Kapitel zwölf

Totengedenken

Caines jüngere Schwester sollte auf einer Lichtung auf dem Field of Avalon auftreten, umgeben von wogenden Silberbirken. Die beiden Cops schlängelten sich durch die überschaubare Zuschauermenge und suchten sich im Gras vor der kleinen Akustikbühne einen Platz.

Während sie auf Misty warteten, stellte Shanti fest, dass ihr für gewöhnlich so gelassener Partner neben ihr vor angespannter Erwartung zitterte.

»Um Himmels willen, beruhigen Sie sich, Caine. Sie sind ja schlimmer als Paul bei der Schulversammlung.«

»Ich bin so dankbar, dass Sie mitgekommen sind, Shanti! Sie haben keine Ahnung, wie viel Misty dieser Auftritt bedeutet. Meine kleine Schwester auf der Bühne in Glastonbury! Ich kann es gar nicht glauben.«

Eine bekannte Gestalt betrat die Bühne. Vula trug ihren üblichen persischen Hippie-Stil: ein buntes Tuch um den Kopf, Haremshose und eine wunderschön bestickte Weste. Ihre Finger mit den auffällig lackierten Nägeln schlossen sich ums Mikrofon, dann bat sie das Publikum in ihrem melodiösen kanadischen Tonfall um Aufmerksamkeit.

»Meine Freunde, an diesem magischen Nachmittag haben wir einen ganz besonderen Leckerbissen für euch. Vor zwei Tagen hat mich mein lieber Freund Ethan Flynn … ja, ja, Ethan … gebeten, mir ein paar Songs anzuhören, die ihm aufgefallen sind. Sie wurden geschrieben und performt von einer jungen Künstlerin, von der ich noch nie etwas gehört hatte. Aber das war typisch Ethan. Er hat es geliebt, aufstrebende Talente zu entdecken, denn für ihn gab es nichts Kostbareres als Authentizität – bevor Ruhm und Geld ins Spiel kommen.« Vulas Gesicht war inzwischen tränenüberströmt. »Ich bin mir sicher, Ethan wäre heute hier gewesen, vorausgesetzt, er war nicht für einen weiteren himmlischen Gig gebucht. Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich kann seine Anwesenheit unter uns spüren. Bitte nehmt euch einen Moment Zeit, um eure Nachbarn zu umarmen …«

Shanti zuckte zusammen und blickte angestrengt auf ihr Handy.

»Ich habe versucht, mich an den Ausdruck zu erinnern, mit dem Ethan die Songs beschrieben hat, die ihr gleich hören werdet – ›reines akustisches Gold‹, das hat er gesagt, meine Damen und Herren. Meine Freunde, begrüßt mit mir von Herzen … MISTY

Zu Shantis Überraschung war Misty allein. Keine Band. Keine Background-Sänger. Sie schlenderte auf die Bühne, eine Akustikgitarre in der Hand, wie ein Kind, das über eine Wiese streift. Wenn sie aufgeregt war, zeigte sie es nicht. Stattdessen gab sie sich verdutzt und verträumt – als sei sie gerade erst aufgewacht.

Eine Hälfte von Shantis Verstand tat, was er immer tat – er drehte und wendete den aktuellen Fall hin und her. Es gab so viele Komponenten und so viele Personen von besonderem polizeilichem Interesse. Caine hatte recht – auch jetzt wirkte Vula außerordentlich betroffen über den Verlust von Ethan Flynn. Natürlich, sie hatten beruflich jahrelang miteinander zu tun gehabt, doch sie schien absolut untröstlich.

Und dann fing Misty an zu singen – eine selbst verfasste Ballade über kindliche Unkompliziertheit, vorgetragen mit einer so einzigartigen, authentischen Stimme, dass die Rädchen in Shantis Hirn einfach stehen blieben. Ihre Ohren, ja, ihr ganzes Selbst öffnete sich für diese Kindfrau, die sie als albern abgetan hatte – als die oberflächlichere Hälfte von Caines nervtötender New-Age-Persona. Sie stellte fest, dass das gesamte Publikum verstummte, hingerissen von Mistys »akustischem Gold«. Dutzende Trauernde strömten erstaunt durch die Bäume und Zelte herbei, angezogen von dem bewegenden Gesang, suchten Erleichterung wie Durstige an einem munter fließenden Wasserfall.

Der Song handelte von Schmerz und Heilung. Davon, dass die Menschen dazu verdammt waren, Schmerz zu verursachen, weil sie selbst Schmerz empfanden. Und dass die Verheißung auf Trost in der Liebe lag.

Als Shanti sich zu Caine wandte, wirkte er plötzlich verschwommen, und zu ihrem Verdruss stellte sie fest, dass sie Tränen in den Augen hatte. Auch Caine weinte – echte, ungehemmte Männertränen. Sie schaute sich um und sah, dass Menschen jeden Alters und Geschlechts und jeder Herkunft Tränen über die Wangen strömten. Für Ethan. Für all das Gute und Reine, das die Menschen zerstört hatten.

Sie konnte nicht sagen, wie lange das Konzert dauerte. Der Nachmittag kannte kein zeitliches Maß, doch als der Applaus verebbte und sie sich in die Schlange einreihte, um CDs für Paul und Mum signieren zu lassen, wurde das Licht bereits schwächer.

Misty umarmte sie beide, als sei Shanti genau wie Caine ein geliebtes Geschwisterkind.

»Hat es dir gefallen, Vince?«, fragte sie atemlos.

»Ich bin sprachlos«, sagte Caine. »Einfach nur wunderschön, Liebes.«

»Und dir, Shanti? Danke, dass du gekommen bist.«

»Es war … es war … ach verflixt, Misty, mein emotionales Vokabular ist ziemlich begrenzt. Aber du hast Bereiche in mir berührt, von denen ich gar nicht wusste, dass ich sie habe. Mehr kann ich dazu nicht sagen.«

Sie schlenderten zusammen zwischen den Bäumen hindurch, und Misty erzählte ihnen aufgeregt von den Angeboten und Anfragen von Produzenten und Journalisten. Sie hatte jede Menge Lob bekommen, und Vula hatte sie eingeladen, in ihrer Radiosendung zu singen.

»Aber das lasse ich mir nicht zu Kopf steigen«, sagte sie. »Ich habe nicht vor, mich an diese Etappe meines Lebens fesseln zu lassen. Alles wird zu seiner Zeit passieren.«

Zeit? Herrgott, Caine hatte recht gehabt. Und Sparky Mudget ebenfalls. Die Zeit floss wirklich, und der Nachmittag war verdunstet wie Wasser, das man auf eine Bühne gesprenkelt hatte. Shanti hatte beinahe vergessen, warum sie eigentlich hergekommen war.

»Misty, ich weiß, dass dir gerade viel durch den Kopf geht, aber Caine hat mir erzählt, dir sei noch etwas eingefallen von deinem Gespräch mit Ethan …«

»Ja! Ich habe mich daran erinnert, als ich vor dem Auftritt geübt habe. Ungefähr zur Hälfte eines der Songs kam mir plötzlich ein Bild in den Sinn – eine Erinnerung. Vielleicht hat es gar nichts zu bedeuten, aber mir gefror schlagartig das Blut in den Adern, weshalb ich aus dem Tritt gekommen bin und noch einmal von vorn anfangen musste.«

»Erzähl weiter«, drängte Shanti.

»Als Ethan mit mir sprach … ihr erinnert euch, dass ich erzählt habe, wie er meine Hand genommen hat …«

»Nachdem Tyrone ihn beleidigt hat.«

»Ja, es war kurz bevor Vula die Bühne betrat, um das Publikum anzuheizen. Ihr müsst wissen, die meisten Künstler bestehen darauf, dass die Bühne vor einem Gig komplett leer ist. Allerdings habe ich jemanden die Stufen an der Rückseite der Pyramid Stage herunterkommen sehen.«

»Kannst du ihn beschreiben?«

»O ja. Die Person werde ich niemals vergessen.«

»Nun sag schon … Das könnte wichtig sein!«

»Ich habe sie nur flüchtig aus dem Augenwinkel gesehen, aber etwas an ihrem Verhalten erweckte meine Aufmerksamkeit. Etwas Verstohlenes, Verschlagenes.«

»Würdest du die Person wiedererkennen?«

»Es war einer der Tarottänzer.«

»Ach du lieber Himmel! Ist dir klar, dass das unser Mörder sein könnte? Denk scharf nach. Welcher von den Tänzern war es?«

»Es war der Tod«, flüsterte sie.