Kapitel fünfzehn
Shanti Joyce hatte keinen Frieden gefunden. Im Gegenteil: Sie befand sich im Krieg. Im Krieg mit erstickenden Bettdecken. Im Krieg mit ihrem hämmernden Kopf und brennenden Magen. Im Krieg mit den arktischen Witterungsbedingungen in ihrem Schlafzimmer.
Sie streckte die Hand unter der Decke hervor und tastete nach ihrem Handy. 1:15 Uhr. Shanti stand auf. Eine Decke über die Schultern gelegt, mäanderte sie barfuß durch das Labyrinth aus Korridoren und Treppenabsätzen, tappte die alten Eichenstufen hinunter und über die eiskalten Steinplatten in Richtung Küche, wo sie Licht brennen sah. Vorsichtig drückte sie die Tür auf und sah, dass jeder Teller, jedes Messer und jede Gabel gespült, abgetrocknet und ordentlich weggeräumt war. Am Tisch, über einen Teller mit Resten gebeugt, saß eine einsame Gestalt.
Während der Terrier sein struppiges Köpfchen hob und sie zähnefletschend aus dem Sessel vor dem großen, gusseisernen Herd anknurrte, sah Shanti, dass es sich bei der Person am Tisch nicht um Primrose, sondern um ihren Ehemann handelte – Bauer Vowles, den winzigen Mann mit der roten Nase aus dem Five Heads.
»Wirst du wohl still sein, Boner«, sagte er amüsiert. »Das ist doch keine Art, eine Dame zu begrüßen.«
»Schon gut«, erwiderte Shanti leicht beklommen. »Hunde, die bellen, beißen nicht.«
»Ja, so sagt man.« Vowles zwinkerte ihr zu. »Bei Boner trifft allerdings eher das Gegenteil zu. Er beißt normalerweise, anstatt zu bellen, nicht wahr, du kleiner Halunke?« Er streckte die Hand nach dem Hund aus, der knurrte und danach schnappte. »Er ist ein ausgezeichneter Jäger. Man muss ihn nur vor ein Erdloch setzen, und er zieht mit seinen scharfen Zähnen alles heraus, was drin ist: Wiesel, Ratten, Kaninchen, Dachse – da macht Boner keinen Unterschied.« Jetzt schmunzelte Vowles übers ganze Gesicht.
»Entschuldigen Sie bitte die Störung«, sagte Shanti. »Ich bin auf der Suche nach einer Wärmflasche. Ich möchte mich ja nicht beschweren, aber oben ist es verdammt kalt.«
»Oje, da kann ich Ihnen nicht helfen. Das ist das Problem mit einem alten Haus wie diesem. Die Menschen heutzutage sind an Zentralheizungen und anderen Komfort gewöhnt, aber das haben wir nicht. Kommen Sie, setzen Sie sich zu mir, meine Liebe, und wärmen Sie sich auf. Warten Sie, ich sehe mal nach … Nein, soweit ich weiß, haben wir tatsächlich keine Wärmflasche.«
»Oder eine zusätzliche Decke …«
»Dafür ist Primrose zuständig, und sie macht gerade ihren Schönheitsschlaf im Bungalow. Wenn Sie möchten, wecke ich sie …«
»Aber nein! Bitte nicht. Ich dachte, Sie schlafen hier im Haus.«
»Nicht, seit wir das B&B aufgemacht haben. Da war kein Platz mehr für uns. Wir haben es uns im Bungalow gemütlich gemacht, Primrose und ich, aber ich komme gern von Zeit zu Zeit rüber und setze mich vor den Aga. Das erinnert mich an alte Zeiten.«
Shanti bemerkte einen dicken Tropfen an der Spitze seiner Hakennase. Er zitterte, aber er fiel nicht herunter.
»Wissen Sie, was wir jetzt machen?«, fragte er. »Ich bringe Ihnen bei, wie die Einwohner von Somerset früher ihren Körper warm gehalten haben. Als ich ein Junge war, hat meine Mutter das für mich getan, Gott hab sie selig. Warten Sie hier. Es wird nicht lange dauern.«
Er stand auf, ein geheimnisvolles Lächeln auf den Lippen, und hinkte mit seinem steifen Bein zu der zweiteiligen Hintertür. Dort zog er Gummistiefel an, machte sich an dem uralten Schloss zu schaffen und trat hinaus in die Nacht.
Shanti blieb mit dem knurrenden, struppigen Terrier allein zurück. Mein Gott, was mochte der Alte vorhaben? Sie hatte einen anstrengenden Tag vor sich, und sie fühlte sich nicht sonderlich fit.
Die Tür ging auf, und Vowles trat ein und zog seine Gummistiefel aus. Er hielt einen Ziegelstein in den ledrigen Händen, den er ihr stolz entgegenstreckte. Die Polizistin in Shanti ging augenblicklich in Verteidigungshaltung, doch der kleine Mann humpelte an ihr vorbei zum Aga, wo er vorsichtig eine der Ofenklappen öffnete und den Stein hineinlegte.
»Ich mache das manchmal für Primrose«, sagte er mit einem sentimentalen Lächeln. »Sie friert auch ständig – genau wie Sie. Manchmal denke ich, ich würde mit einem Fisch im Bett liegen. So, jetzt warten wir zehn Minuten, und dann hält der Stein Ihre Zehen schön warm bis morgen früh.«
Die schwere Bratensoße von der Rindfleisch-Nieren-Pastete drohte Shanti wieder hochzukommen.
»Es geht mich ja nichts an, aber Primrose sagt, Sie sind von der Polizei.« Vowles setzte sich wieder und aß weiter.
»Das ist richtig.«
»Ich möchte nicht aufdringlich sein, aber Sie sehen gar nicht aus wie eine Polizistin. Eher wie eine von den Sängerinnen.«
O Gott! Sie trug noch immer den Sari. Anscheinend war sie mitsamt Kleidung eingeschlafen.
»Ich versichere Ihnen, dass ich Detective Inspector bei der Polizei von Yeovil bin und dass Sie mich lieber nicht singen hören wollen.«
»Oh, Sie haben gewiss eine schöne Stimme.« Er schmunzelte wieder. »Wenn ich mich nicht irre, untersuchen Sie den Tod des bedauernswerten Ethan. Eine schockierende Angelegenheit. Wir mochten ihn, ich und Primrose.«
Das Letzte, worauf Shanti Lust hatte, war eine nächtliche Plauderei, doch ob ihr übel war oder nicht – sie war Polizistin, und man wusste nie, was man bei einer solchen Zufallsbegegnung erfuhr.
»Kannten Sie ihn gut?«
»Nein, die Gäste sind mehr Primrose’ Sache. Aber wir waren ihm auf unsere Weise zugetan. Er verhielt sich stets respektvoll. Aber es ist, wie es ist – die Besten sterben zuerst, das sagt man doch so, oder? Primrose und ich haben das all die Jahre über mitbekommen. Der junge Ethan war nicht der Erste, und er wird auch nicht der Letzte sein, so leid mir das tut.«
Shanti starrte fasziniert auf den zitternden Nasentropfen.
»Wie denken Sie über seinen Tod, Mr. Vowles?«
»Ach, ich bin bloß ein einfacher Bauer. Was weiß ich schon? Meiner Meinung nach tragen sie selbst die Schuld daran. Bei manchen sind es die Drogen, bei anderen der Alkohol …«
»Und bei Ethan?«
»Bei ihm? Da war es der Sex.«
»Woher wissen Sie das, Mr. Vowles?«
»Ach, ich habe bereits zu viel gesagt. Er war ein netter junger Mann, seine arme Mutter wird sehr um ihn trauern.«
»Aber nein, Mr. Vowles, sprechen Sie weiter. Ich bin wirklich sehr an Ihrer Meinung interessiert.«
»Sagen wir einfach, Primrose und ich haben mehr als nur ein paar Gäste in der Flieder-Suite ein und aus gehen sehen. In der Nacht, bevor er uns genommen wurde, haben wir da oben jede Menge Drama mitbekommen.«
»Sie haben eine Auseinandersetzung mitangehört?«
»Gehört und gesehen. Ich saß hier, in Gedanken versunken – Sie müssen wissen, es war schon spät –, und so ein junges Ding kam hereingestürmt, weinend, schluchzend, völlig durcheinander. Ich habe versucht zu helfen, aber sie ist zur Hintertür hinausgerannt und in der Nacht verschwunden.«
»Das ist interessant. Können Sie die junge Frau beschreiben?«
»Hübsch. Gekleidet wie eine Pantomimin. Oh, und sie war Amerikanerin.«
»Konnten Sie hören, ob sie aus Kanada kam?«
»Bei allem Respekt, meine Liebe, die Leute kommen heutzutage von überallher. Nicht dass ich irgendwelche Vorurteile habe …«
»Selbstverständlich nicht.«
»Es ist mir gleich, welcher Rasse sie angehören, solange sie ihre Miete bezahlen. Aber was ich nicht verstehe, und vielleicht können Sie mir diesbezüglich helfen, ist, warum auf einmal so viele von ihnen da sind. Ich meine, wo wart ihr vorher? Ihr seid doch nicht plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht …«
Shanti betrachtete die zerfurchte Landschaft seines Gesichts. Unter den an Kieselsteine erinnernden Augen mit den buschigen Augenbrauen, die aussahen wie schneebedeckte Hecken, waren seine mit blaulila Äderchen überzogenen Wangen, gerötet von jahrzehntelanger Arbeit auf den Feldern. Sein Schädel war völlig kahl, dafür trug er einen üppigen schneeweißen Backenbart. Der zitternde Tropfen an seiner Höckernase trotzte nach wie vor dem Gesetz der Schwerkraft.
»Ich weiß nur, dass es in Kilton schon immer Vowles gegeben hat – so steht es in den alten Gemeindebüchern, und vermutlich haben sie schon viel früher hier gelebt. Übrigens stand das gesamte Dorf während der Pest unter Quarantäne – interessant, nicht wahr? Und die Vowles haben überlebt.«
»Wunderbar. Gratuliere.«
»Primrose und ich sind die erste Generation, die mit Menschen aus anderen Teilen der Welt in Kontakt gekommen ist. Und damit möchte ich niemanden verunglimpfen.«
»Selbstverständlich nicht. Es ist immer schwierig, wenn wir gezwungen werden, uns mit unseren kleinen Vorurteilen auseinanderzusetzen.«
Er lächelte wohlwollend. »Sie sind eine sehr verständnisvolle junge Dame, aber glauben Sie nicht, dass ich mich bei Ihnen beschweren werde. Ich bin jeden Tag dankbar für das, was ich habe: eine hübsche Frau mit einem guten Sinn fürs Geschäft. Sie hat die Unworthy Farm gerettet, auch wenn es mir nicht leichtfällt, das zuzugeben.«
»Sie meinen das Bed & Breakfast?«
»Das Bed & Breakfast, Unworthy Ices – sie ist unermüdlich. Ein Phänomen.«
»O ja, die berühmte Eiscreme von der Unworthy Farm.«
»Haben Sie sie etwa noch nicht probiert? Das werden Sie schon noch, glauben Sie mir. Primrose hat einen ganzen Schuppen voll mit dem Zeug!«
»Jetzt, wo Sie es sagen … Es gab Eiscreme zum Nachtisch. Maulbeere, glaube ich. Einfach köstlich.« Bei dem Gedanken daran drehte sich Shanti der Magen um.
»Hihi! Ich muss Ihnen etwas erzählen, was Sie zum Lachen bringen wird. Wenn es nach Primrose ginge, würde ich mit einem Eiswagen über das Festivalgelände fahren, aber diesem Plan habe ich einen Riegel vorgeschoben.«
»Das kann ich Ihnen nicht verdenken.«
»Sehen Sie, Miss Joyce, es fällt Ihnen vielleicht nicht leicht, das zu verstehen, aber ich bin ein Bauer, und zwar durch und durch. Genau wie mein Vater und sein Vater vor ihm – seit Generationen.«
»Primrose hat mir erzählt, die Landwirtschaft sei heutzutage ein hartes Geschäft.«
»Hart ist noch viel zu milde ausgedrückt. Die Supermärkte machen uns das Geschäft kaputt, ganz gleich, welche Richtung man einschlägt. ›Ihr müsst das Geschäft ausweiten‹, will uns der Bauernverband weismachen. Das Geschäft ausweiten? Wie denn? Soll ich auf meinem Land auch ein Festival aus dem Boden stampfen?« Er lachte laut auf. »Ich kenne mich nur mit der Landwirtschaft aus, und ich weiß nicht, was meine Vorväter sagen würden, wenn sie den Hof heute sehen würden – Unworthy Ices im ehemaligen Melkschuppen, Gästezimmer voller Popstars.«
»Von einem Ihrer Vorfahren hängt ein Porträt in meinem Schlafzimmer.«
»Ich bin in ebenjenem Bett zur Welt gekommen.«
»Es muss schön sein, auf ein solches Erbe blicken zu können. Und eines Tages wird Ihr Sohn den Hof übernehmen. Seth, so heißt er, nicht wahr?«
Vowles schob seinen Teller von sich, und in einem vermeintlich unbeobachteten Moment schoss seine lange Zunge aus dem Mund nach oben und leckte den Tropfen von seiner Nase.
»Der Stein ist so weit«, sagte er.
Sein steifes Bein nachziehend, durchquerte er die Küche und öffnete die Ofenklappe. Er griff hinein, fischte den heißen Stein mit einem Ofenhandschuh heraus und reichte ihn ihr mit einem nervtötenden Lächeln.
»Primrose und ich haben unsere Hochzeitsnacht in jenem Bett verbracht und seitdem noch viele Nächte. Daher wage ich mit Fug und Recht zu behaupten, dass Sie im Umkreis von hundert Meilen keinen bequemeren Schlafplatz finden werden.«
Shanti spürte seinen Blick im Rücken, als sie durch den dunklen Korridor und die Stufen seines Familiensitzes hinauf in ihr Gästezimmer huschte.
»Schlafen Sie gut, meine Liebe!«, rief er ihr nach.
Kaum hatte sie es sich im Bett gemütlich gemacht, erwachte das Festival dröhnend und wummernd zu neuem Leben, wie ein Riese, der in den Hügeln sein Tagwerk begann.