Kapitel zwei

Schock und Schauer

Detective Inspector Shanti Joyce saß spät am Abend an ihrem überladenen Schreibtisch, als der Anruf einging.

»Hast du die Nachrichten gesehen, Chefin?«

»Wo denkst du hin, Benno? Glaubst du, ich lümmle vor dem Fernseher?«

»Wirf doch mal einen Blick auf den Auftritt von Stigma in Glastonbury.«

Natürlich hatte Shanti von Stigma gehört – kannte all die trance-dance-mäßigen Nummern wie »Heathen Child« –, aber die Band war nicht wirklich ihr Ding. Und mit Sicherheit auch nicht das von Sergeant »Benno« Bennett.

Normalerweise interessierte sich Shanti nicht für das Festival, doch diesmal würde sie eine Ausnahme machen. Am Sonntagabend trat Soullegende Sista Tremble auf – das war richtige Musik. Shanti hatte vor, den Abend zusammen mit ihrer Mum und einer Flasche Chardonnay vor dem Fernseher zu verbringen. Vielleicht durfte sogar ihr Sohn Paul länger aufbleiben – wenn er sich gut benahm.

Sie erweckte ihr iPad zum Leben und stellte gleich fest, dass das Internet in Flammen stand, als hätte man eine Wunderkerze in einer Kiste mit Feuerwerkskörpern angesteckt. Auf jedem Nachrichtensender und auf sämtlichen Social-Media-Plattformen waren in Endlosschleife die ewig gleichen Bilder zu sehen – der Auftritt von Stigma auf der Pyramid Stage. Ethan Flynn, feingliedrig, mesmerisch und barfuß im Rampenlicht.

Der Gott des Rock nahm seine Gitarre zur Hand, Excalibur. Legte sich den Riemen um den Nacken, hielt inne und lächelte. Doch dann, beim ersten Akkord, drang ein ohrenzerreißender Heulton aus sämtlichen Verstärkern, und aus seinen Fingern schoss ein greller Blitz.

Die fassungslose Menge sah, wie seine langen Haare zu Berge standen. Seine Augäpfel traten hervor. Rauch strömte aus seinen Fingern und Zehen. Und dann fing er an zu tanzen, ein grausiges, eingefrorenes Grinsen im Gesicht, das an ein Zähnefletschen erinnerte. Sein Tanz war nicht das typische Ethan-Flynn-Mädchen-Gezappel. Es war ein ruckartiger, spasmatischer Veitstanz, der schmerzhaft mit anzusehen war. Er zuckte. Er wand und krümmte sich. Seine dürren Glieder flogen durch die Gegend wie eine Zimmerpflanze bei einem Hurrikan.

Ethan Flynn hatte im wahrsten Sinne des Wortes Feuer gefangen.

Irgendwann drehte jemand den Strom ab, und er ging zu Boden. Die Musik erstarb, und Bruder Tyrone und die Background-Sänger bewegten die Münder stumm wie Goldfische. Das raue Grölen der Menge ging in wüstes Geschrei über, als eine seltsam kostümierte Tanztruppe auf den qualmenden Mann zurannte, der die Gitarre umklammerte wie eine riesige Gottesanbeterin ihre Beute.

Shanti starrte ungläubig auf den Bildschirm. Was hatte sie da gerade gesehen? Gehörte das zur Show, oder hatten die Medien weltweit soeben live einen dämonischen Todestanz gestreamt?

Auf der Bühne bat MC Vula Plenty offenbar um Ruhe, doch ohne funktionierendes Mikrofon wurden ihre Worte von dem Gejohle und Geheule der Festivalbesucher verschluckt, das immer mehr in Buhrufe überging.

Hinten auf der Bühne spielte sich eine surreale Szene ab, als die seltsam verkleideten Tänzer Ethans verdrehten, verkohlten Körper in die Seitenkulisse schleppten.

»Ach du liebe Zeit! Benno! Ich sehe es gerade. Das ist Ethan Flynn. Ist er …?«

»Tot. Ja, Chefin.«

»Nun, das tut mir aufrichtig leid. Aber warum erzählst du mir das?«

»Das Dezernat von Keynsham ist für das Festival zuständig, und die Kollegen haben dich dringend als Verstärkung angefordert.«

»Ich fühle mich geschmeichelt. Glaube ich zumindest. Aber warum ausgerechnet ich?«

»Das Festival bringt sie an die Grenzen ihrer Kapazität.«

»Das kann ich gut verstehen, aber es muss doch noch andere DIs geben, die näher dran sind.«

»Aber sie wollen dich, Chefin. Und Caine. Seit ihr zwei den Havfruen-Fall geknackt habt, hat man euch anscheinend zum ›Team für die abgefahrenste Scheiße in ganz Südwestengland‹ erklärt. Ihre Worte, nicht meine.«

»Mein Gott, Benno! Das werde ich bestimmt nicht in meinen Lebenslauf schreiben. Ist Caine denn überhaupt wieder im Dienst?«

»Soll ich ihn für dich ausfindig machen?«

»Ich kümmere mich darum. Du könntest währenddessen für mich das Areal absperren – ich brauche Sichtschutzwände und Polizeiband rund um die Bühne. Stell jede Millisekunde Filmmaterial sicher, die du kriegen kannst. Und Benno … lass keine Menschenseele näher als hundert Meter an den verkokelten Superstar heran.«

Als Shanti ein paar Minuten später ein paar Sachen in ihre Umhängetasche warf, dachte sie über etwas Merkwürdiges nach, das Benno erwähnt hatte, kurz bevor er auflegte.

»Übrigens, Chefin, du weißt, dass die Gerüchteküche längst brodelt, oder?«

»Und um welche Gerüchte geht es?«

»Die Leute nehmen an, dass das kein Unfall war. Dass Ethans Tod …«

»… gewollt war?«

»Ja. Absichtlich herbeigeführt.«

Sie nahm sich ein letztes Mal die Aufnahmen vor, wobei ihr nicht entging, wie Tyrone Flynn auf das Ableben seines Zwillingsbruders reagierte. Man hätte doch davon ausgehen sollen, dass er Erstaunen zeigte. Entsetzen. Fassungslosigkeit. Doch soweit sie sehen konnte, ließ der streitlustige Bruder einfach nur seine Gitarre fallen, trank sein Bier aus und stürmte angewidert von der Bühne.

Als Shanti durch die im Neonlicht flimmernden Korridore eilte, verspürte sie eine vertraute Mischung unterschiedlicher Gefühle: Bestürzung über das, was sie gerade gesehen hatte – immerhin handelte es sich um einen Menschen, einen talentierten jungen Mann, den man in der Blüte seines Lebens erhitzt hatte wie in einer Mikrowelle –, doch daneben auch einen Adrenalinstoß, der berauschender war als jede Droge. Sie hatte man angerufen. Sie, DI Shanti Joyce, hatte man mit dem Job beauftragt. Was immer sich fünfundzwanzig Meilen von hier entfernt zugetragen hatte, fiel in ihren Verantwortungsbereich. Sie allein würde den Fall lösen.

Allein? Die Keynsham-Cops hatten auch Caine angefordert. Sie sah sich selbst gern als einsamen Wolf, doch sie musste zugeben, dass ihr langhaariger Kollege Dinge wusste, von denen sie keine Ahnung hatte, zum Beispiel über die hiesige Geografie. Außerdem kannte er sich vermutlich bestens mit Musik und den Effekten von Starkstrom auf das Nervensystem aus. Wenn sie recht darüber nachdachte, war er mit Sicherheit ein Stigma-Fan. Wahrscheinlich besaß er all ihre Alben, in alphabetischer Reihenfolge sortiert.

Auf dem Weg über den Parkplatz zu ihrem Wagen tätigte Shanti zwei Anrufe. Als Erstes wählte sie die Nummer ihrer Mutter – »Nein, Mum, ich komme nicht bald nach Hause. Geh ins Bett und mach dir keine Sorgen. … Wie lange ich noch weg bin? Mindestens eine Nacht, vielleicht länger. … Wie geht’s Paul? … Nun, gib ihm einen Kuss von mir. … Danke, Mum. Ich hab dich lieb …«

Der zweite Anruf ging an Vincent Caine – den »Veggie Cop«, wie die Kids von Yeovil ihn nannten. Die Chancen, dass er das Gespräch entgegennehmen würde, tendierten gegen null. Er schien die meiste Zeit »in Klausur« in seinem Refugium, einer Holzhütte hoch oben auf der Undercliff in der Nähe von Lyme Regis, zu verbringen. Dies war gewissermaßen der einzige Ort auf der Welt, an dem es kein Netz gab, und genau das mochte Caine. Er wollte »eins sein mit der Natur«. Wollte in Ruhe meditieren. Sie beschloss, ihm eine Chance zu geben – nur eine, wohlgemerkt –, und die Sache ansonsten allein durchzuziehen. Umso erstaunter war sie, als Caine nach ein paarmal Klingeln ihren Anruf entgegennahm.