Kapitel vierundzwanzig

Mond der Verdammnis

Ein monumentaler Regenbogen überspannte das Tal.

Caine duschte, zog sich saubere Klamotten und trockene Stiefel an und machte sich auf den Weg zum Hundred Monkeys Café, wo er zusammen mit Misty eine leichte Mahlzeit zu sich nahm.

Seine Schwester brannte darauf, sich eine Band anzusehen und anschließend eine weitere Nacht durchzutanzen, aber Caine entschuldigte sich, küsste sie liebevoll und machte sich daran, gegen den Strom der glücklichen Festivalbesucher hügelaufwärts zu steigen.

Unterwegs kam er an zahlreichen Zelten vorbei, denen das Unwetter schwer zugesetzt hatte, und hielt inne, um einem jungen Paar zu helfen, das angestrengt versuchte, sein Lager an einer trockeneren Stelle aufzuschlagen.

Die Gebetsfahnen hatten sich in tropfende Stoffstreifen verwandelt, doch das alte weiße Zelt hatte sich gegen die Fluten behauptet, die inzwischen in einen sanften Nieselregen übergegangen waren.

Hinter dem Glastonbury Tor ging die Sonne so langsam unter, als würde sich ein alter Mann in seinem Bett auf einen Kissenberg sinken lassen. Eine Amsel schüttelte im Weißdorn ihre nassen Federn und sang ein Abendlied, dessen reine Schönheit das Hämmern des Festivals in der Talsenke übertönte. Nur Caine allein hörte ihr zu, während er das Feuer anzündete und sich einen Kamillentee aufbrühte. Anschließend krabbelte er in sein Segeltuch-Zuhause und legte sich schlafen.

 

Ihre Tasche und eine große Portion Pommes frites in der einen, den Schirm in der anderen Hand, verließ Shanti das Festivalgelände und machte sich auf den Weg zurück zur Unworthy Farm. Im schwindenden Licht sah die uralte Steinkirche von Kilton aus, als wäre sie aus Bronze gehämmert.

Die ganze Zeit dachte sie über diesen merkwürdigsten aller merkwürdigen Fälle nach. Morgen war Sonntag. Dann würde die gesamte Zeltmetropole zusammenpacken und sich in hunderttausend verschiedene Richtungen zerstreuen – mittendrin der Mörder von Ethan Flynn.

Was für eine Enttäuschung vorhin vor dem Cabaret! Sie war fest davon ausgegangen, dass sie den richtigen Mann festgenagelt hatte, war überzeugt gewesen, dass unter der Schädelmaske Tyrones hämisch grinsendes Gesicht zum Vorschein kommen würde. Oder wenigstens einer von der Flynn-Entourage. Stattdessen hatten sie einen kleinen Fisch wie Ben Dunnit drangekriegt.

Natürlich konnte das Fahrrad nützlich sein – vorausgesetzt, sie fanden es. Benno hatte versprochen, zwei uniformierte Kollegen zum Parkplatz zu schicken. Wenn sie Glück hatten, würden Dawn und ihre Leute auf Fingerabdrücke oder DNA-Spuren stoßen, doch das konnte Tage, wenn nicht gar Wochen dauern.

Morgen früh wollte sie sich als Erstes mit Caine treffen. Ihr Kollege beharrte darauf, mit der gepiercten Barfrau aus dem Five Heads zu sprechen, doch was Shanti anging, so war sie sich sicher, dass die Spur von Medusa keineswegs oberste Priorität hatte. Ihr Fokus blieb nach wie vor stur auf Tyrone gerichtet. Er hatte sich Shanti zum Feind gemacht – ein Fehler für jeden Mann.

Im Dorf herrschte noch immer ein absolutes Verkehrschaos, und mehrere erschöpfte Uniformierte gaben ihr Bestes, die Lage unter Kontrolle zu halten. Shanti wusste, dass sie Anweisung hatten, ein besonderes Augenmerk auf verdächtige Personen zu legen, die die Gegend besuchten oder verließen. Als sie die Hauptstraße entlangmarschierte, sah sie, wie mehrere Fahrzeuge gestoppt und die Fahrer befragt wurden. Es musste sein, dachte sie, wenngleich die Chancen schlecht standen, jemand anderen festzunehmen als ein paar betrunkene oder unter Drogen stehende Fahrer.

Sie schüttelte die Traube hartnäckiger Reporter ab, nahm die Abzweigung zum Totterdown Hill und rief ihre Mum an.

»Paul geht es gut«, versicherte ihr Amma. »Er sieht dich hin und wieder im Fernsehen, aber jetzt schläft er tief und fest. Das Fußballtraining war anstrengend.«

»Hat er gesagt, ich würde ausschauen, als hätte ich in einer Hecke übernachtet?«

»Er hat gesagt, du würdest aussehen wie Superwoman.«

»Mensch, Mum!«

»Und dann hat er noch gesagt, wie schön du bist und wie stolz wir beide auf dich sein können.«

»Im Ernst, Mum – ich habe mich noch nie im Leben weniger wie Superwoman gefühlt.«

»Was macht mein Freund Vincent Caine?«

»Ein hoffnungsloser Fall.«

»Ach, komm schon, Shanti, ich bin mir sicher, du meinst das nicht so. Ich mag Vincent.«

»Das weiß ich, Amma.«

»Bist du bei der Jagd nach Ethans Mörder weitergekommen?«

»Du weißt doch, dass ich nicht über den Fall reden darf. Wenn du mir helfen willst, verrat mir, wie ich heute Nacht gut schlafen kann.«

»Nimm ein heißes Bad. Und ein paar Schlaftabletten, Liebes. Einmal schadet das bestimmt nicht.«

»Vielleicht hast du recht. Ich muss dringend mal abschalten.«

»Pass auf dich auf, Shanti.«

»Mach ich, Mum. Ich hab dich lieb.«

 

Es gelang Shanti, das Bauernhaus zu betreten, ohne jemandem zu begegnen – auch nicht dem rattengesichtigen Terrier oder seinem frappierend an Mr. Punch erinnernden Herrchen. Geräuschlos schlich sie die Treppe hinauf, dann blieb sie auf dem oberen Absatz stehen und drückte ein Ohr an die Tür der Flieder-Suite. Von drinnen war kein Laut zu hören. Sie sperrte mit dem großen Schlüssel auf und betrat vorsichtig das Zimmer. Anschließend verbrachte sie ganze fünf Minuten damit, jeden Schrank und jede Nische zu überprüfen, und warf sogar einen Blick unters Bett und ins Bad. Erst dann zog sie die Vorhänge vor, sperrte von innen ab und klemmte wie in der Nacht zuvor die Stuhllehne unter den Türknauf.

Junge, Junge, das Bad tat gut. Caines Badeöle waren wahrhaftig entspannend. Und was konnte es schon schaden, ein paar Schlaftabletten zu nehmen, solange das nicht zur Gewohnheit wurde? Sie schluckte eine mit etwas Wasser, dann eine zweite – nur für alle Fälle. Morgen Nacht würde sie wieder in ihrem eigenen Bett liegen. Spätestens am Montag. Verhaftung hin oder her – niemand könnte behaupten, sie habe nicht ihr Bestes gegeben. Zumindest Mum und Paul waren stolz auf sie.

Die Baumwolldecken des riesigen Bettes waren wie erwartet kühl, aber sie war gut gerüstet mit ihrem T-Shirt unter dem Schlafanzug und einem Pulli obendrüber. Shanti lehnte sich gegen den riesigen Kissenstapel und überflog die Nachrichten auf ihrem Handy, während sie bereits die wohltuende Wirkung der Schlaftabletten spürte, die in ihren Blutkreislauf einsickerten.

Schläfrig rief sie die Fernsehberichterstattung zum Fall auf und ging flüchtig ihre eigenen Pressestatements durch. Auf YouTube entdeckte sie etwas, was sie bislang nicht gesehen hatte – den Anfang des Stigma-Gigs, bei dem der wunderschöne Ethan die Pyramid Stage betrat, barfuß und mit fließenden Klamotten. Die Aufnahmen mussten von einer Steadicam auf der Bühne stammen, was Shanti eine Vorstellung vermittelte, wie das riesige Publikum von dort oben aussah – eine endlose Masse knolliger Köpfe. Wie seltsam das war. All diese Schädel. All diese Gehirne. Wie ein Feld mit Hunderttausenden von Steckrüben. All die Augen, gerichtet auf einen einzigen Mann – Ethan Flynn … Vielleicht machte sich aber auch nur die Wirkung der Tabletten bemerkbar, die sie stets ein wenig verwirrten, bevor sie sie die lange, watteweiche Leiter ins Reich des Schlafes emportrugen.

Das Mikrofon in einer Hand, eine Mandoline in der anderen, begann der bleiche Wunderknabe mit einer nuscheligen Rede, die mit den Worten »Dangescheen, Glastonbury« anfing. Er erzählte seinen Fans, dass Stigma noch Teenager waren, als sie das letzte Mal auf dieser Bühne gespielt hatten, und dass »seitdem ’ne Menge Scheiße passiert is’«. So hatten er und Tyrone zum Beispiel ihren Dad, Frankie Flynn, verloren – »Dange, Dad. Liebe dich, Mann.« Er erinnerte sein riesiges Publikum daran, dass der Tod allgegenwärtig war. »Tod und Leben sinn wie Zwillinge, stimmt’s, Tyrone?«, sagte er und mahnte seine verzückten Fans, dass sich genau aus dem Grund alle lieben sollten. Schließlich verkündete er, dass vor Kurzem etwas Wundervolles passiert sei – jemand ganz Besonderes sei in sein Leben eingetreten und habe ihn dazu bewegt, »noch mal über alles nachsudengen«.

Die Kamera schwenkte zum anderen Ende der Bühne, wo Tyrone sichtlich schäumte vor Ungeduld und Verärgerung.

»Das hier is’ für sie«, schloss das bleiche Genie, »für die eine, die ich mehr liebe als alles andere auf der Welt. Was auch mit mir passiert – ich will, dass sie immer daran denkt. Dangescheen. Ich liebe euch alle …«

Das war der Moment, in dem Shanti ins Reich der Besinnungslosigkeit eintauchte. Das Telefon rutschte aus ihrer Hand und über die Kante des gigantischen Himmelbetts. Ihr letzter Gedanke galt Queenie, denn heute, so hatte Ethans Mutter verkündet, war die dritte Nacht nach dessen Tod. Die Nacht von Ethans Wiederauferstehung.

 

Caine lag in seinem Schlafsack, dicht bei Mutter Erde, und konnte nicht schlafen. Das war ungewöhnlich für ihn. Aber wenn er schon nicht schlafen konnte, konnte er zumindest meditieren.

Er stand auf und trat aus dem Zelt, wo er sich zunächst ein wenig streckte, dann setzte er sich mit überkreuzten Beinen neben die Reste seines Lagerfeuers. Ein frischer Wind hatte das Unwetter weggeweht, die Nacht war absolut klar. Im Tal funkelten die Lichter des Festivals, hoch oben über seinem Kopf blickte ein riesiger Mond auf alles herab – so scharf umrissen, dass Caine sogar die Krater und Vulkane des hell scheinenden Himmelskörpers ausmachen konnte.

Jetzt verstand Caine den Grund für seine Rastlosigkeit. Der Vollmond brachte ihn jedes Mal aus dem Gleichgewicht. Wie oft war er als Junge zum Fenster getappt, während alle anderen im Haus schliefen! Der kleine Vincent hatte die Vorhänge zurückgezogen und zu dem weisen Auge hinaufgeblickt. Er hatte beinahe das Gefühl, sie würden einander kennen – das unschuldige Kind und der uralte Mond.

Später, als junger Mann, hatte er von seinem Lehrer Tu erfahren, wie wichtig der Vollmond für jedes buddhistische Fest war. Er wusste, was für eine bedeutungsvolle Rolle der Mond bei vielen Kulturen spielte, wie er Ebbe und Flut und den weiblichen Zyklus beeinflusste. Für die Heiden war der Vollmond eine Zeit des Wahnsinns und Unheils – dorther kam auch das Wort »lunatisch« – mondsüchtig.

Eine Stunde oder mehr verstrich, dann stand Caine auf, berührte mit den Fingerspitzen die Stirn in einer Geste der Verehrung und kehrte in sein Zelt zurück. Er spürte, dass die heutige Nacht und der folgende Tag ausgesprochen seltsam werden würden.

 

Im Traum steckte Shanti ihre Fingerspitzen tief in die Augenhöhlen des Todes und zog, so fest sie konnte, um ihm die Maske vom Gesicht zu reißen. Wer lag da vor ihr, eingeklemmt von ihren Knien? War es Tyrone? Oder Ethan? Mit einem letzten Ruck löste sie die Maske von seinem Gesicht und starrte in das schwarze Nichts dahinter. In der rostbraunen Hirnschale wimmelte es nur so von Maden.

Shanti bemühte sich angestrengt, wach zu werden. Die Tabletten … die verdammten Schlaftabletten hatten ihre Glieder so schwer gemacht, dass sie sich nicht vom Fleck rühren konnte. Ihre Augenlider waren fest geschlossen und ließen sich nicht öffnen. Zu ihrem Entsetzen hörte sie Geräusche im Zimmer. Jemand ging mit tappenden Schritten auf und ab. Wenn sie doch nur aufwachen, ihre Augen öffnen könnte! Könnte sie doch nur atmen …

Queenie hat recht behalten. Er war hier! Ethan war zurückgekehrt. Hier war er, kniete auf ihrer Brust, drückte sie tiefer und tiefer in dieses hausgroße Bett.

Sie hörte ihn flüstern: »Finde sie für mich. Finde die eine, die ich mehr liebe als jeden anderen. Dann wirst du verstehen. Dangescheen. Vielen, vielen Dang …«

Mit einer letzten übermenschlichen Anstrengung zog Shanti einen großen Schwall kalter Luft in ihre Lungen und setzte sich ruckartig auf.

Es war alles ein grässlicher Albtraum gewesen. Das Zimmer war kühl und leer. Der Wind hatte das alte Fenster aufgedrückt, und hinter den flatternden Gardinen sah sie einen riesigen Mond, der den Raum in einen silbrigen Glanz tauchte.

»Heilige Scheiße!«, japste sie und schüttelte den Kopf, um die Wirkung der Schlaftabletten zu vertreiben, die ihr Gehirn vernebelt hatten. Sie schwor sich, das Medikament nie wieder zu nehmen, dann schwang sie die Füße aus dem Bett, um das Fenster zu schließen.

Sie war noch nicht aufgestanden, als etwas ihre Aufmerksamkeit erregte.

Etwas Weißes, Glänzendes zwischen den kunstvollen Schnitzarbeiten oben am Bett.

Der Mondschein fiel auf einen hell leuchtenden Gegenstand, der in den dunklen Holzstreben des Betthimmels verborgen war. Vermutlich war es eine optische Täuschung, hervorgerufen durch das Licht, aber eine der grässlichen Wasserspeierfratzen schien strahlend weiße Zähne zu besitzen.

Zitternd stellte sich Shanti aufs Bett und ging vorsichtig über die trampolinartige Matratze. Jetzt konnte sie es klar erkennen: das polierte Gesicht eines Grimassen schneidenden Mannes, aus dunklem Eichenholz geschnitzt. Er hatte etwas Kleines, Weißes im Mund …

Keine Zähne, sondern ein eng zusammengefaltetes Blatt Papier. Sie versuchte, es herauszuziehen, aber ihre Beine schwankten auf der weichen Matratze, und ihre Finger passten nicht in den schmalen Spalt.

Sie kletterte vom Bett auf den kalten Fußboden und schloss das Fenster. Danach schaltete sie das Licht an und durchwühlte ihre Kulturtasche nach einer Pinzette.

Anschließend kehrte sie aufs Bett zurück und zog behutsam das Papier hervor, das sie lediglich mit den Spitzen der Pinzette berührte. Immerhin war es ein mögliches Beweisstück.

Mittlerweile hellwach, legte sie den Gegenstand vorsichtig auf die mit einer Glasplatte abgedeckte Kommode. Sie nahm ein Päckchen Latexhandschuhe aus ihrer Tasche, dann machte sie sich auf die Suche nach ihrem Handy, das ihr beim Einschlafen aus der Hand gerutscht war. Nach einer ganzen Weile entdeckte sie es vor dem Bett auf dem Fußboden. Im hellen Schein der Taschenlampe streifte sie die Handschuhe über und faltete das Papier auseinander.

Es war ein eng beschriebenes Notenblatt mit der Überschrift: Song For Eve. Überall fanden sich Symbole und Notenschlüssel und Noten, die Shanti nichts sagten. Unter den horizontalen Linien jedoch entdeckte sie einen seltsamen, rätselhaften Liedtext in einer eleganten, nach rechts geneigten Handschrift. Sie las den ersten Vers laut:

 

»Sleepy creature of the sacred dome

Spread your wings, it’s time to fly from home …«

 

Schlafendes Geschöpf der heiligen Kuppel

Breite deine Flügel aus, es ist Zeit, dem Heim zu entfliegen …

 

Was bedeutete das? Shanti machte mehrere Fotos, dann steckte sie das Blatt Papier vorsichtig in eine Plastiktüte.

Es dauerte noch Stunden, bevor sie wieder einschlief.