Kapitel vierzehn
Shanti ließ sich von der jungen Fahrerin durch die Menschenmassen nach Kilton chauffieren. Hier und da bat sie sie, anzuhalten, damit sie sich in den Läden, die nur während des Festivals öffneten, mit dem Nötigsten eindecken konnte.
Froh darüber, dass ihr Saab auf Anhieb ansprang, fuhr sie anschließend den Totterdown Hill hinauf. Auf der Straße vor dem alten Gehöft waren noch immer zwei Streifenpolizisten postiert.
»Sie können jetzt Feierabend machen!«, rief sie durchs offene Fenster. »War alles ruhig?«
»Ja, Chefin. Tyrone Flynn ist ausgezogen.«
»Wie bitte?«
»Nach Hause zu seiner Mutter.«
»Mein Gott! Dieser Mann …«
»Er hat gesagt, Sie hätten ihn bereits befragt, und da er weder verhaftet ist noch unter Hausarrest steht, könne er gehen, wann und wohin auch immer er wolle.«
Shanti freute sich am Ende eines langen Tages stets auf ein heißes Bad, aber das hier war etwas ganz Besonderes. Die kleine Kunststoffbadewanne zu Hause, die sie mit einer bunt zusammengewürfelten Spielzeugschar teilte, war ja schön und gut, die riesige Klauenfußwanne in der Flieder-Suite jedoch eine ganz andere Nummer. Shanti ließ sich fast eine Stunde lang einweichen, bis zu den Ohren im wohlriechenden Wasser, das so heiß war, wie ihr Körper es eben noch aushalten konnte.
An der Wand gegenüber hing ein riesiges, altes Bild in einem Eichenrahmen. Shanti brauchte einen Moment, um zu realisieren, dass es sich um ein wunderschönes Gemälde der Unworthy Farm um achtzehnhundert handelte. Damals erstreckte sich das Land über Hunderte von Morgen, auf denen zahllose Arbeiter-Cottages standen. In der linken unteren Ecke entdeckte sie eine in rote Jacken gekleidete Jagdgesellschaft, die auf prächtigen Pferden einherritt, begleitet von einer Meute Jagdhunde und mehreren Jagdhornbläsern, während der arme Fuchs sich unter den Wurzeln eines Baumes verkroch.
Vincent Caine duschte und rasierte sich in den Sanitäranlagen von WaterAid und zog sich ein sauberes Shirt an. Anschließend genoss er eine einfache, ausgewogene Mahlzeit im Hundred Monkeys Café, bevor er sich zu Misty und einigen ihrer Freunde im Trance-Zelt gesellte.
»Vince, ich möchte dir die besten Freunde auf der ganzen Welt vorstellen: Tempest, Zara und LukeyLuke.« Misty drehte sich zu den anderen um. »Das hier ist mein großer Bruder. Ist er nicht süß?«
Zunächst wirkte Caines Tanzstil ein wenig unbeholfen. Inmitten dieser coolen jungen Leute fühlte er sich etwas unsicher, doch schließlich ergriffen die eindringlichen Rhythmen von ihm Besitz, die jedes Gespräch – selbst jeden Gedanken, um genau zu sein – ohnehin unmöglich machten. Bald musste er nichts anderes mehr tun, als zu lächeln und sich dem zunehmenden Tempo der Musik zu ergeben – genau wie die anderen sich windenden, schwitzenden Leiber um ihn herum.
Als Shanti sich mit Primrose Vowles’ frisch gewaschenen Handtüchern abrubbelte, hörte sie kaum den Lärm des Festivals.
Sie hatte vor, sich nur schnell für zehn Minuten ins Bett zu legen, um sich ein bisschen auszuruhen, aber als sie dann aus einem zutiefst verstörenden Albtraum hochschreckte, war es fast dunkel. Der Traum war so lebhaft gewesen, so echt! Jemand hatte auf der Matratze neben ihr gekniet und ihr etwas ins Ohr geflüstert. Als sie sich aufsetzte, war ihr eiskalt. Niemand war da, natürlich nicht, aber ihr Kopf schwirrte vor Furcht einflößenden Gedanken und Gefühlen. In diesem uralten Himmelbett hatte Ethan Flynn die letzte Nacht seines Lebens verbracht. Zum ersten Mal bemerkte sie eine Reihe kunstvoll geschnitzter Eichengesichter, die von den oberen Stützstreben auf sie herabblickten, zähnebleckend oder den Mund weit aufgerissen vor stummem Zorn wie die Wasserspeier an alten Kathedralen. Zumindest kam es ihr so vor.
Sie würde sich beeilen müssen, wenn sie probieren wollte, was Primrose zum Abendessen zubereitet hatte. Shanti sprang aus dem Bett und zog das rot-gold gemusterte Kleid an, das sie auf die Schnelle in einer der Festival-Boutiquen gekauft hatte. Jetzt stellte sie fest, dass es sich um ein indisches Design handelte – ähnlich den Saris ihrer Mutter, die diese zu ganz besonderen Gelegenheiten trug. Anschließend brachte sie ihre Frisur in Ordnung und legte ein bisschen Make-up auf. Die Frau, die ihr aus dem Ganzkörperspiegel entgegenblickte, war kaum in Einklang zu bringen mit der toughen, zynischen Polizistin, die sie noch vor ein paar Stunden gewesen war – Aschenputtel, du solltest auch auf den Ball gehen! Wenn doch nur Caine sie so sehen könnte, dachte sie, aber dann verbannte sie den Gedanken augenblicklich aus ihrem Gehirn.
Auf der Tanzfläche, vor dem erhöhten DJ-Pult, wo DJ MixxyBlasta sein Zauberwerk verrichtete, hatte DI Vincent Caine sein Hemd ausgezogen und gestattete Misty, Tempest, Zara und LukeyLuke, seinen Oberkörper mit UV-Farbe zu beschmieren. Im zuckenden Stroboskoplicht, zum wummernden Beat, tauchte er ein in die fließende Ekstase der Bewegung. Hände kreisten in wabernden Oszillationen wie die klassischen Tänzerinnen, die er in Thailand gesehen hatte. Die Augen schlossen sich im Rausch der Verzückung, der Körper wirbelte hin und her, wand und drehte sich, bis der Tanz zu einer Meditation überging, bei der es keinen Tänzer mehr gab, nur noch den pulsierenden Herzschlag der Musik und die euphorische Wärme von Freundschaft und Liebe, die über ihn hinwegspülte.
Die Stars, die sich in dem alten Bauernhaus eingemietet hatten, standen bereits rings um die riesige Esszimmertafel, an der Shanti und Caine Tyrone befragt hatten. Jetzt knisterte ein Feuer im Kamin, und es herrschte eine Atmosphäre wie im Green Room während einer glanzvollen Musikpreisverleihung. Es waren so viele berühmte Gesichter da, dass Shantis Herz für einige Schläge aussetzte. Sie fühlte sich fast so, als hätte sie Lampenfieber.
Wein floss. Stimmen hoben sich in lebhaften Gesprächen, begleitet von den Lachsalven eines Dutzends namhafter Stars der Musikindustrie, die sich in einem alten englischen Bauernhaus genauso entspannt fühlten wie in ihren eigenen Villen und Ferienanwesen rund um den Globus.
Einige erkannte Shanti sofort: Lil Bisto, den Grime-Musiker aus Manchester; außerdem den Lounge-Bar-Sänger Zulu Waters sowie ein unglaublich gut aussehendes K-Pop-Trio, das sich Safe Squad nannte. Auf ebendem Stuhl, auf dem Tyrone sein Tattoo bekommen hatte, saß jetzt der Lead-Sänger von 6th Sense. Vor dem Kaminfeuer standen drei Silberveteranen der Musikwelt, in ein ernstes Gespräch vertieft: Royal Bronson, Gilish und der Schnulzensänger Marcel Snapper. Entweder betrunken oder high, geriet Boulevard-Luder Ulalla Strump auf ihren turmhohen High Heels gefährlich ins Wanken.
Nach einer Weile nahmen alle unter dem starren Blick der präparierten Tierköpfe an den Wänden ihre Plätze an der großen Tafel ein. Links neben Shanti saß Lil Bisto, rechts neben ihr stand ein außergewöhnlich großer, geschnitzter Stuhl.
»Dich hab ich schon mal gesehen, oder nicht?«, fragte Bisto.
»Entschuldigung?«
»Ich hab dich auf der Bühne gesehen, stimmt’s?«
»Nein … nein. Ich bin nicht in einer Band.«
»Klar. Du siehst aus wie ein Musikstar.«
»Danke. Nein, ich bin …«
Bevor sie zu Ende sprechen konnte, betrat eine Legende das Esszimmer und duckte sich fluchend unter den Balken hindurch. Es war Sista Tremble.
»Jetzt habe ich Spinnweben in den Haaren, verfluchter Mist!«, schimpfte sie.
»Oh, Babe! Lass mich dir helfen«, zwitscherte ein zierlicher Knabe, der unter dem Namen Glamdos bekannt war. Er sprang auf die Füße und fing an, unsichtbare Fäden aus Sista Trembles gewaltigem Afro zu ziehen.
Mit einem Seufzer ließ sich die Soul-Legende auf den Thron neben Shanti fallen, ein breites Lächeln auf dem tadellos zurechtgemachten Gesicht.
»Und du bist …?«, fragte sie.
»Shanti Joyce«, antwortete Shanti Joyce. »Ich bin mit Ihrer Musik aufgewachsen. Wirklich, ich habe jeden Ihrer Songs noch auf Vinyl! Ich kann nicht glauben, dass ich …«
»Du bist ja süß!«, dröhnte Sista Tremble. »Aber du musst unbedingt ›du‹ zu mir sagen, sonst komme ich mir ja ganz alt vor.«
»Du bist doch nicht alt!«, wehrte Shanti hastig ab.
Sista lächelte geschmeichelt und griff nach ihrem leeren Glas. »Eines kann ich dir versichern – wenn ich nicht auf der Bühne stehe, bin ich ein ganz normales Mädchen.«
»Ein ganz normales Mädchen, das gern ein Glas ganz normalen Wein trinkt«, sagte Marcel Snapper und massierte ihr die kräftigen Schultern.
Dann schenkte er Sista ein Glas Rotwein ein und ein weiteres für Shanti. Die Flasche in der Hand, wartete er, bis Sista das Glas geleert hatte, und goss nach. Sie trank das Glas aus, und er goss erneut nach.
»Danke, Marcel. Jetzt bin ich wieder ein Mensch.« Sie seufzte.
In diesem Augenblick wurde ein völlig überladener Servierwagen von einer überaus servilen Primrose Vowles ins Esszimmer geschoben.
»Deshalb kommen wir immer wieder«, verkündete Marcel Snapper, als Primrose die dampfenden Platten auf den Tisch stellte. »Vergiss den Opium Club oder das Nowadays – wir wollen Primrose’ Rindfleisch-Nieren-Pastete, und warte, bis du erst mal ihre hausgemachte Eiscreme probiert hast. Noch Wein, die Damen? Ihr habt ja kaum etwas getrunken!«
»Ein Toast, meine Damen und Herren!«, donnerte Sista Tremble, und ihre kraftvolle Stimme brachte sämtliche anderen Gespräche am Tisch umgehend zum Verstummen. »Ein Toast auf unseren lieben Freund, der vor uns gegangen ist, und zwar weit vor seiner Zeit.« Alle hoben ihr Glas. »Auf Ethan, den himmlischen Boten der Liebe.«
»AUF ETHAN!«, brüllten die Megastars.
»Aber nicht auf seinen Bruder, dieses Arschloch!«, flüsterte Sista Shanti ins Ohr.
In einem namenlosen Abyssus der Töne wurde die Entität, ehedem bekannt als Caine, eins mit der Musik der Sphären. Er selbst war nicht mehr anwesend. An seiner Stelle befand sich nur noch ein animalistischer Körper, grinsend und zuckend in orgastischen Verrenkungen.
Shanti lag auf dem Rücken und betrachtete mit einem mulmigen Gefühl die sich bewegenden Wasserspeierköpfe an den Stützstreben des Himmelbetts, während sie angestrengt versuchte, sich an die Gespräche zu erinnern, die sie während dieses langen Abends geführt hatte. Normalerweise hätte sie jetzt ihre Beobachtungen in ihr iPhone diktiert, aber das hätte eine Reihe von Bewegungen erfordert, die ihr aufgequollener Bauch und ihr angeschlagener Kopf nicht zuließen. Wenn sie jetzt jedoch einschlief, würde sie womöglich alles vergessen. Nein. Sie musste den Abend in Gedanken noch einmal Revue passieren lassen, damit sie am nächsten Morgen mit Caine die wichtigsten Punkte besprechen konnte.
Der Abend war ein wirbelnder Strudel aus Wein, Essen und Ausgelassenheit gewesen, widergespiegelt in den Glaskuppeln mit den ausgestopften Tieren auf sämtlichen Anrichten. Doch zwischen all den Kuppeln war sie auf wertvolle Informationen gestoßen, dachte sie, als sie sich jetzt ein hochinteressantes Gespräch mit Lil Bisto über Sista Tremble in Erinnerung rief. Trotz ihrer überschwänglichen Hommage an Ethan hatte sich herausgestellt, dass die Soul-Legende eine lange, bittere Geschichte mit den Flynns verband. Laut Bisto hatte alles vor zehn Jahren begonnen, genau hier, in Glastonbury, wo die junge Band Stigma die große Diva von dem wichtigsten Auftrittsplatz am Sonntagabend verdrängt hatte. Laut Bisto war das ein Einschnitt, von dem sich Sistas Karriere nie mehr ganz erholt hatte.
»Ich meine, sie ist immer noch eine Größe«, hatte er ihr anvertraut und sich dabei verstohlen nach der Soul-Lady umgesehen, »aber Sista ist eher so eine Retrosache, verstehst du, was ich meine? Eher etwas für die ältere Generation.«
Doch in diesem Jahr war Sista Tremble zurückgekehrt wie ein Racheengel. Der Auftrittsplatz am Sonntagabend gehörte wieder ihr – allerdings musste sie feststellen, dass Stigma ihr erneut die Show gestohlen hatten, indem sie das Festival auf eine derart dramatische Art und Weise eröffnet hatten. Mit Stigma konnte es offenbar niemand aufnehmen. War es möglich, überlegte Shanti leicht benebelt, war es möglich, dass Sista Tremble nach Glastonbury zurückgekehrt war, um Rache zu nehmen?
Was war sonst noch in dem riesigen Esszimmer der Unworthy Farm durchgesickert? Shanti rief sich den ergreifenden Moment ins Gedächtnis, als jemand die melodiöse A-cappella-Fassung von »Legend of You« anstimmte, in die die Künstler jeden Alters und jeden Genres in spontanem Gedenken an Ethan Flynn mit einfielen, begleitet von einem beeindruckenden Schlagzeugsolo von Gilish, der mit seinem Besteck auf Töpfe, Pfannen und Gläser einschlug. Die einzige externe Zeugin dieses bahnbrechenden musikalischen Moments war Shanti Joyce, Mitglied der arbeitenden Bevölkerung, Polizistin und alleinerziehende Mutter aus Camden Town, jetzt Yeovil. Und dennoch hatte keine einzige dieser Berühmtheiten ihren Platz zwischen ihnen infrage gestellt.
Tatsächlich war Shanti heute Abend in so viele Skandale und Gerüchte eingeweiht worden, dass sie es unmöglich fand, Dichtung und Wahrheit auseinanderzuhalten. Hatte sie sich das nur eingebildet, oder hatte sie wirklich ein zum Brüllen komisches Gespräch über einen mysteriösen Eindringling mitbekommen, der als »der Wichser von der Unworthy Farm« bekannt war? Anscheinend war irgendwer tagsüber durch die leeren Schlafzimmer geschlichen und hatte die persönlichen Besitztümer der weiblichen Gäste durchwühlt.
»Ich kann dir nur raten, deine Tür gut abzuschließen, Mädchen«, hatte Sista sie gewarnt.
»Ihr wisst ja, wie sehr ich Klatsch und Tratsch verabscheue …«, hatte sich Royal Bronson zu Wort gemeldet.
»Er liebt es«, flüsterte Sista ihr zu.
»… aber habt ihr gehört, was man sich über die arme Polly erzählt?«
»Polly?«, fragte Shanti.
»Er meint Polly Darton«, erklärte Sista. »Tribute-Sängerin in der Country-and-Western-Sparte.«
»Angeblich hat man der armen Frau über ein Dutzend 90-DD-BHs aus dem Koffer gestohlen.«
»Nein!« Shanti schnappte nach Luft.
»Doch!«, rief Sista. »Stellt sich bloß die Frage, wo man Diebesgut von solcher Größe verstecken soll?«
Anschließend hatten Shanti und Sista Tremble, beide unerhört betrunken, mit einem ausgelassenen Ratespiel über die Identität des ominösen Wichsers von der Unworthy Farm begonnen.
»Sieh dich doch mal im Raum um«, flüsterte Sista. »Es könnte der da sein … oder der … oder die da! Im Grunde kommt jeder infrage …«
»Vielleicht waren es alle zusammen!«, quiekte Shanti.
»Okay, der Nächste, der etwas sagt, ist es«, prustete Sista.
»Worüber amüsiert ihr zwei euch denn so prächtig?«, fragte Marcel Snapper.
»Oh, nichts, Süßer«, erwiderte Sista und sprengte beinahe ihr mächtiges Dekolleté. »Nur ein kleines Ratespiel … Ach du liebe Güte, ich glaube, ich habe mir vor Lachen in die Hose gemacht!«
»Nun, ich tippe auf den alten Vowles«, hatte Shanti gesagt. »Immerhin hat er die Schlüssel und eine tropfende rote Nase. Er hat sogar einen Hund namens Boner. Wie kann man seinen Hund nur ›Latte‹ nennen?«
»Ich glaube nicht, dass so etwas zum ersten Mal passiert ist. Auf alle Fälle werde ich eine Mausefalle in meine Unterwäscheschublade legen – man kann ja nie wissen. Also halte die Augen nach geschwollenen Fingern auf … oder anderen Teilen!«
»Aber warum bleibst du dann hier?«, fragte Shanti. »Ich meine, es ist verflucht kalt hier, oder kommt das nur mir so vor?«
»England ist kalt«, bestätigte Sista. »Und genau deshalb halten meine Leute stets Wärmedecken und elektrische Heizkörper für mich bereit. Jede Menge. Du solltest mal in mein Zimmer gehen – ich nenne es ›Sistas Sauna‹.«
»Ja, aber ist dir die Unworthy Farm nicht ein bisschen … wie soll ich es sagen? Ein bisschen zu … rustikal? Und die Vermieter sind schon ein wenig seltsam, nicht wahr? Und jetzt auch noch der …«
»Der Wichser von der Unworthy Farm? Hör zu, Süße, ich bin hier schon über ein Dutzend Mal abgestiegen, und ich habe vor, noch so lange zu kommen, wie es mir die Götter von Glastonbury gestatten. Im Grunde genügen drei Worte, um zu erklären, warum: authentischer englischer Charme.«
Gegen Ende der monumentalen Mahlzeit war Primrose ins Esszimmer gehuscht, hatte den Tisch abgedeckt und ihre hausgemachte Eiscreme serviert, die in der Tat göttlich war. Diesmal hatte sie ihren Sohn Seth mitgebracht, der ihr beim Abräumen half. Alles an dem mageren Teenager mit dem schlaffen roten Irokesen drückte Widerwillen aus.
Als Sista Tremble den Jungen am Arm fasste und ihn scherzhaft einlud, sich auf ihren ausladenden Schoß zu setzen und sich mit ihr eine Kugel Maulbeereis zu teilen, nahm Seths Aknegesicht ein noch tieferes Rot an als der Nachtisch.
»Kann ich jetzt gehen, Mum?«, fragte er mit jammervoller Stimme.
»Ich denke schon«, erwiderte Primrose. »Aber du bist vor Mitternacht wieder zu Hause.«
»Mitternacht! Das ist nicht dein Ernst! Da geht es doch gerade erst richtig los.«
Nachdem Seth das Zimmer verlassen hatte, hatte sich Primrose bitterlich beschwert, dass er sich mit seinen Kumpeln im Cider Bus treffen wolle. Anscheinend hatte jeder Einwohner von Kilton freien Zutritt zum Festival – eine Entschädigung für die Unannehmlichkeiten, die es verursachte. Und das nutzten Seth und seine Freunde natürlich aus, um »viel zu viel Zeit in diesem Sündenpfuhl« zu verbringen.
»Gott weiß, was sie dort anstellen …«, hatte Primrose gemurmelt, als sie den Speisewagen in den Korridor schob. »Nichts zu danken, gern geschehen.«
An diesem Punkt musste Shanti über ihren Erinnerungen eingeschlafen sein, denn als sie aufwachte, war das alte Bauernhaus in mondbeschienenes Schweigen gehüllt. Mit einem unangenehmen Geschmack im Mund und durchgefroren bis auf die Knochen, stieg sie aus dem Bett und stieß sich schmerzhaft den Zeh an einem mittelalterlichen Stuhl. Sie kippte den Inhalt ihrer Umhängetasche auf den Tisch, entdeckte eine Packung Aspirin und schluckte drei Tabletten mit einem Glas lauwarmem Wasser aus dem Badezimmer.
Aber wie sollte sie jetzt wieder einschlafen? Das riesige Bett war kalt wie ein Grab.
Im Trance-Zelt umarmte Caine seine Schwester und deren Freunde. Was für eine Nacht! Die jungen Leute würden bis Anbruch der Morgendämmerung durchtanzen, aber er hatte Arbeit zu erledigen, außerdem wartete sein warmer Schlafsack auf ihn. Irgendwann im Lauf der Nacht hatte er sein Shirt verloren. Aber das war okay. Es war immer noch warm draußen. Er schlüpfte nach draußen und ging den Hügel hinauf zu seinem Zelt. Oben angekommen, blieb er stehen, um ein paar Tai-Chi-Übungen zu machen und die frische Nachtluft einzuatmen. Sein Körper fühlte sich nach seinem wilden, yogischen Tanz wunderbar entspannt an. Sein Kopf war klar und ausgeruht. Er schickte allen Festivalteilnehmern metta – freundliches Wohlwollen –, vor allem aber öffnete er sein Herz für Queenie Flynn, Ethans trauernde Mutter. Anschließend machte er es sich in seinem Schlafsack bequem. Kurz bevor er einschlief, schickte er Dankbarkeit und Zärtlichkeit an seine Kollegin Shanti Joyce und hoffte inständig, dass auch sie für heute ihren Frieden gefunden hatte.