricht geschickt, dass ich mich jetzt auf den Weg mache. Oh, sie antwortet … Augenblick, Shanti, sie schreibt, dass ihr ein weiteres Detail von ihrer Begegnung mit Ethan eingefallen ist.«
»Was für ein Detail?«
»Das erwähnt sie nicht. Sie hält es allerdings für wichtig. Sobald sie von der Bühne kommt, will sie mit uns reden.«
»Verdammt noch mal, Caine! Soll das ein Trick sein, damit ich Ihrer Schwester beim Singen zuhöre? Ich glaube, Ihnen ist gar nicht klar, wie wenig Zeit uns bleibt, um diesen Fall zu lösen. Vier Tage – jetzt nur noch dreieinhalb.«
»Laut Sparky Mudget fließt die Zeit.«
»Es gibt nur eine Sache, die die Zeit tut, Caine: Sie geht aus. Ihre Schwester hat hoffentlich wirklich nützliche Informationen für uns, denn sonst geht uns nicht nur die Zeit aus, sondern mir langsam auch die Geduld.«