Kapitel sechzehn

Villa del Flynn

Vincent Caine trank vor seinem Zelt einen Tee und sah zu, wie die Morgendämmerung über dem schlafenden Festivalgelände aufzog. Es war einer jener kostbaren Momente, in denen sich eine embryonale Sonne und ein schwangerer Mond ein und denselben Himmel teilten.

Auf seinem Teebecher stand: Das Glas ist bereits zerbrochen.

Caine legte ein paar Stöcke auf das kleine Lagerfeuer, das vor ihm brannte, zog eine Decke um die Schultern und fing an zu meditieren. Er dachte an seinen ersten Lehrer, den alten Tu, der mit übereinandergeschlagenen Beinen auf einem Bambuspodest im Wald saß, das pergamentartige Gesicht beleuchtet von glühenden Kohlen in einer Kupferschale.

Der junge Caine war von dem hageren Mann völlig in den Bann geschlagen gewesen. Unter dem safrangelben Gewand hob und senkte sich Tus knochiger Brustkorb, seine vorstehenden Rippen erinnerten an ein herrenloses Ruderboot am Strand. Er machte eine seltsame Geste – er griff mit einer Hand zu und schob sie mit der anderen weg. So wollte er bildhaft darstellen, wie die Menschen versuchten, das festzuhalten, was sie für begehrenswert hielten, während sie das andere von sich schoben.

»Doch das ist töricht«, hatte er gesagt. »Wir können uns nicht an die Jugend, die Schönheit, die Gesundheit, an unsere Kinder oder unseren Status klammen. Je stärker wir daran festhalten, desto mehr leiden wir. Alles verändert sich. Nichts ist von Dauer.«

Dem Novizen erschien diese Vorstellung beängstigend. Caine dachte an Dylans Song »Everything Is Broken«. Verloren wir wirklich alles?

Der alte Mann trank den letzten Tropfen Tee. »Sieh dieses Glas. Ich hatte es viele Jahre. Ich halte es gern in den Händen und fühle seine Wärme. Aber sieh genau hin. Es ist mit feinen Rissen überzogen, wie die Falten auf meiner Hand. ›Das Glas ist bereits zerbrochen‹, sagt Buddha.«

Caine nahm das Glas vorsichtig aus den Händen des Meisters und drehte es im Licht. Er sah, dass die Oberfläche tatsächlich von unzähligen kleinen Rissen übersät war, die ihn an die blätterlosen Zweige eines Baumes im Winter erinnerten. In jenem Moment verstand er, dass das Glas gerade wegen seiner Risse schön war.

»Lebe den Wandel«, hatte der alte Tu gesagt. »Wenn wir den ständigen Wandel akzeptieren, umarmen wir die Freiheit. Während der Meditation sitzen wir mit entspannten Armen da, wir halten nichts fest, und wir schieben nichts von uns. Wir sind im Augenblick. Wir akzeptieren das Unvollkommene. Wir leben mit dem, was ist.«

 

Als Shanti aufwachte, wusste sie, dass alles irgendwie falsch war. Es war noch viel zu früh, doch das Zimmer war in ein obszön helles Licht getaucht, und ihr Kopf fühlte sich pelzig an wie der Fuchskopf im Esszimmer. Als sie sich umdrehte und ihr Gesicht im Kissen vergrub, stieß sie sich den Zeh an dem kalten Ziegelstein.

Zufälligerweise handelte es sich bei dem schrillen Alarmton ihres Handyweckers um einen Sista-Tremble-Song.

Das lauwarme Wasser, mit dem sie sich wusch, vermochte ihre Kopfschmerzen nicht zu mindern, außerdem konnte sie das Fenster nicht öffnen wegen des dämonischen Wummerns draußen. Zeit, nach Hause zu fahren, dachte sie. Warum fahrt ihr alle nicht einfach nach Hause?

In den Spiegel zu schauen war ein katastrophaler Fehler – Aschenputtel im Sari hatte sich in eine der hässlichen Schwestern verwandelt.

Was sie jetzt brauchte, war eine Tasse Tee. Einen Tee, dickflüssig wie Teeröl, mit genug Zucker, um den Zahnschmelz von ihren Zähnen zu ätzen.

In weniger als einer Stunde war sie mit Caine verabredet, und die Vorstellung, wie er ihr mit seinem taufrischen Gesicht erwartungsvoll entgegenblickte, brachte sie zur Weißglut.

Auf dem Weg zur Küche wäre sie beinahe die Treppe hinuntergestürzt. Als sie eintrat, sah sie Primrose in einer verwaschenen, geblümten Kittelschürze am Herd stehen. Es war jemand bei ihr – der wortkarge Landarbeiter Gavin Blackmore saß am Tisch, gekleidet in seinen weißen Arbeitsoverall, und kaute stumm sein Toastbrot. Mit seinen weichen, blonden Locken, dem rosigen Gesicht und den gleichmäßigen Zähnen sah er viel zu perfekt aus für die Unworthy Farm.

Primrose wandte Shanti das Gesicht mit dem schiefen Gebiss zu und flötete nervös eine Begrüßung.

»Sie sind ja früh auf den Beinen! Vowles hat mir erzählt, Sie hätten letzte Nacht eine nette Unterhaltung geführt. Die anderen kommen für gewöhnlich erst Stunden später herunter. Gavin und ich sind schon seit fünf Uhr auf den Beinen. Gavin hat bereits die Kühe gemolken, nicht wahr, Gav?«

»Hab ich«, murmelte er.

»Es wird heute wieder mal ein ziemlich heißer Tag werden, stimmt’s, Gav?«

»Wird es.«

»Ein perfekter Tag, um Wäsche zu waschen. Aber setzen Sie sich doch, plaudern Sie ein wenig mit Gav, und ich mache Ihnen ein ordentliches Frühstück.« Sie griff nach der Bratpfanne.

»Nur Tee«, lehnte Shanti ab. »Stark, bitte.«

»Sie können gern ein komplettes Frühstück haben, immerhin haben Sie dafür bezahlt. Die Eier sind gelegt, die Schweine geschlachtet. Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Ich stelle Ihnen etwas hin, und ich bin mir sicher, dass Sie Ihre Meinung ändern. Das wird sie tun, nicht wahr, Gav?«

»Wird sie.«

Die Stuhlbeine scharrten über den Fußboden, als Shanti neben dem melancholischen Mann Platz nahm, der augenblicklich begann, mit den Gegenständen auf der Tischplatte eine Art Schutzmauer um sich herum aufzubauen.

Shanti hörte das Zischen von Fett in der Pfanne; das monotone Ticken der Küchenuhr; Blackmores weiße Zähne, die das Toastbrot zermalmten; die wummernden Bässe auf dem Festival; das heftige Pochen in ihrem eigenen Kopf.

Nach einer Weile stellte Primrose einen Becher Tee und ein voll beladenes Tablett vor ihr ab. »Nichts zu danken, gern geschehen.«

Shanti starrte auf den schwarzen Blutpudding, das vor Fett triefende, in der Pfanne geröstete Brot, den aufgequollenen Schinken, die glibberigen Eidotter und die hodenförmigen Bohnen – ein Anblick, der ihre Geschmacksknospen für gewöhnlich Purzelbäume schlagen ließ, doch heute rebellierte ihr Magen.

»Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden«, sagte Primrose. »Ich muss die Wäsche sortieren. Wenn Sie etwas brauchen, wenden Sie sich an Gav. So machen wir es, nicht wahr, Gav?«

»Machen wir.«

Shanti schaufelte Zucker in ihren Tee, dann versanken sie und Gavin in angenehmes Schweigen.

Ihr Tischnachbar war jung – Ende zwanzig, höchstens dreißig, wenngleich es so aussah, als würde er keinen Rasierer benötigen. Er hätte gut aussehen können mit seinem kantigen Kinn und dem blonden Heiligenschein, wäre da nicht eine gewisse Trostlosigkeit, um nicht zu sagen Hoffnungslosigkeit von ihm ausgegangen. Während Shanti tapfer an der Ecke der gerösteten Brotscheibe knabberte, sah er sie misstrauisch an und zog sich bis ans äußerste Ende des Tisches zurück. Was war es, was ihm eine solche Angst einjagte? Die Tatsache, dass sie eine Frau war? Noch dazu eine Asiatin? Dass sie Polizistin war? Er musste das wissen, denn er hatte sie zusammen mit Caine auf dem Hof gesehen. Vielleicht fühlte er sich aber auch einfach nur unwohl in Gegenwart von anderen Menschen, Primrose ausgenommen.

»Ich hab gestern Abend etwas zu viel gegessen und getrunken«, erklärte sie ihren mangelnden Appetit.

»Oh.«

»Um ehrlich zu sein, bin ich noch ein bisschen benebelt.«

»Verstehe.«

»Ich wollte es vor Primrose nicht zugeben, aber das ist viel mehr, als ich schaffe.«

»Hm.«

»Vielleicht möchten Sie mir ein bisschen dabei helfen?«

»Nein.«

»Tja, ich kann leider nicht den ganzen Tag hier sitzen und plaudern. Die Arbeit ruft. Sie wissen ja, wie das ist.«

Sie trug ihren vollen Teller zur Spüle, trank den zuckerigen Tee aus und trat durch die Hintertür hinaus auf den Hof, wo der beißende Geruch nach Gülle die Morgenluft schwängerte.

Sie ging zu Primrose, die Wäsche auf die Leine hängte, allerdings nicht Vowles’ Kleidung. Nein, im warmen Sommerwind hing eine merkwürdige Mischung verschiedenfarbiger Kleidungsstücke – Velourslederminiröcke, spitz zulaufende BHs und paillettenbesetzte Korsagen, die offensichtlich einem der glamourösen weiblichen Gäste gehörten. Sie dachte an eine der Geschichten, die sie gestern Nacht gehört hatte … Der Wichser von der Unworthy Farm.

»Vielen Dank für das Frühstück, Primrose«, sagte sie. »Ich muss jetzt los.«

»Nichts zu danken, gern geschehen. Kommen Sie zum Abendessen? Es gibt Lammkarree mit Bratkartoffeln.«

Noch bevor Shanti antworten konnte, wurde die morgendliche Stille von einer Reihe widerhallender Schüsse zerrissen. Schlagartig schalteten sich ihre Cop-Instinkte ein. Sie wirbelte auf dem Absatz herum, fasste Primrose bei der Kittelschürze und riss sie zu Boden.

»Allmächtiger!« Shanti schnappte nach Luft.

Primrose, die auf dem Rücken lag, sah sie verwirrt an. »Du liebe Güte«, sagte sie. »Das ist doch bloß Vowles, der Spaß hat.«

»Spaß?«

Shanti half Primrose auf die Füße und stellte wieder einmal fest, wie kalt deren Hände waren.

»Ja, wahrscheinlich hat er einen Dachs erlegt. Obwohl, das ist normalerweise eher abends der Fall.«

»Ah, verstehe«, sagte Shanti. »Ich war früher im Norden von London stationiert. Wenn man dort einen Schuss gehört hat, konnte man sicher sein, dass es einen Toten gab.«

Während sie sprachen, kam Gavin Blackmore aus dem Haus, zog seine Stiefel an und ging zu einem Quad, dessen Motor dröhnend zum Leben erwachte. Einen Augenblick später raste er über die Felder, dem Horizont entgegen, die hellen Locken vom Fahrtwind gebauscht wie eine schnell dahinziehende Wolke.

Den leeren Wäschekorb in die knochige Hüfte gestemmt, sah Primrose dem Quad hinterher, bis es in der Ferne verschwunden war.

»Er macht nicht viele Worte«, stellte Shanti fest.

»Der arme Gav. Die Tragödie hat ihn zum Einzelgänger gemacht. Es ist eine Schande – er ist nämlich sehr clever, müssen Sie wissen. Ist aufs College gegangen. Er hätte jede Menge großartige Dinge mit seinem Leben anstellen können, doch dazu ist es leider nicht gekommen. Vowles und ich sagen immer, in einem anderen Leben wäre er mit Sicherheit genauso reich und berühmt geworden wie Ethan Flynn. Aber dann ist er abgestürzt, wie eine Krähe, die mit einem Flügel irgendwo hängen bleibt.«

»Was für eine Tragödie, Primrose?«

»Oh, darüber möchte ich nicht sprechen, wenn es Ihnen nichts ausmacht«, sagte sie und hängte einen getigerten Tanga mit einer Wäscheklammer an die Leine. »Das wühlt ja doch nur alles wieder auf.«

 

Shanti fuhr ruckartig den Totterdown Hill hinunter zum Five Heads, wo bereits Caine stand und auf sie wartete, exakt an der Stelle, die sie ausgemacht hatten, exakt zur verabredeten Zeit, exakt so nervtötend ausgeruht und frisch, wie sie es erwartet hatte.

»Guten Morgen, Shanti. Haben Sie gut geschlafen?«

»Warum sprechen Sie so laut?«

»Entschuldigung. Habe ich etwa die Stimme erhoben?«

»Sie haben irgendwie gequiekt, Caine, was noch schlimmer ist.«

Sie stieg aus dem Wagen und ging um die Motorhaube herum zur Beifahrertür.

»Hier, fangen Sie.« Sie warf ihm die Schlüssel zu. »Sie fahren.«

»Ach, Shanti. Darüber haben wir doch schon mal diskutiert. Sie wissen, dass ich nicht fahre.«

»Caine, ich bin nicht in der Stimmung für Auseinandersetzungen. Ich habe gesehen, wie Sie Auto fahren können.«

»Aber warum muss das jetzt sein?«

»Weil ich gerade die vierhundert Meter von der Unworthy Farm bis hierher zurückgelegt habe, und glauben Sie mir, das lief gar nicht gut. Also wischen Sie jetzt besser Ihre jämmerlichen Öko-Skrupel beiseite und setzen sich ans Steuer, wenn Sie nicht wollen, dass unzählige Menschen sterben und Ihr Karma für mehrere Leben befleckt ist.«

Zögernd stieg Caine ein, schnallte sich an und startete den Motor.

»Gut gemacht, Caine. Genau wie ein großer Junge.«

»Nehmen Sie’s mir nicht übel, Shanti, aber Sie kommen mir ein wenig empfindlich vor.«

»Könnten Sie mir bitte noch einmal verraten, was genau wir heute vorhaben? Aber bitte leise und in knappen Worten.«

»Um zehn haben wir einen Termin bei Queenie Flynn. Sie lebt mit ihrem Sohn Tyrone und dessen Frau Ophelia zusammen. Auf dem Anwesen wohnen außer den dreien, soweit ich weiß, noch weitere Mitglieder der Familie Flynn, aus unterschiedlichen Generationen. Das Haus wird schlicht ›Villa del Flynn‹ genannt; es liegt etwa eine Meile außerhalb von Frome. Könnten Sie bitte die Adresse für mich ins Navi eingeben?«

»Sie geben die Adresse ins Navi ein, Caine. Ruhig und friedlich.«

Caine tippte den Ort ein, dann gab er vorsichtig Gas und fuhr über die A361 Richtung Frome.

»Wie ist es denn so auf der Unworthy Farm?«, erkundigte er sich nach einer Weile.

»Herrgott, ich weiß es nicht. Der Vowles-Clan kommt mir vor wie eine Somerset-Version der Addams Family.«

»Sie hätten durchaus bei mir im …«

»Im Schlafzimmer war es kalt wie in Sibirien. Ich habe kaum ein Auge zugetan.«

»Ich hatte Ihnen angeboten …«

»Andererseits habe ich einige interessante Fakten erfahren, während Sie sich entspannt haben. Fakt eins: Vula hat die gesamte letzte Nacht vor Ethans Tod in dessen Schlafzimmer verbracht. Irgendwann ist es angeblich zu einer Auseinandersetzung gekommen, woraufhin sie aus dem Haus gestürmt ist …«

»Wollen Sie damit sagen, dass die beiden eine Beziehung hatten?«

»Fakt zwei: Sista Tremble hegt seit Jahren einen Groll gegen Stigma.«

»Sie haben Sista Tremble befragt?«

»Caine, ich saß gestern Abend neben den größten Musiklegenden des ganzen Planeten. Sista und ich sind wie alte Freundinnen.«

»Gute Arbeit, Shanti.«

»Gestern Abend kam mir das noch nachvollziehbar vor, aber ich nehme an, es ist zu weit hergeholt, dass jemand in ihrer Position einen anderen aus Missgunst aus dem Weg schafft.«

»Ich bin stets davon ausgegangen, dass Mord ein großer Problemlöser ist. Niemand ist über seine Grundinstinkte erhaben.«

»Halten Sie die Klappe, Caine.«

»Es passt nicht zu Ihnen, die Dinge zu überspitzen.«

»Wissen Sie, wer Marcel Snapper ist?«

»Ein Schnulzensänger aus den Siebzigern. Neuerdings wieder angesagt – Stichwort ›Retro-Ironie‹.«

»Vor ein paar Jahren haben ihm die Ärzte gesagt, wenn er nicht aufhören würde zu trinken, hätte er nicht mehr lange zu leben. Seitdem hat er keinen Tropfen mehr angerührt und befindet sich stattdessen verquererweise auf einer Art Mission, jeden, dem er begegnet, in einen Alkoholiker zu verwandeln. Ich war eines seiner Opfer.«

»Verstehe. Aber denken Sie nicht, dass wir in letzter Konsequenz selbst für unser Handeln verantwortlich sind?«

»Ach, Caine, würden Sie bitte mal im Seitenfach nachsehen, ob irgendetwas darin liegt, mit dem ich Sie schlagen kann?«

Caine reagierte nicht. Er blickte konzentriert auf die Straße, dann sagte er: »Ich habe nachgedacht, Shanti. Normalerweise begrenzen wir in dieser Ermittlungsphase unsere Verdächtigenliste – momentan jedoch scheint sie stetig länger zu werden. Zunächst einmal haben wir Tyrone, aber das versteht sich von selbst. Außerdem ist da Vula, die versäumt hat, ihre Beziehung mit Ethan zu erwähnen, sofern sie denn eine hatte. Und dann denke ich noch an Sparky Mudget oder einen seiner Mitarbeiter – sie verfügen über das technische Verständnis, die Elektronik zu manipulieren. Auch die Tarottänzer dürfen wir nicht vergessen. Und jetzt überlegen wir, ob womöglich ein rivalisierender Künstler – jemand wie Sista Tremble – hinter seinem Tod steckt. Also, was wissen wir? Wie sehen die Fakten aus? Ethan wurde vom Tod ermordet. Das hilft uns allerdings nicht weiter. Ich muss zugeben, dieses Puzzle wird von Minute zu Minute spannender. Wie denken Sie darüber, Shanti?«

»Ich denke, dass ich auf die Rückbank klettern und ein kleines Nickerchen machen sollte, bevor wir in Frome eintreffen.«

Während Caine den Saab durch die kurvenreichen grünen Tunnel lenkte, hatte Shanti ein Déjà-vu von langen, von Übelkeit und Erbrechen begleiteten Autofahrten mit ihrem Dad hinter dem Steuer. Und Caine schien heute ganz besonders redselig zu sein …

»Ich möchte mehr über Ethan wissen, möchte besser verstehen, wer er war. Was für eine rätselhafte Person. Volatil. Wie Quecksilber. Es hat beinahe den Anschein, als sei er bei jedem, mit dem er es zu tun hatte, ein anderer Mensch gewesen. Misty war völlig in seinen Bann geschlagen. Seine Fans waren fasziniert. Für Queenie war er eine Art Prophet. Vula und die Tänzer sahen in ihm den Quell unerschöpflicher Liebe. Nur Tyrone hat behauptet, dass Ethan hinterhältig und gehässig sein konnte.«

»Zu viele Worte, Caine.«

»Tut mir leid, Shanti. Was kann ich für Sie tun?«

»Im Seitenfach ist eine Schachtel Paracetamol, außerdem eine Dose Red Bull. Bitte geben Sie mir beides und fahren Sie möglichst ruhig.«

 

Die gewaltigen Tore der Villa del Flynn waren fest verschlossen, das Grundstück war umgeben von einer dichten Lorbeerhecke und einem schwarzen, schmiedeeisernen Zaun mit goldenen Spitzen. Jeder der hohen Zaunpfosten war verziert mit einem brüllenden Löwen.

Caine lehnte sich aus dem Wagenfenster und drückte auf einen Summer an der Sprechanlage aus gebürstetem Stahl. Kurz darauf sagte eine Stimme: »Wenn ihr von der Presse seid, könnt ihr euch verpissen.«

»DI Caine und DI Joyce. Wir sind mit Queenie Flynn verabredet.«

»Warten Sie.«

»Du lieber Himmel«, knurrte Shanti. »Ich hoffe, diese Leute machen keine Scherereien. Ich bin nämlich wirklich nicht in der Stimmung dafür.«

»Das ist mir noch gar nicht aufgefallen, Shanti.«

Sie warteten geschlagene fünf Minuten, dann öffneten sich die Tore.

Caine rollte eine lange, gepflasterte Zufahrt entlang, vorbei an einem beeindruckenden Stallgebäude mit einem Uhrenturm, wo Teenager in Reitstiefeletten glänzende Hengste striegelten. Wohin auch immer sie blickten, sahen sie geschäftige Menschen – beim Rasenmähen oder beim Jäten der farbenprächtigen Blumenbeete. Eine verdutzte Lamaherde und ein einzelner Strauß hinter einem Lattenzaun beobachteten, wie sie an ihnen vorbeifuhren. In einem Kinderbereich tobten schreiende Kids auf einer aufblasbaren Hüpfburg, sausten mit einem Mini-Bentley durch die Gegend oder schossen einen Fußball auf ein halbhohes Tor. Shanti fiel auf, dass die Ähnlichkeit unübersehbar war: Jeder der Menschen hier hatte etwas von dem für die Flynns charakteristischen Aussehen – symmetrische Züge, ein Grübchen im Kinn und außergewöhnlich intensive smaragdgrüne Augen.

Das Haus selbst war riesig – ein weitläufiges, eingeschossiges Gebäude, das scheinbar endlos erweitert worden war. Caine parkte neben einer Reihe teurer Autos, jedes einzelne auf Hochglanz poliert.

Shanti warf einen kurzen Blick in den Spiegel der Sonnenblende. Verquollene Augen blickten ihr entgegen. Sie klappte die Blende wieder hoch, schnappte sich ihre Umhängetasche und folgte Caine, der bereits die breiten Stufen zu dem kunstvoll gearbeiteten, griechisch-römischen Eingang hinaufging – Säulen und glänzender Marmor.

Kaum standen sie vor der großen, lackierten Tür, wurde diese auch schon geöffnet. Queenie Flynn, von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet wie eine italienische Witwe, blickte ihnen durch einen schwarzen Spitzenschleier entgegen.

»Ah, Mr. Caine. Wie ich sehe, haben Sie Ethans Flehen erhört. Ich höre ihn Tag und Nacht rufen – ›Finde den, der das getan hat, Ma!‹ –, Tag und Nacht.«

»Danke, dass Sie uns empfangen, Mrs. Flynn. Sie erinnern sich an meine Kollegin, DI Shanti Joyce?«

»Sie sind mir beide von Herzen willkommen. Das Haus wurde übrigens von meinem verstorbenen Ehemann, Frankie Flynn, erbaut. Wenn Sie mir bitte folgen?«

Die schöne Witwe führte sie durch eine marmorne Eingangshalle, vorbei an kitschigen Gemälden von Queenie und Frankie, ihren Söhnen Ethan und Tyrone sowie preisgekrönten Rennpferden und ländlichen Gegenden in Irland. Irgendwann gelangten sie in einen überdimensionalen Raum mit einer Glaskuppel – anscheinend das Epizentrum des Hauses, der Körper einer Spinne, von dem zahllose Beine abgingen.

Mitten unter der Kuppel stand auf einem Sockel ein Zigeunerwagen mit rundem Dach. Sämtliche Oberflächen waren aufwendig von Hand bemalt und dick lackiert. Rechts und links davon befanden sich Becken mit kunstvollen Wasserspielen und kleinen Springbrunnen, in denen Koi-Karpfen schwammen.

»In diesem Wagen wurde Ethans Großmutter geboren«, erklärte Queenie. »Ihre Asche befindet sich drinnen in einer Urne. Ich halte diesen Ort für die Seele des Hauses, und Ethan ging es genauso. Genau genommen hat er das Kuppelgewölbe entworfen. Als kleiner Junge hatte er eine wundervolle Beziehung zu seiner Großmutter, und als sie starb, war er untröstlich. Wann immer ihm alles zu viel wurde, flüchtete er sich hierher und setzte sich in den Zigeunerwagen. Das war ein heiliger Ort für ihn. Ich habe oft gehört, wie er ihr drinnen sein Herz ausschüttete. Hoffentlich macht es ihm nichts aus, dass ich Ihnen das erzähle.«

»Das ist sehr bewegend«, sagte Caine leise.

»Für mich bedeutet der Zigeunerwagen etwas anderes«, fuhr Queenie fort. »In meinen Augen steht er für Unglück und … ja, Stigma. Die Gemeinde hat uns gehasst, als wir hierhergezogen sind, aber wir haben uns behauptet. Ein Flynn lässt sich nicht unterkriegen, von niemandem. Mit den Jahren haben wir mehr und mehr Land gekauft – kleine Stücke zunächst, dann sind wir in alle Richtungen expandiert, um das zu erschaffen, was Sie heute hier sehen. Genau wie Ethans Musikkarriere. Alles auf einer Ebene, Mr. Caine. Die Flynns bauen keine Treppen.«

Sie führte die beiden Polizisten durch weitere Korridore, bis sie in einen gewaltigen Wintergarten mit riesigen Pflanzen und gigantischen weißen Ledersofas gelangten.

Hinter den Scheiben sahen sie, dass mehrere Flynn-Kinder in einem gewaltigen Swimmingpool planschten. Ein prächtiges Pfauenpaar stolzierte völlig unbeschwert über das Gelände.

»Sie können dort drüben Platz nehmen, Ms. Joyce, und Sie kommen zu mir, wenn Sie so freundlich wären, Inspector Caine.«

»Bitte nennen Sie mich Vincent.«

»Wie der Heilige.«

»Oder der Maler.«

»Aber dann müssen Sie mich Queenie nennen. Puh, ist das heiß hier drinnen! Ms. Joyce, wären Sie so freundlich, kurz nach nebenan zu gehen und einen der Jungs zu bitten, die Türen für uns zu öffnen?«

Als sie den Wintergarten verließ, sah Shanti zu ihrer Verblüffung, wie Queenie Caines Hand fest in ihre nahm. Herrjemine, jetzt saßen die zwei tatsächlich in diesem potthässlichen Wintergarten und hielten Händchen.

Shanti schlenderte einen Flur entlang, bis sie zwei überdimensionierte Flynn-Burschen fand, die in einem Fitnessraum trainierten.

»Queenie lässt fragen, ob ihr so nett wärt, die Türen vom Wintergarten zu öffnen. Es ist zu warm.«

Als sie den Namen der Matriarchin hörten, ließen die jungen Männer die Gewichte fallen, trockneten sich eilig mit den Handtüchern ab, die sie um den Nacken gelegt hatten, und trabten in Richtung Wintergarten.

»Danke, Jungs«, sagte die in schwarze Spitze gehüllte Witwe, als die beiden ein Dutzend Türen aufschoben, die auf den Poolbereich hinausgingen. Sie klatschte in die Hände und rief den Kindern zu: »Ab mit euch! Die Erwachsenen haben Geschäftliches zu besprechen.«

Ohne zu murren, nahmen die Kids ihre Sachen und zogen sich zurück.

»Ich habe sie wirklich gern um mich«, sagte Queenie. »Der Pool ist hauptsächlich für die Kinder. Ethan und Tyrone haben nie schwimmen gelernt, und auch ich mag Wasser nicht besonders.«

»Brauchst du noch etwas, Queenie?«, erkundigte sich einer der beiden muskelbepackten Männer.

»Ich hätte gern einen Fruchtcocktail. Danke, Damon. Mehr bringe ich ohnehin nicht runter. Darf es auch etwas für unsere Gäste sein?«

»Fruchtcocktail klingt gut«, pflichtete Caine ihr bei.

»Was auch immer«, sagte Shanti.

Der Poolbereich war umgeben von weiteren einstöckigen Anbauten, was an ein kalifornisches Motel erinnerte. Jetzt verliefen die kleinen Wellen, das Wasser wurde wieder glatt und ruhig.

Nach einer Weile kamen ihre Getränke – Cocktailgläser, randvoll mit geschnittenem Obst und Papierschirmchen. Die Flüssigkeit im Glas schmeckte unangenehm süß.

»Dürfen wir Ihnen ein paar Fragen stellen, Queenie?«, erkundigte sich Caine.

»Sie dürfen. Aber gestatten Sie zunächst mir eine Frage.«

»Selbstverständlich.«

»Sind Sie gläubig, Vincent?«

»Ja, Queenie.«

»Und was ist mit Ihnen … Ms. Joyce, so ist Ihr Name, nicht wahr? Sie sind bestimmt Muslimin oder Hinduistin. Aber das ist schon in Ordnung. Ethan hat mir die Augen geöffnet für die Tatsache, dass es mehr als nur eine Leiter zum himmlischen Thron gibt.«

»Nichts dergleichen.«

»Eine Frau ohne Glauben … vielleicht eine Zynikerin?«

»Bei allem Respekt, Mrs. Flynn, ich glaube an das Gesetz. Das mag zwar kein religiöser Glaube sein, doch meiner bescheidenen Meinung nach ist es das System, das den Mörder Ihres Sohnes am ehesten der Gerechtigkeit zuführen wird.«

»Vielen Dank, dass Sie Salz in meine Wunden streuen.«

»Entschuldigung, ich wollte nicht …«

»Nein, nein, ich weiß, Sie machen nur Ihren Job. Fragen Sie mich, was Sie möchten.«

»Könnten Sie uns vielleicht ein paar Hintergrundinformationen liefern? Ethan und Tyrone waren Zwillinge, nicht wahr? Gibt es noch andere Geschwister?«

»O ja, es gab noch andere. Sechs habe ich bei der Geburt verloren – es war ein Wunder, als die Zwillinge zur Welt kamen. Ein paar Jahre später wurde mir Frankie, mein Ehemann genommen. Und jetzt … jetzt mein wunderbarer Ethan. Ich liege nachts oft wach und frage den Herrn, warum er mich derart auf die Probe stellt.«

Tränen strömten über ihr Gesicht. Caine drückte ihre Hand, und Shanti hörte ihn flüstern: »Zum jetzigen Zeitpunkt ist es schwer, das zu erkennen, Queenie, aber jede einzelne dieser Tragödien hat Sie stärker gemacht. Alles, was passiert ist, hat Sie zu der Frau werden lassen, die Sie heute sind, und Sie werden auch diesen Schicksalsschlag überstehen.«

»Gott segne Sie, Vincent. Momentan ist von meinem Herzen nichts übrig, verstehen Sie? Ich habe keine Tränen mehr. Das Einzige, was mich noch aufrecht hält, ist die Gewissheit, dass wir uns alle wiedersehen werden. Die Wiedervereinigung der Flynns im Paradies.«

»Erzählen Sie uns von Ethan als Kind«, bat Shanti.

»Er war der siebte Sohn eines siebten Sohnes. Oh, ich sehe Ihren skeptischen Blick, Ms. Joyce, aber der Legende nach macht ihn das zu einem Menschen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten. Eines steht fest: Ethan ist mit einer ganz besonderen Begabung zur Welt gekommen, und er hat das Leben aller verändert, denen er begegnet ist – sehen Sie sich doch nur einmal um.«

Sie deutete auf die zahllosen Beistelltische, auf denen gerahmte Fotos standen, die Ethan und Tyrone zusammen mit Mitgliedern des Königshauses und Prominenten zeigten. Auf dem Weg durchs Haus zum Wintergarten hatten sie zahlreiche Goldene, Silberne und Platinschallplatten an den Wänden hängen sehen.

»Wann haben Sie sein Talent bemerkt?«

»Schon ganz früh. Er war ein Wunderkind. Ethan konnte Noten lesen, noch bevor er Worte lesen konnte.«

»Wie der kleine Mozart«, bemerkte Caine.

»Ganz genau, Vincent. Sie haben es erfasst.«

»Haben Sie ihn unterrichtet, Queenie?«

»Gott behüte! Die musikalischen Gene sind an mir vorbeigegangen, obwohl ich ein ausgezeichnetes Gehör besitze. Sein Vater, Frankie Flynn, konnte gut Gitarre spielen, aber im Grunde hat meine Mutter, deren Asche in dem Zigeunerwagen unter der Glaskuppel liegt, Ethan inspiriert – Gott hab sie selig. Selbst als alte Dame hatte sie die Stimme eines Engels, und sie hat Ethan vergöttert. Die beiden waren unzertrennlich.«

»So etwas ist kostbar für ein Kind«, sagte Caine. »Wie alt waren die Zwillinge, als sie das erste Mal aufgetreten sind?«

»Ach, das war ein Wunder! Als sie fünf oder sechs waren, haben wir sie mitgenommen in Pubs und Wirtshäuser, und er spielte … der kleine Ethan spielte. Er hat die Leute in Entzücken versetzt. Ganz gleich, welches Instrument sie ihm in die Hand drückten – eine Geige, eine Holz- oder Blechflöte –, er ist auf den Tisch gesprungen und hat angefangen zu spielen. Um ihn herum wurde es schlagartig mucksmäuschenstill, und wenn er fertig war, bettelten die Gäste, dass er weiterspielen möge. Das arme Kerlchen war danach jedes Mal ganz fertig, und wenn ich sagte, dass jetzt Schluss sei, regnete das Geld nur so auf ihn herab. Mit vierzehn hatten die Flynn-Brüder ihren ersten großen Auftritt, auf dem Puck-Fair-Fest in Kerry, und sie waren die Sensation des Jahres. Danach traten sie im Fernsehen und auf Festivals auf, die Radiosender spielten ihre Songs, und es gab nichts, was sie aufhalten konnte. Als Frankie starb, wurde ich für die beiden Mutter und Vater zugleich. Ich gab ihnen Halt und schützte sie vor denen, die sie ausbeuten wollten – die Männer in Anzügen, wie wir sie nennen. Und von denen gab es viele.«

»Sie sprechen von Ethans Begabung, Queenie«, sagte Caine. »Aber was ist mit Tyrone?«

»Ach.«

»Können Sie uns etwas über ihn erzählen?«

»Nun, für Tyrone gestaltete sich das Leben etwas schwieriger. Ethan musste ein Instrument nur in die Hand nehmen, und schon flossen die Töne wie von selbst heraus. Für Tyrone war das nicht so einfach. Ich sehe immer noch vor mir, wie sich der kleine Ethan geduldig bemüht, seinem Bruder etwas beizubringen. Stunde um Stunde. Tyrone hat sich tapfer geschlagen, aber er stand immer ein wenig … wie soll ich es formulieren?«

»In Ethans Schatten?«, schlug Caine vor.

»Möglich. Ich muss aufpassen, was ich sage, denn Tyrone ist hier, zusammen mit seiner Frau Ophelia. Ihr erstes Kind kann jeden Moment zur Welt kommen.«

»Wir haben gehört, dass sie schwanger ist. Das muss Sie sehr glücklich machen.«

»Ich werde erst wieder glücklich sein, wenn Ethan und ich vereint sind, vorher nicht.«

»Erzählen Sie uns mehr von Ethan, Queenie«, forderte Caine sie auf.

»Sie erinnern mich ein bisschen an ihn, Vincent. Er hatte ein einfühlsames Herz.«

»Das ist nett von Ihnen.«

»Er war nicht wie Tyrone und die anderen Jungs. Sie haben sie gesehen – die Cousins und Onkel und Neffen. Gebaut wie Berufsboxer. Frankie war genauso. Aber Ethan war ein sensibles Kind. Zart. Schnell erschöpft. Er brauchte seine Ruhe.«

»Es mag vielleicht merkwürdig klingen, Queenie, aber hat Ethan je über seinen eigenen Tod gesprochen?«, fragte Caine.

»Oh, häufig sogar. Er war ein Seher.«

»Sie glauben, er hatte spirituelle Fähigkeiten?«

»Das glaube ich nicht nur, das weiß ich.«

»Hören Sie, das ist ja alles sehr interessant«, schaltete sich Shanti ein, »aber könnten wir bitte bei den Fakten bleiben?«

»Sie ist eine Ungläubige, Vincent, also werde ich nicht weiter darüber reden. Ich möchte nur sagen, dass unser Herr und Retter am dritten Tage auferstanden ist. Ethan wurde uns Mittwochnacht genommen, also geben Sie acht, was morgen passiert. Dabei sollten wir es vorerst belassen.«

Schweigen senkte sich auf sie herab. Caine hielt noch immer Queenies Hand; Shanti nippte an ihrem Drink. Plötzlich zerriss ein mörderischer Schrei die Luft.

»Heilige Mutter Gottes!«, stieß Shanti erschrocken hervor. »Was zur Hölle war das denn?«

»Bloß die Pfauen«, antwortete Queenie, dann fügte sie missbilligend hinzu: »Darf ich Sie bitten, in diesem Haus nicht zu fluchen?«

»Es tut mir leid. Ich habe mich fürchterlich erschrocken. So ein Geräusch hatte ich noch nie gehört. Das lässt einem ja das Blut in den Adern gefrieren!«

Während sie sprachen, trat eine majestätisch anmutende Frau mit einer Flut langer, goldener Haare aus einer der vielen Türen auf der gegenüberliegenden Seite des Pools. Sie schlüpfte aus ihrem Bademantel, und Shanti sah, dass ihr Bauch zwischen den beiden Bikinihälften geschwollen war wie eine überreife Frucht. Sie hielt sich am Geländer fest und glitt vorsichtig ins türkisfarbene Wasser.

»Da ist sie«, zischte Queenie. »Miss Zu-fein-für-unsereins.«

»Ich nehme an, das ist Tyrones Frau Ophelia?«, fragte Caine.

»Im Vertrauen, Vincent: Ich kann sie nicht ausstehen.«

»Und warum nicht?«

»Sie ist keine von uns, aber das ist in Ordnung. Damit könnte ich leben. Nein, es geht darum, dass Ophelia furchtbar eingebildet ist. Balletttänzerin. Trägt die Nase ganz hoch oben. Wir sind einfache Leute, Vincent. Wir pflegen die Dinge beim Namen zu nennen. Sie ist nicht die Richtige für Tyrone. Das Ganze wird kein gutes Ende nehmen, da bin ich mir sicher.«

»Es tut mir leid, dass Sie so empfinden.« Offenkundig fasziniert beobachtete Caine die junge Frau, die elegant ein paar Bahnen schwamm und sich dann auf den Rücken drehte und treiben ließ, umwogt von ihren langen Haaren. Ihr vorstehender Bauch ragte in die Himmel auf.

»Wir sind beinahe fertig, Queenie«, sagte Shanti. »Wenn es nicht zu persönlich ist, würde ich Sie gern nach Ethans Liebesleben fragen. Gab es da jemand Speziellen?«

»Er hatte seine Mammy.«

»Selbstverständlich. Aber was ist mit einer Freundin? Oder … Sie wissen schon …«

»Ich glaube, es gab da jemanden.«

»Wissen Sie Genaueres?«

»Als ich neulich Abend – das muss so vor ein, zwei Wochen gewesen sein – auf dem Weg in mein Zimmer war, um schlafen zu gehen, habe ich Ethan gehört. Er saß mit seiner Gitarre am Pool. Ich wollte ihn nicht stören, wenn er gerade von der Muse geküsst wurde, also habe ich nichts gesagt, aber ich muss zugeben, dass ich stehen geblieben bin und ihm zugehört habe. Er spielte einen Song, den ich noch nicht kannte und der mich zu Tränen rührte. Am nächsten Morgen fragte ich ihn: ›Was war das für ein wunderschönes Lied, das du gestern Abend gespielt hast, mein Sohn?‹, und er antwortete: ›Ach, das war ein neuer Song, Mammy. Ein Liebeslied. Sieh mal, ich hab es aufgeschrieben.‹ Er hielt ein Blatt Papier hoch. Ich sagte: ›Mein Sohn, das ist das Schönste, das du je verfasst hast‹, und er erwiderte: ›Tja, ich habe auch noch nie so empfunden.‹«

»Das ist interessant«, sagte Shanti. »Aber Sie sind diesem ganz speziellen Menschen nie begegnet?«

»Er hat nie jemanden mitgebracht, mehr kann ich Ihnen dazu nicht sagen.«

»Wissen Sie, warum er nie jemanden mitgebracht hat, Mrs. Flynn?«

»Das mag Sie vielleicht überraschen, Ms. Joyce, aber ich komme aus einer anderen Generation. Ich habe meine Jungs nach ganz bestimmten Moralkriterien erzogen. Wenn man mit einem Menschen schlafen möchte, muss man ihn zuerst heiraten.«

»Ich nehme an, Tyrone … und Ophelia sind verheiratet?«

»Leider, ja.«

»Sie waren uns eine große Hilfe, Queenie«, versicherte Caine. »Wir sind uns bewusst, wie schmerzhaft das Ganze für Sie ist. Ich denke, wir können es dabei belassen – oder haben Sie noch eine Frage, Shanti?«

»Fällt Ihnen irgendwer ein, der Ethan hätte Schaden zufügen wollen, Mrs. Flynn?«

»Ah, jetzt kommt die Eine-Million-Dollar-Frage. Wer würde einem so göttlichen Menschen wie Ethan etwas antun wollen? Nun, ich verrate es Ihnen …« Sie fing an zu schluchzen. »Ein gottverdammter Judas, der würde so etwas tun!«

Caine legte seinen Arm um ihre bebenden Schultern und versprach ihr, dass sie alles in ihrer Macht Stehende tun würden, um den Täter ausfindig zu machen. Und die ganze Zeit über glitt die goldene Schwiegertochter durch den Pool wie eine aufgeblähte Göttin.

Shanti stand auf.

»Vielen Dank für Ihre Zeit, Mrs. Flynn. Und für den Drink. Würde es Ihnen sehr viel ausmachen, wenn DI Caine und ich einen Blick in Ethans Räumlichkeiten werfen, bevor wir aufbrechen?«

»Wie bitte? Wissen Sie denn nicht, dass Ihre Leute bereits jedes Staubkorn umgedreht haben?«

»Bitte haben Sie Nachsicht mit uns, Mrs. Flynn.«

»Na schön. Ich bringe Sie hin, und dann lasse ich Sie allein. Es ist für mich zu schmerzhaft, die Zimmer zu betreten. Wenn Sie mir bitte folgen würden?«

Sie marschierten durch weitere Marmorkorridore, vorbei an einer Tür, hinter der sich ein großes Tonstudio befand. Vorbei an weiteren protzigen Gemälden, weiteren Flynns bei der Arbeit und beim Vergnügen. Schließlich blieben sie vor einem Anbau abseits vom Zentrum des Hauses stehen.

»Das hier ist Ethans Apartment. Es ist nicht abgeschlossen. Ich bitte Sie, nicht mehr anzufassen als nötig. Für mich sind die Räume wie ein Schrein. Geben Sie Bescheid, wenn Sie fertig sind, damit Sie jemand hinausbegleitet. Tja, dann werde ich mich mal verabschieden. Vincent, es war mir ein Vergnügen … Ms. Joyce, mögen Sie den einzig wahren Trost im Leben finden.«

Caine und Queenie reichten einander die Hand, dann zog die schwarze Witwe ihren Spitzenschleier vors Gesicht und eilte durch den langen Korridor davon. Nach einigen Metern blieb sie noch einmal stehen, drehte sich um und rief: »Vergessen Sie nicht, was ich gesagt habe! Über den dritten Tag. Selbst der Zweifler Thomas glaubte, nachdem er es mit eigenen Augen gesehen hatte.«

Als sie weg war, zogen Shanti und Caine Latexhandschuhe über und betraten Ethans stille Räumlichkeiten.

»›Oooh, ja, ich bin ein Mann des Glaubens …‹«, spottete Shanti. »›Nennen Sie mich Vincent, Queenie. Wie den heiligen Vinzenz …‹ Herrgott, Caine, Sie hätten sich mal hören müssen!«

»Wie geht es Ihrem Kopf, Shanti?«

»Er tut weh, Caine. Aber ich nehme an, das ist die göttliche Strafe.«

Caine ging nicht darauf ein. Stattdessen sagte er: »Sehen Sie sich mal in diesem Apartment um. Es ist ganz anders als der Rest des Hauses.«

Alles in allem gab es drei Räume – ein elegantes Schlafzimmer, ein großes Wohnzimmer und ein schlichtes Bad. Shanti machte Dutzende Fotos.

»Wow, der hat seine Instrumente wahrhaftig geliebt. Was für eine Sammlung!«

Die Instrumente waren überall, auf Ständern, Gestellen und in den Regalen. Handgemachte Lauten und Mandolinen, Flöten, Oboen und viele mehr, deren Namen Shanti gar nicht kannte.

»All diese Bücher …«, sagte Caine. »Keltische Mythologie, Poesie – und die ganzen Klassiker. Er war in der Tat ein außergewöhnlicher Mann.«

»›Wie der kleine Mozart, Queenie!‹ Na ja, eins steht fest: Er hatte einen miserablen Kunstgeschmack.«

»Shanti, ich weiß nicht, wie ich Ihnen das begreiflich machen soll, aber es handelt sich hier um Original-Ölgemälde von Jack B. Yeats, dem Bruder des Dichters. Sie sind sogar signiert.«

»Dann eben teurer Mist.«

»Sie sind wunderschön.«

»Wenn Sie das sagen. Also gut, was haben wir von der tragischen Witwe erfahren?«

»Ich halte sie für eine erstaunliche Frau.«

»Sie mag Sie, Caine. Ich nehme an, Sie könnten hier jederzeit einziehen. Was um alles auf der Welt sollte eigentlich der Unsinn mit Ethans Wiederauferstehung?«

»Sie glaubt, dass er morgen Nacht von den Toten aufersteht.«

»Okay, ich habe Ethan Mittwochnacht sehr deutlich erkennen können. Wenn der tatsächlich aufersteht, wird er als verkohlter Kebab durch die Gegend marschieren.«

»Haben Sie das Mädchen gesehen, Shanti?«

»Welches Mädchen?«

»Das Mädchen im Pool.«

»Ich habe eine Frau gesehen, ja. Und ich habe gesehen, wie Sie sie angestarrt haben. Es hing sogar ein Sabberfaden an Ihrem Kinn.«

»Sie sah aus wie einem Gemälde von Rossetti entsprungen, als sie da auf dem Rücken trieb, umgeben von ihrem goldenen Haar.«

»Sie ist schwanger, Caine. Hochschwanger. Ich hatte Sorge, sie würde jeden Moment ihr Kind zur Welt bringen. Ich habe mich sogar schon nach einem Netz umgesehen. Sagen Sie, ist das wirklich Ihr Ding? Schwangere Frauen?«

»Warum versuchen Sie ständig, mir irgendwelche sexuellen Präferenzen anzudichten?«

»Weil Sie mir ein Rätsel sind.«

»Um Ihre Frage zu beantworten: Ich habe nicht gesagt, dass ich mich zu ihr hingezogen fühlte; ich habe gesagt, dass sie aussah, als sei sie einem Rossetti-Gemälde entsprungen. Ich wünschte, Sie würden endlich begreifen, dass es nur eine Frau …«

»Moment mal, Caine. Was ist das hier?«

Shanti nahm ein Buch aus dem Regal. Einen teuren Sammelband mit dem Gesamtwerk von Shelley. Aus den Seiten ragte ein offener Umschlag heraus.

Der Brief darin war mit einer Absenderadresse aus der Harley Street in London versehen, die für ihre große Ärztedichte bekannt war.

 

Sehr geehrter Mr. Flynn,

seit Ihrem Echokardiogramm am 12. Juni hat Dr. Mamtora wiederholt versucht, Sie zu erreichen. Sie bittet mich, sobald wie möglich einen Termin mit Ihnen zu vereinbaren, um das Ergebnis mit Ihnen zu besprechen. Es wäre daher sehr freundlich von Ihnen, wenn Sie mich so bald wie möglich anrufen würden.

Mit freundlichen Grüßen

Hazel P. Duncan

i.A. Dr. Nilima Mamtora

 

Als sie nach einer Weile auf den Flur vor Ethans Apartment hinaustraten, bemerkte Shanti am anderen Ende eine Gestalt mit einem ausgebeulten Bademantel und einem Handtuchturban auf dem Kopf.

»Sie haben Glück, Caine. Es ist Ophelia. Versuchen Sie, nicht zu sabbern.«

Sobald sie näher kamen, stellten sie fest, dass das Gesicht der Frau nass war. Entweder hatte sie sich nach dem Schwimmen nicht richtig abgetrocknet, oder die feinen Züge der werdenden Mutter waren benetzt von Tränen.

»Hallo, können wir Ihnen helfen?«, erkundigte sich Caine.

»Oh, nein. Mir geht es gut. Es ist bloß alles so traurig.« Ihre Stimme hatte einen kultivierten Klang – beinahe so, als wäre sie eine Adelige.

»Ja, es ist eine schreckliche Zeit für Sie alle. Standen Ethan und Sie sich sehr nah?«

»Es tut mir leid, ich muss jetzt gehen.« Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen und hastete an ihnen vorbei. Shanti spürte die Wärme, die von ihrem Körper ausging, und den Stoff von Ophelias Bademantel. Sie öffnete eine Tür und verschwand dahinter.

Die beiden DIs sahen einander verwundert an. Aus dem Raum hörten sie vom Türblatt gedämpfte Stimmen – Ophelia jammerte schmerzerfüllt, während eine zweite, tiefere Stimme aggressiv fluchte und brüllte.

»Du verfluchtes Miststück! Mammy hatte recht! Ich hätte dich niemals heiraten sollen. Du hast mein Leben ruiniert!«

»Genau«, sagte Shanti und griff nach der Türklinke.

Caine fasste sie am Arm. »Moment mal, Shanti. Wir können nicht einfach da reinstürmen.«

»Und was sollen wir stattdessen tun? Weggehen? Ich sage dir: Wenn ich etwas nicht leiden kann, sind das Schlägertypen wie Tyrone.«

Sie klopfte energisch an die Tür. Das Geschrei verstummte. Ein Augenblick verstrich, dann wurde die Tür aufgerissen, und das zornverzerrte, tätowierte Gesicht von Tyrone Flynn blickte ihr entgegen.

»Was haben Sie denn hier zu suchen, verdammt noch mal?«

»Wir hatten einen Termin bei Ihrer Mutter. Und dann haben wir Gebrüll gehört …«

»IN MEINEM HAUS BRÜLLE ICH SO VIEL ICH WILL, VERFLUCHT NOCH MAL

»Können wir bitte mit Ihrer Frau sprechen? Ophelia, nicht wahr?«

»Sie können aus meinem Haus verschwinden, verdammte Scheiße!«

Und dann stand sie da. Das Handtuch in der Hand. Die nassen Locken fielen über ihre Schultern wie flüssiges Gold. Tränen liefen über ihr edles Gesicht.

»Mir geht es gut, danke. Ausgezeichnet. Vielen Dank für Ihre Anteilnahme. Auf Wiedersehen.«