Kapitel neunzehn
Also, was soll ich tun, Caine?«
»Worum geht es denn genau, Shanti?«
»Tja, ich bin nicht gerade scharf darauf, auf der Unworthy Farm zu Abend zu essen. Sie haben ja gehört, was Sista Tremble gesagt hat – ich bin eine Persona non grata. Ach Caine, das ist so schade …«
»Weil Sie ein Fan sind?«
»Nein, weil Primrose Lamm zubereitet. Mit Bratkartoffeln und allem Drum und Dran.«
»Sie haben für das Zimmer bezahlt – mit allem Drum und Dran –, und Sie haben mir unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass Sie nicht bei mir bleiben möchten. Dennoch gibt es nichts, was einem gemeinsamen Abend im Wege stehen könnte. Ich werde für Sie kochen, ohne dass dafür ein Tier sterben muss.«
»Sie sind ein echter Kumpel, Caine. Ich weiß, dass ich mitunter etwas kratzbürstig bin.«
»Das ist es, was ich an Ihnen mag.«
»Im Ernst? Ich dachte, ich würde den anderen mit meiner Art gehörig auf die Nerven gehen: Sista Tremble, Vula, Queenie Flynn – sie alle hassen mich, und sie lieben Sie.«
»Genauso funktioniert’s: guter Cop, böser Cop …«
»Ja, aber vielleicht ist es Zeit, dass wir die Rollen tauschen.«
»… und außerdem mag ich Sie, Shanti. Mehr als Sie ahnen.«
»Okay, übertreiben Sie’s nicht. Wo ist das Zelt? Oder handelt es sich um ein Tipi? Ich wette, es ist ein Tipi. Mit tonnenweise Traumfängern. Haben Sie Traumfänger, Caine?«
»Nur ein Zelt. Es steht ganz in der Nähe, aber sehen Sie nur! Was für eine Nacht! Wie in Ein Sommernachtstraum. Alle sind draußen und amüsieren sich, trotz dem, was passiert ist. Vielleicht auch gerade deswegen. So ein Ereignis schweißt die Menschen zusammen. Wussten Sie, dass der Dalai Lama 2015 auf der Pyramid Stage aufgetreten ist?«
»Ach ja? Was hat er denn gesungen? ›Sound Of Silence‹? ›Karma Chameleon‹?«
»Er hat nur geredet. Es war sein Geburtstag, er wurde achtzig. Er hat darüber gesprochen, dass das Konzept von Krieg überholt ist. Dass die Länder weniger konkurrenzorientiert und stattdessen globaler denken sollen, denn die Umwelt ist ein globales Thema. Es war schön. Er hat bei Tagesanbruch sogar den Steinkreis besucht.«
»Was halten Sie von Vula, Caine? War sie wirklich traumatisiert, oder ist sie einfach nur eine großartige Schauspielerin?«
»Ich glaube, ihre Tränen waren echt. Aber Sie haben recht, Shanti – sie hat tatsächlich das Canadian College of Performing Arts besucht, mit den darstellenden Künsten ist sie also durchaus vertraut.«
»Sehen Sie, ich wusste es. Ich war mit einem Mann verheiratet, der ebenfalls ein großartiger Schauspieler war – er hat mir die ganze Zeit über etwas vorgemacht. Ich habe mich übrigens in Vulas Kuppelzelt umgesehen, weil ich hoffte, das Kostüm vom Tod zu entdecken. Es würde ihr mit Sicherheit sehr gut stehen.«
Caines Zelt war leicht zu erkennen – groß, weiß und aus Segeltuch, mit Schnüren anstelle von Reißverschlüssen. Das verräterische Zeichen aber war die Leine voller kunterbunter Gebetsfahnen, die zwischen einem Weißdorn und einer der hölzernen Zeltstangen gespannt war. Irgendwie war es ihm gelungen, sich den besten Zeltplatz auf dem gesamten Festivalgelände zu sichern – ein ruhiges Eckchen auf einem Feld mit einem atemberaubenden Ausblick über das gesamte Tal, von einer Hecke geschützt, in der eine Amsel ihr abendliches Lied sang. Alles war wohldurchdacht, Caine hatte sogar Holz und Kohle in einer von Steinen umgebenen Feuerstelle vorbereitet.
Er öffnete das Zelt und holte Matten und Decken heraus, dann zündete er das Feuer an und begann, eine Mahlzeit zuzubereiten.
»Darf ich mal einen Blick hineinwerfen, Caine? Sie haben doch nichts dagegen, oder?«
Drinnen war es unglaublich gemütlich. Ein großer Schlafsack lag auf einer Unterlage aus weichen Decken neben ordentlich zusammengefalteten Kleidungsstücken und einem kleinen Bücherstapel. Caine hatte sogar einen Miniaturschrein mit einem Weihrauchstäbchen, einer Vase Wildblumen und einem winzigen Buddha errichtet, sanft erleuchtet von einer süß duftenden Kerze.
Als Shanti das Bett ausprobierte, kam ihr eine sentimentale Erinnerung an Caine in den Sinn, wie er Paul dabei half, eine Hängematte zwischen zwei Bäumen vor der Hütte auf der Undercliff zu befestigen. Ihr Sohn hatte eine schwierige Phase durchgemacht, aber ganz natürlich auf Caines entspannte Art reagiert. Sie hatten fröhlich miteinander geplaudert, und Caine brachte Paul bei, wie man einen Stock mit dem Messer anspitzt – simple Aufgaben, die Paul so viel Freude bereiteten. Man konnte es drehen und wenden, wie man wollte – Caine tat dem Jungen gut. Paul hatte oft gefragt, ob sie sich noch einmal treffen könnten.
Außerdem konnte Caine kochen. Und wie. Das Essen, das er servierte, schmeckte verblüffend gut. Ein würziges Gemüsecurry mit Naan-Brot, dazu ein kaltes Bier. Obwohl Shanti es nicht zugeben mochte, fühlte es sich gut an, hier mit dem wohl untypischsten Polizisten zu sitzen, dem sie je begegnet war, und in die schwach glühende Kohle zu blicken.
Während sie aßen, betrachteten sie die Pyramid Stage ein ganzes Stück unter ihnen, wo sich der merkwürdige Vorfall ereignet hatte. Von hier oben hatte man eine völlig andere Perspektive auf alles.
»Ich muss ständig an die arme Queenie denken«, sagte Caine. »Was sie jetzt empfindet. Der Verlust eines Kindes muss unendlich schwer zu ertragen sein. Kaum vorstellbar.«
»Sie hat Ihnen gesagt, was sie von Ihnen will.«
»Das weiß ich. Und ich werde ihren Wunsch erfüllen. Wir zwei gemeinsam. Wir werden Ethans Mörder zur Rechenschaft ziehen.«
»Ich bin inzwischen total erschöpft«, sagte Shanti. »Ich habe die letzten Nächte kaum geschlafen. Und das Bett auf der Unworthy Farm hat übrigens eine ganz eigene Geschichte. Trotzdem ist es noch zu früh, dorthin zurückzukehren.«
»Sie können bleiben, solange Sie möchten. Rücken Sie ein Stück näher ans Feuer und schlafen Sie ein wenig. Ich frage mich, Shanti, ob Sie jemals …«
»Jemals was, Caine?«
»Ob Sie jemals an jene Nacht zurückgedacht haben«, flüsterte er.
»An welche Nacht?«
»An die Nacht bei meiner Hütte.«
»Hören Sie, Caine, wir arbeiten an einem Fall. Es gab keine Nacht. Es gab keine Hütte.«
»Selbstverständlich. Verstehe. Ich dachte nur, dass wenn wir … Sie wissen schon … Es wäre eine schöne Vorstellung, dass wir vielleicht …«
»Vielleicht sollten Sie das Ungewisse umarmen, wie Sie immer so schön sagen.«
»Ja. Es tut mir leid, Shanti. Meine Gefühle haben mich übermannt.«
»Sehen Sie es?«
»Es tut mir leid, ich sehe gar nichts.«
»Ich gebe Ihnen einen Hinweis: Es ist dünn und rot.«
»Ich verstehe nicht …«
»Es gibt eine Linie zwischen uns, die nicht überschritten werden sollte, Caine. Sie können sie die ›Trennlinie zwischen Pflicht und Vergnügen‹ nennen.«
Sie legten sich auf den Rücken und betrachteten einen riesigen Mond, der von einer geisterhaften Aureole umgeben war. Vollmond? Nein, aber kurz davor. Morgen würde Vollmond sein.
Etwas schwebte hoch in der Luft vor dem sanft strahlenden Astralauge. Shanti machte die Kreise ziehende Silhouette eines majestätischen Bussards aus. Es hatte beinahe den Anschein, als sei das Geschöpf Caine von seinem Zuhause im Wald gefolgt.
»Erzählen Sie mir eine Geschichte, Caine. Sie wissen schon, eins von Ihren buddhistischen Märchen.«
»Eine Geschichte? Nun, damals in Thailand kannte ich einen sehr alten Mann. Er hieß Tu.«
»Das haben Sie schon mal erwähnt. Er war Ihr Lehrer.«
»Tu erzählte häufig Geschichten, die komisch waren, bewegend oder weise.«
»So wie …«
»So wie die Geschichte der trauernden Mutter namens Kisa Gotami.«
»Klingt lustig.«
»Sie hatte ein wunderschönes kleines Kind, das sie mehr liebte als alles andere auf der Welt.«
»Und das Kind starb …«
»… und Kisa war untröstlich. Sie trug den kalten Leichnam bei sich, wohin auch immer sie ging …«
»Das ist ausgesprochen unschön, Caine.«
»Alle flehten sie an, das Kind zur ewigen Ruhe zu betten, aber sie saß den ganzen Tag auf dem Marktplatz, die Leiche im Arm, und flehte die Menschen an, ihr ein Heilmittel für den Tod zu besorgen.«
»Ich habe meine Meinung geändert. Ich will doch keine Geschichte hören.«
»Tag für Tag saß sie dort, bis ihr endlich jemand riet, aufs Land hinauszuwandern und einen Bodhi-Baum in der Nähe eines Flusses zu suchen, wo sie auf einen heiligen Mann treffen würde. Also nahm Kisa Gotami ihr lebloses Kind und ging weinend los, durchquerte das Land, bis sie den Fluss und den heiligen Mann fand, der meditierend unter dem Baum saß. Sie wusste sofort, dass er der Erwachte war.
Als sie näher kam, streckte Buddha die Hand aus und zog vorsichtig das Tuch fort, mit dem die Frau das Gesicht ihres toten Kindes bedeckt hatte. Anschließend fragte er sie, was er für sie tun könne.
›Heiliger Buddha, gib mir ein Heilmittel für den Tod und bring das Licht zurück in die Augen meines Kindes.‹
Buddha erwiderte: ›Kleine Schwester, die Welt weint mit dir. Ich würde dir mein eigenes Blut geben, wenn ich dir damit deinen Schmerz nehmen könnte. Jetzt geh und beerdige dein Kind.‹
Aber Kisa Gotami bat ihn weiterhin: ›Schenk mir ein Heilmittel für den Tod.‹
Endlich sagte Buddha: ›Geh und klopfe an jede Tür, die du finden kannst, und bitte um eine Handvoll Senfsamen. Die bringst du zu mir.‹
Kisa wollte sich sogleich auf den Weg machen, aber Buddha hielt ihre Hand fest. ›Eines noch, kleine Schwester. Die Senfsamen müssen aus einem Haushalt kommen, in dem niemand gestorben ist.‹
Und so trug Kisa ihr Kind zurück in die Stadt und klopfte an jede Tür, und obwohl ihr jeder liebend gern Senfsamen gab, so fand sie doch keine einzige Familie, die nicht den Verlust eines geliebten Angehörigen zu beklagen hatte.
Tagelang trug sie den kleinen Leichnam von Haus zu Haus, dann kehrte sie zu Buddha zurück, der noch immer meditierend unter seinem Baum saß.
›Liebe Kisa‹, sagte er sanft. ›Hast du die Samen bekommen?‹
›Samen habe ich bekommen, heiliger Buddha, aber nicht ein einziges Haus war vom Tode verschont.‹
Und während sie das sagte, dämmerte ihr, dass es unendlich viel mehr tote Menschen gab als lebende. Dass alle Dinge vergehen müssen und dass das Leiden vom Festhalten des Vergänglichen herrührt.
›Das war der bittere Samen der Erkenntnis, den ich dir geben musste‹, erklärte Buddha.
Und so begrub Kisa ihr Kind zusammen mit einem Senfsamen, der wuchs und gedieh. Und sie wurde erleuchtet.
Was ich an dem Märchen des alten Tu liebe, ist, dass es Buddha als Menschen zeigt. Er bewirkt kein Wunder. Im Buddhismus geht es um die radikale Akzeptanz der Realität in der Vielfalt ihrer Facetten – Trauer und Freude, Leben und Tod. Das ist Weisheit. Als Kisa das verstand, war sie erleuchtet.«
Caine saß für eine Weile in respektvollem Schweigen da, während Shanti über seine tiefgründige Geschichte nachdachte.
Doch als er näher rückte, stellte er fest, dass sie eingeschlafen war, eingelullt von dem beständigen Rhythmus der Trommeln und der Trauer von Ethans Fans.
Es war schon weit nach Mitternacht, als Shanti das Festivalgelände verließ und durch die steilen Straßen von Kilton stiefelte. Etwas in ihrer Wahrnehmung hatte sich verändert. Anfangs hatte sie das Festival gehasst. In ihren Augen hatte es etwas Chaotisches, Erdrückendes, Bedrohliches. Doch jetzt dachte sie mit einer gewissen Zuneigung daran. Es war ein sicherer Ort voller freundlicher, wenngleich etwas naiver Menschen.
Als sie an dem mondbeschienenen Friedhof von Kilton vorbeikam, stellte sie fest, dass es dieses seltsame kleine Dorf war, das ihr ein mulmiges Gefühl vermittelte. Das Festival war ein kunterbuntes Potpourri kultureller und musikalischer Vielfalt – ganz ähnlich wie Camden Town, der Stadtteil von London, in dem ihre Karriere begonnen hatte. In Orten wie Kilton dagegen würde sie immer eine Außenseiterin sein.
Auf der anderen Seite des Totterdown Hill nahmen die Schatten der sich im Wind wiegenden Hecken die Form von primitiven Tanzfiguren an. In den grünen Zweigen raschelten und lärmten Tiere.
Erschöpft und voller Unbehagen trat Shanti unter das hell erleuchtete Vordach und steckte den eisernen Schlüssel ins Türschloss. Das Schloss bewegte sich, aber die Tür ging nicht auf. Verdammt! Jemand hatte drinnen die Riegel vorgeschoben.
Mit vor Müdigkeit schmerzenden Gliedern schleppte sie sich zur Seite des monströsen Gebäudes. Drinnen brannten ein paar Lichter, doch sie zögerte, an eines der Fenster zu klopfen. Sie kam am Gemüsebeet vorbei, warf einen Blick auf die toten Krähen, die, an Seile gebunden, als Vogelscheuchen im Wind hin und her schwangen, und betrat den Hof, den das silbrige Mondlicht in eine Schneelandschaft verwandelt hatte. Shanti sah die eigenartig geformte Kleidung auf der Wäscheleine und den hässlichen Fertigbungalow, in dem die Familie Vowles wohnte. Über all dem hing der beißende, süßliche Gestank von Gülle.
Vor der Küchentür, die wie eine Stalltür in eine obere und eine untere Hälfte geteilt war, blieb sie stehen, klopfte vorsichtig an und wartete. Von drinnen hörte sie leise Stimmen.
»Da ist jemand noch spät unterwegs, Vowles.«
»Ich sehe besser mal nach, wer es ist, Primrose.«
Die obere Hälfte der Tür schwang auf wie bei einer Puppenspielerbude und gab den Blick frei auf das an Mr. Punch erinnernde Gesicht von Bauer Vowles.
»Es ist unser junger Gast«, sagte er, öffnete die Tür ganz und ließ Shanti eintreten.
»Nichts zu danken, gern geschehen«, sagte Primrose. »Ich hatte ein Gedeck für Sie aufgelegt, aber ich fürchte, Vowles hat die Reste aufgegessen.«
Es war das erste Mal, dass Shanti die beiden zusammen sah – Primrose mit ihren unbändigen Haaren und noch viel unbändigeren Zähnen und ihren Ehemann, den sie um anderthalb Köpfe überragte.
Als sie die Küche betrat, entstand ein aberwitziger Aufruhr zu ihren Füßen – ein knurrendes, teuflisches Gewirbel. Noch bevor sie wusste, wie ihr geschah, gruben sich zwei Reihen Zähne in ihren Unterschenkel. Shanti stieß einen Schmerzensschrei aus.
»Boner! Boner! Du Lump! Das ist doch keine Art, mit einer Dame umzugehen!«
Vowles packte den Köter mit einer Hand beim Nacken und drückte mit der anderen seine kräftigen Kiefer auseinander.
»Herrgott noch mal!«, schrie Shanti. »Ihre verfluchte Töle hat mich gebissen!«
»Nehmen Sie’s nicht persönlich«, sagte Primrose gequält. »Das macht er bei jedem.«
Zehn Minuten und mehrere unterwürfige Entschuldigungen von Primrose und Vowles später, humpelte Shanti durch die frostigen Gänge und die Treppe hinauf zu ihrem Zimmer, eine Versöhnungstasse heißer Schokolade in der Hand. In ihrer Umhängetasche steckten eine Flasche Desinfektionsmittel und Wattepads. Es war ihr erst nach einer ganzen Weile gelungen, Vowles zu überzeugen, dass sie sich lieber selbst verarzten wollte, anstatt sich auf seine Fähigkeiten in Erster Hilfe zu verlassen.
Jetzt blieb sie stehen und durchwühlte die Tasche nach ihrem Schlüssel, doch dann stellte sie zu ihrer Überraschung fest, dass die Zimmertür unverschlossen war.
Jede Zelle ihres Körpers ging in Habachtstellung. Ihre Atmung beschleunigte sich. Ihr Puls schnellte in die Höhe, als sie sich die Tatsache vor Augen hielt, dass nach wie vor ein Mörder auf freiem Fuß war.
Geräuschlos drehte sie den Knauf und schlüpfte ins Zimmer, wo sie die Tasse mit dem heißen Kakao abstellte und gleichzeitig hektisch in ihrer vollen Tasche nach dem Pfefferspray tastete.
Jemand hatte eine Lampe angeschaltet – wahrscheinlich Primrose. Plötzlich hörte sie ein merkwürdiges Geräusch, das Quietschen und Ächzen von Bettfedern. Als Shanti um den Mauervorsprung bog, sah sie zu ihrem Entsetzen die Beine und den Rumpf eines Mannes, der aufrecht auf dem Himmelbett stand, den Kopf in der Stoffbespannung. Offenbar untersuchte er die Winkel und Ritzen des Bettes.
»Halt! Wer da?«, blaffte sie. Es war eine völlig unerwartete Formulierung, eine, die sie noch nie zuvor benutzt hatte. Wahrscheinlich stammte sie aus einem der Filme, die sie sich mit ihrer Mutter anzusehen pflegte, und irgendwie schien sie zu der Situation zu passen.
Mit muskulösen Armen umfasste der Mann den oberen Querbalken und schwang sich vom Bett. Jetzt erblickte Shanti den aufgepumpten Oberkörper und den stark tätowierten Schädel von Tyrone Flynn.
»Was zur Hölle machen Sie denn hier?«, knurrte er.
»Ich … Wie können Sie es wagen? Das ist mein Zimmer. Hier wohne ich.«
»Den Teufel tun Sie. Sie können froh sein, dass ich Sie nicht fertiggemacht habe – sich einfach so hier reinzuschleichen!«
»Drohen Sie mir nicht, Mr. Flynn, und machen Sie nicht den Fehler, mich für einen leichten Gegner zu halten. Ich frage Sie noch einmal höflich: Was haben Sie mitten in der Nacht in meinem Zimmer zu suchen? Und warum stehen Sie auf meinem Bett?«
Er trat einen Schritt auf sie zu und richtete sich zu voller Größe auf. Er war nicht sonderlich hoch gewachsen, aber unvorstellbar breit. Seine kleinen Augen bohrten sich in ihre. Seine Muskeln zuckten wie bei einem Büffel auf Crack. Er stach mit seinem dicken Finger in Richtung ihres Gesichts.
»Sie sind die Schlampe, die mich da unten verhört hat! Sie haben Ihre Nase in Angelegenheiten gesteckt, die nur mich und meine Frau etwas angehen!«
»Sie können vielleicht Ophelia tyrannisieren, Flynn, aber mich ganz sicher nicht.«
Er kam noch näher, das Kinn mit dem Grübchen hervorgereckt, bis sich ihre Gesichter beinahe berührten. Shanti konnte ihn riechen – eine Mischung aus Bier und irgendetwas Toxischem, vielleicht saurer Schweiß.
»Das ist das Zimmer, in dem mein Bruder abgestiegen ist. Deshalb habe ich auch einen Schlüssel, kapiert?« Er ließ den Schlüssel vor ihrem Gesicht baumeln. »Das Management von Stigma hat die Zimmer für Ethan und mich gebucht und bezahlt, und weil wir keine Rückerstattung erhalten, sind die beiden Räume nach wie vor an uns vermietet.«
»Nun, in dem Fall liegt entweder ein Missverständnis vor, oder Primrose kassiert doppelt ab. Ich habe dieses Zimmer in gutem Glauben gemietet, und jetzt … jetzt werde ich ins Bett gehen.«
Doch Flynn kehrte zu dem Himmelbett zurück und legte sich in lässiger Pose auf den Rücken, die aufgepumpten Arme im Nacken verschränkt, ein höhnisches Grinsen auf den Lippen.
»Dann legen Sie sich ruhig hin. Tun Sie so, als sei ich gar nicht da.«
»Raus jetzt, Flynn. Ein Anruf genügt, und die halbe Polizei von Avon und Somerset steht in fünf Minuten auf der Matte.«
»Oh, jetzt hab ich aber Angst! Ich gehe, wann es mir passt, Schlampe.«
»Wie gesagt: Mich können Sie mit Ihrem Gehabe nicht beeindrucken, Flynn. Verraten Sie mir stattdessen doch lieber mal, wonach Sie suchen!«
»Suchen? Wie kommen Sie auf die Idee, ich würde etwas suchen?«
»Weil ich gesehen habe, wie Sie da oben rumgetastet haben.«
Er verzog amüsiert das Gesicht wie ein Pitbull auf einem Spielplatz. »Ich habe nach Ihren Höschen gesucht.«
»O mein Gott! Sie sind der Wichser von der Unworthy Farm!«
»Wie bitte? Wie zum Teufel haben Sie mich gerade genannt?«
»Ich … Ach, egal. Ich nehme an, das war ein perverser Scherz. Also: Wonach haben Sie wirklich gesucht?«
»Ich habe bloß nachgeschaut, ob mein Bruder etwas dagelassen hat.«
»Was zum Beispiel?«
»Das geht Sie nichts an. Aber Sie haben recht – es ist schon spät, und ich hab keinen Bock, irgendwelche Spielchen zu spielen. Ich geh dann mal …« Er stand auf und fuchtelte wieder mit seinem Finger vor ihrem Gesicht herum. »Trotzdem muss ich dich warnen, Cop-Schlampe – halt dich aus meinen Angelegenheiten heraus. Und aus denen meiner Frau. Und aus denen meiner Mutter. Verstanden?«
»O ja, ich habe Sie durchaus verstanden, Mr. Flynn, doch ich werde meinen Pflichten nachkommen, wie immer diese aussehen mögen. Ach, würden Sie bitte die Tür hinter sich zuziehen? Außerdem hätte Primrose wohl gern ihren Schlüssel zurück.«
Trotz ihrer unerschrockenen Worte schlief Shanti mit Pfefferspray unter dem Kopfkissen, einen Stuhl mit der Lehne so unter den Türknauf geschoben, dass man ihn nicht drehen konnte.
Von Schlaf konnte man dennoch kaum sprechen.