Kapitel achtzehn
In Vulas Jurte war es warm wie im Leib eines Wildtiers. Eines Yaks. Ja, das würde passen, dachte Shanti.
Vula machte es sich auf einem dicken Kissen bequem, während Caine im Schneidersitz Platz nahm und Shanti sich unbeholfen auf eine Art Melkschemel setzte.
Der Fußboden des Kuppelzelts war mit exotischen Teppichen bedeckt. Neben einem Holzofen lag eine breite Matratze, auf der allerhand kunterbunte Decken und Kissen verteilt waren.
Vula sah aus, als hätte sie die ganze Nacht über kein Auge zugetan. Ihre maurische Kleidung kam in dem gedämpften Licht gut zur Geltung.
Wie eine Odaliske von Matisse, dachte Caine, doch als Shanti die Befragung eröffnete, war es schlagartig vorbei mit der ruhig heiteren Stimmung.
»Danke, dass Sie sich noch einmal Zeit für uns nehmen, Vula. Verzeihen Sie mir meine Direktheit, aber uns geht die Zeit aus. Wir haben Grund zu der Annahme, dass Sie und Ethan vor seinem Tod ein Verhältnis miteinander hatten.«
»Mein Gott! Ständig diese Gerüchte!«
»Dann stimmt das also nicht?«
»Hören Sie, ich …« Sie brach in Tränen aus.
»Lassen Sie sich Zeit, Ms. Plenty.«
Die Moderatorin griff nach ihrer stets präsenten Wasserflasche und schluckte hörbar. Ihre leise Stimme zitterte, als sie weitersprach.
»Es ist beinahe unmöglich, das zu erklären, aber Ethan war anders als andere Männer.«
»Das sagten Sie bereits.«
»Ich weiß. Was ich damit meine, ist, dass er anders war als alle Männer, denen man sonst so begegnet. Er war eine zerbrechliche Künstlerseele und stets auf der Suche nach Antworten auf die großen Fragen des Lebens.«
»Danach habe ich nicht gefragt.«
»Nein, trotzdem muss Ihnen klar sein, dass er einzigartig war. Er hat alle geliebt.«
»Sie haben immer noch nicht geantwortet.«
»Ja, er hat mich geliebt. Ja, ich habe ihn geliebt. So, jetzt wissen Sie’s. Und ja, wir hatten viele kostbare gemeinsame Momente. Ethan litt an tiefer Erschöpfung, deshalb haben wir zusammen hiergelegen, Stunde um Stunde. Er hat dieses Zelt geliebt. Hat es ›heilige Kuppel‹ genannt. Dann hat er mein Haar gestreichelt und geflüstert, ich sei seine Sleepy Creature. Ich habe wirklich geglaubt, wir hätten eine gemeinsame Zukunft … aber es sollte nicht sein.«
»Hat er mit Ihnen Schluss gemacht?«
»So kann man das nicht sagen. Ich habe herausgefunden, dass es jemand anderen gibt. Aber ist das relevant?«
»Das ist sogar ausgesprochen relevant. Sie sagten gerade eben, er habe alle geliebt. Hätten Sie sich da nicht denken können, dass es andere gab?«
»Na schön, Sie können es genauso gut wissen. In der Nacht vor Festivalbeginn habe ich erfahren, dass Ethan jemand ganz Besonderen gefunden hatte.«
»Warum haben Sie uns das nicht früher mitgeteilt?«
»Weil … Verstehen Sie denn nicht? Das ist für mich so, als würde ich eine alte Wunde wieder aufreißen. Ethans Tod war tragisch genug, doch die Tatsache, dass wir auf derart ungute Art und Weise auseinandergegangen sind … Das ist einfach zu viel für mich.«
»Erzählen Sie uns, was passiert ist, Vula.«
»Wir haben zusammen in einem kleinen Restaurant auf dem Land gegessen. Es war perfekt. Anschließend waren wir auch noch zusammen. Wir haben uns geküsst. Trotz des großen Gigs am folgenden Tag wirkte Ethan ruhiger und glücklicher denn je zuvor. Er sprach mit mir über seine Pläne für den Auftritt und erzählte mir von den Kostümen, die er für die Tänzer bestellt hatte. Er war so glücklich, weil sie noch gelungener waren, als er erwartet hatte. Ethan erinnerte mich an Peter Pan. Für ihn war alles ein wunderbares Spiel.«
»Waren Sie in seinen Räumlichkeiten auf der Unworthy Farm, in der Flieder-Suite?«
»Ja, nach dem Restaurantbesuch sind wir dorthin gefahren.«
»Wie hat er Ihnen beigebracht, dass er sich in jemand anderen verliebt hat?«
»Mit einem Song.«
»Mit einem Song?«
»Ja. Ich … ich habe ihm gestanden, dass ich ihn liebe. Doch anstatt etwas zu sagen, ist er aus dem Bett gekrochen …«
»Sie waren im Bett? Beide?«
»Ja. Es war so kalt im Zimmer, dass wir uns in dem riesigen Himmelbett aneinandergekuschelt haben. Ethan war in einer seltsam verträumten Stimmung, als hätte er etwas geraucht.«
»Hatte er?«
»Ich glaube nicht. Er nahm seine Gitarre – eine alte Akustikklampfe, die früher seinem Vater gehört hatte – und fing an zu spielen und zu singen. Ein Liebeslied, das ich noch nie zuvor gehört hatte. Es war der Wahnsinn! So rätselhaft! So perfekt! Ich habe mich zeit meines Lebens mit Musik befasst und ein gewisses Gespür entwickelt. Ich weiß, wenn etwas einzigartig ist. Dieser Song hat mein Herz berührt. Ich wusste sofort, dass er der größte Hit aller Zeiten werden würde … geworden wäre.«
»Aber wie ist es zum Streit gekommen?«
»Tja, das ist der Punkt. Ich war verblendet. Blind. Sie kennen Ethans Texte … Er war ein Poet. Die Liedzeilen waren geheimnisvoll, mysteriös. Und dumm wie ich war, dachte ich, sie wären an mich gerichtet, im Song ginge es um mich. Ich kann mich nicht mehr an jedes einzelne Wort erinnern, aber er schien mich auf so einfühlsame Art zu beschreiben – als schlafendes Geschöpf in der Yurte … in meinem Heiligtum. Ich war total verzückt. Jeder Vers schien von mir zu handeln. Er sang, er würde mich lieben, wie Dunkelheit das Licht mag …«
»Und dann?«
»Dann behauptete er, dass unsere Liebe niemals sein darf, was sich angefühlt hat wie ein Stich ins Herz. Und endlich, im allerletzten Vers, einer Art Refrain, hat er ihren Namen erwähnt, wieder und wieder.«
»Wessen Namen?«
»Den Namen der einen, die er mehr liebte als alle anderen. Der einen, der der Song gewidmet war. Ein einziges grausames Wort, und mein Leben war beendet. Mir war klar, dass Ethan mich nie wirklich geliebt hatte.« Eine Sturzflut von Tränen ergoss sich auf ihr Seidenjäckchen.
»Vula, welchen Namen hat Ethan genannt?«
»Keine Ahnung. Ich erinnere mich nicht. Irgendeinen dämlichen Namen.«
»Lang? Oder kurz?«
»Kurz. Eve. Oder Eva. So was in der Art. Ja, ich glaube, das war der Titel des verfluchten Lieds – ›Song For Eve‹.«
»Kennen Sie eine Eve?«
»Nein. Ich kann mich nicht erinnern, dass er den Namen je zuvor erwähnt hat.«
»Er hat weitergespielt und …«
»… und er hatte diesen entrückten Ausdruck im Gesicht, als befände er sich in einem Rausch. Er hatte mich völlig vergessen. Ich sprang auf und rannte zur Tür, und er machte einfach weiter – experimentierte mit Harmonien. Er hatte ein Blatt mit Noten und Versen neben sich liegen und strich dann und wann etwas durch und ersetzte es durch etwas anderes. Versuchte, den Song noch perfekter zu machen, als wäre das überhaupt möglich.«
»Okay … Und dann?«
»Ich habe ihn angebrüllt. Habe geschrien, wie ungerecht ich all das finden würde, dass er meiner Meinung nach nie wirklich etwas für einen anderen Menschen empfunden habe. Dass ich – genau wie all die anderen, die er angeblich geliebt hat – für ihn nicht mehr als ein Accessoire gewesen sei. Eine Ablenkung. Eine Kurzzeitmuse. Aber er hörte mir gar nicht zu. Also stürmte ich aus dem Zimmer und rannte, blind vor Tränen, die Treppe dieses grässlichen alten Bauernhauses hinunter. Ich hatte keine Ahnung, in welche Richtung ich laufen sollte, und stolperte in die Küche, wo ein hässlicher kleiner Mann mit einem hässlichen kleinen Hund vor dem Herd saß. Wortlos hastete ich an den beiden vorbei und zur Hintertür hinaus in den dreckigen Hof. Und die ganze Zeit über, während des gesamten Albtraums, hoffte ich, dass Ethan mir folgen und mir versichern würde, alles wäre in Ordnung. Aber das tat er nicht. Wissen Sie, was das Ganze noch schlimmer machte?«
»Nein. Sagen Sie es uns …«
»Die Leute kennen mich. Ich bin daran natürlich gewöhnt, aber als ich auf das Festivalgelände zurückkehrte, befand ich mich in einem grauenvollen Zustand. Eine Gruppe Betrunkener umringte mich, machte sich über mich lustig und schoss jede Menge Fotos. Zurück in meiner Yurte, war ich am Boden zerstört. Voll und ganz am Ende.«
»So sehr, dass Sie Ethan umgebracht haben?«
»Wie bitte? Um Himmels willen, nein!«
»Sie haben der Tanztruppe also nicht ein Kostüm gestohlen?«
»Nein. Das schwöre ich.«
»Und Sie haben sich auch nicht auf die Bühne geschlichen und sich an der Elektronik zu schaffen gemacht?«
»Großer Gott!«
»Wissen Sie, Vula, als wir Sie in der Nacht von Ethans Tod befragt haben, waren wir sehr beeindruckt von ihren Technikkenntnissen.«
»Ich bin DJ. Ich arbeite seit Jahren auf Musikevents wie diesem. Selbstverständlich kenne ich mich mit technischen Dingen aus.«
»Dann wissen Sie sicher auch, dass es genügt, Wasser in der Nähe von elektrischen Geräten zu verschütten, um jemanden, der barfuß mit einem manipulierten Instrument auf der Bühne steht, umzubringen.«
»Allmächtiger! Wird dieser Albtraum jemals enden? Ich habe meinen allerliebsten Freund verloren, und jetzt beschuldigen Sie mich, ihn ermordet zu haben!«
»Wir stellen nur Fragen, Ms. Plenty. Nur Fragen.«