Kapitel fünfundzwanzig
Nehmen Sie Ihre Füße vom Bett, Caine.«
Er starrte ungläubig auf die Musikpartitur in der Beweismitteltüte. Draußen zwang unablässiges Glockengeläut die Gläubigen von Kilton in die Knie.
»Das ist etwas ganz Besonderes, Shanti! Sie haben Ethans letzten Song gefunden.«
»Ich bin etwas ganz Besonderes, Caine … Was machen Sie hier eigentlich?«
»Hm? Ach so, ich habe wie verabredet vor dem Five Heads auf Sie gewartet, aber Sie sind nicht erschienen.«
»Ja, ich habe eine anstrengende Nacht hinter mir.«
»Ich habe mir Sorgen gemacht, als Sie nicht ans Telefon gegangen sind.«
»Das ist zutiefst berührend.«
»Deshalb bin ich den Hügel hinaufspaziert. Primrose hat gesagt, Sie würden zum Frühstück runterkommen, doch als Sie auch dort nicht erschienen sind, dachte ich mir, ich bringe Ihnen einen Tee.«
»Nun, das weiß ich zu schätzen. Und was halten Sie da in der Hand?«
»Wildblumen. Ich habe sie unterwegs auf dem Totterdown Hill gepflückt. Ich dachte, sie würden Sie aufmuntern. Sie haben eine harte Woche hinter sich.«
»Herrgott, Caine. Das ist absolut unangemessen.«
»Ich verstehe nicht …?«
»Ich bin im Dienst. Detective Inspector. Ihr Partner. Wir stecken mitten in einem Mordfall.«
»Ich verstehe noch immer nicht. Was schaden denn ein paar Blumen?«
»Oh, ich weiß gar nicht, wo ich da anfangen soll … Okay, jetzt stehe ich erst einmal auf. Würden Sie bitte wegsehen, während ich aus dem Bett steige? Nicht dass Sie noch etwas Verstörendes zu Gesicht bekommen …«
»Sie verstören mich immer, Shanti.«
»Halten Sie die Klappe, Caine, und konzentrieren Sie sich ausschließlich auf den Song.«
Sie erhob sich und flitzte in das eiskalte Badezimmer, während Caine mit dem Finger über das Notenblatt fuhr und mit den Lippen lautlos die einzelnen Worte des Textes formte.
»Und, was denken Sie?«, rief Shanti. »Kryptischer Hinweis oder typisches Ethan-Gesülze?«
»Mir gefällt es. ›Between us lies the ever-breathing sea / Big waves crying our love can never be / Dum di dum di dum dee dee …‹ Erinnert mich an den jungen Neil Young.«
»›Zwischen uns liegt die ewig atmende See / Hohe Wellen bewein’n, dass unsere Liebe niemals darf sein / Dum di dum di dum di dei …‹ – Was soll das?«
»Klingt ein bisschen wie der Song ›Helpless‹.«
»Genau das sind Sie, Caine. Vollkommen hilflos.«
»Hören Sie sich das mal an: ›Forever strangers, like daytime is to night / Yet I love you, like the darkness loves the light …‹ Es ist beinahe so, als wolle Ethan uns auffordern, einen Code zu dechiffrieren.«
»›Für immer Fremde, wie die Nacht für den Tag / Und doch lieb ich dich, wie Dunkelheit das Licht mag‹. Sie könnten recht haben Caine. Mir fallen gleich zwei Worte dazu ein.«
»Nämlich?«
»Hochtrabender Schwachsinn.«
»Nun ja, die Melodie ist schön. Möchten Sie, dass ich sie Ihnen einmal vorsinge?«
Shanti spähte entsetzt zur Badezimmertür hinaus. »Herrgott, Caine, bitte nicht! Außerdem sind das doch alles nur Punkte und Schnörkel. Das können Sie doch gar nicht lesen, oder doch?«
»Ein bisschen. Ich habe das Notenlesen gelernt, als ich bei Half Man Half Bull war.«
»An dem Satz klingt irgendwie alles falsch.«
»Sleepy creature of the sacred dome … Ich kann verstehen, warum Vula dachte, es ginge in dem Song um sie.«
»Geht es aber nicht. Es geht um Eve.«
»Wer immer Eve sein mag.«
»Aber warum hat er das Blatt versteckt, Caine? Ich meine, ich habe es nur entdeckt, weil der Mond direkt darauf geschienen hat. Sonst wäre es wohl für immer dortgeblieben.«
»Ich weiß es nicht. Ich nehme an, das passt zu Ethans Profil – er wollte immer gern impulsiv und geheimnisvoll erscheinen.«
»Oder aber er hat in den Worten tatsächlich versteckte Hinweise gegeben. Gehen Sie noch mal zu der Zeile mit der heiligen Kuppel zurück. Worauf bezieht er sich da?«
»Lassen Sie uns mal nachdenken«, schlug Caine vor. »Ich fange an. Wenn Sie aus dem Fenster blicken, werden Sie eine heilige Kuppel sehen, die Ethan geliebt hat.«
»Kann ich nicht bitte mit einem normalen Partner zusammenarbeiten?«
»Ich spreche vom Glastonbury Tor.«
Shanti verließ das Badezimmer und fuchtelte mit ihrer Zahnbürste vor Caines Gesicht herum.
»Nein, Sie liegen meilenweit daneben. Aber zum Glück habe ich das Rätsel gelöst … O Mann, wie kann man nur so clever sein?«
»Schießen Sie los!«
»Okay. Erinnern Sie sich, als wir zusammen in der Villa del Flynn waren?«
»Sie fühlten sich ein wenig angeschlagen.«
»Ich war noch fit genug, denn ich habe etwas bemerkt, was Ihnen entgangen ist. Ethan hatte eine ganz besondere Beziehung zu seiner Großmutter, richtig?«
»Das hatte er in der Tat.«
»Und Nana Flynn hat ihm ihr musikalisches Talent vererbt. Die beiden haben einander vergöttert, ebenfalls richtig?«
»So hat es Queenie erzählt.«
»Können Sie sich erinnern, wo ihre Asche zur letzten Ruhe gebettet ist?«
»In einer Urne in ihrem Zigeunerwagen.«
»Und wo stand dieser Zigeunerwagen?«
»Unter einer Kuppel.«
»Korrekt. Sie verlieren fünf Punkte, weil ich Ihnen auf die Sprünge helfen musste, aber am Ende sind Sie draufgekommen. Die Kuppel war Ethan heilig, und er hat geholfen, sie zu entwerfen.«
»Das ist durchaus eine Möglichkeit.«
»Eine Möglichkeit? Ich wette ein Glas Honig darauf, dass das alte Mädchen Eve hieß.«
»Bio?«
»Hergestellt von buddhistischen Bienen.«
»Ich weiß nicht. Ich habe dennoch das Gefühl, dieser Song wird uns helfen, den wahren Ethan zu enthüllen. Lassen Sie mich mal machen, Shanti. Ich brauche Zeit, darüber nachzudenken.«
»Klar, Caine – Sie verziehen sich auf eine Waldlichtung und verbringen den Tag in Kontemplation. Doch was mich betrifft – heute ist der letzte Tag dieses gottverdammten Festivals, und ich bin fest entschlossen, eine Verhaftung vorzunehmen.« Sie warf einen Blick in den Spiegel über der Kommode. »Ach du lieber Himmel, ich sehe grauenhaft aus.«
»Sie sehen großartig aus, Shanti. Sie strahlen regelrecht.«
»Nun, ich fühle mich wie gerädert.«
»Wie dem auch sei – ich bin überzeugt, dass Medusa recht hat: Bei diesem Fall geht es um Liebe.«
»Wieder falsch, Caine. Bei diesem Fall geht es um Missgunst. Um die gute, alte Rivalität unter Geschwistern. Tyrone wollte den Bruder beseitigen, der ihn sein Leben lang in den Schatten gestellt hatte. Das Ganze hat beinahe biblische Züge. Gestern Abend vor dem Einschlafen habe ich mir ein YouTube-Video von Stigma angeschaut. Darauf konnte man sehr gut erkennen, dass er vor Eifersucht brodelte. Vergessen Sie nicht, dass Tyrone sich in ebendieses Schlafzimmer geschlichen hat. Ganz offensichtlich hat er diesen Song gesucht. Ich nehme an, er hat mitbekommen, dass Queenie und vielleicht auch Vula behauptet haben, Ethan habe den größten Song aller Zeiten geschrieben, und wollte den Ruhm für sich beanspruchen.«
»Dann denken Sie also, dass Tyrone seinen Bruder wegen eines Lieds umgebracht hat?«
»Ich denke, dass jetzt Frühstückszeit ist. Große, brutzelnde Würstchen. Ach ja, danke, dass Sie an mich gedacht haben, aber warum schenken Sie die Blumen nicht Primrose? Ich bin mir sicher, sie freut sich darüber.«
Shanti sollte recht behalten. Primrose freute sich tatsächlich über die Blumen. Sichtbar errötend, stellte sie sie in eine Vase mitten auf dem Küchentisch, an dem bereits Vowles und Gavin Blackmore saßen.
Blackmore leerte hastig seine Tasse, murmelte eine Entschuldigung und verließ die Küche, als wären seine Locken in Brand geraten.
»Setzen Sie sich hierher, meine Liebe«, sagte Vowles, der eine Mütze und Wollsocken trug. An seinem roten Zinken hing ein frischer Tropfen. Er deutete auf die beiden gekochten Eier vor ihm. »Möchte Ihr junger Mann auch etwas essen?«
»So jung ist er gar nicht mehr, und ganz bestimmt ist er nicht mein Mann«, stellte Shanti klar. »Außerdem hat er schon gegessen, nicht wahr, Caine?«
»Dann eben nur eine Tasse Tee«, sagte Primrose und schenkte Caine ein zahniges Lächeln. »Nichts zu danken, gern geschehen.«
Von dem Moment an, in dem sie die Küche betreten hatte, war sich Shanti überdeutlich der Anwesenheit des blutrünstigen Höllenhundes bewusst, der zusammengerollt auf seinem schmuddeligen Sessel lag, die faulen Zähne bleckte und im Schlaf knurrte. Nervös ging sie um den Tisch herum und setzte sich an das gewaltige Frühstück, das Primrose vor sie hinstellte. Während sie hausgemachte Marmelade auf hausgemachtes Brot schaufelte, wurde sie Zeugin von etwas Außergewöhnlichem. Von einer Art Wunder.
Ihr Kollege, Vincent Caine, rührte sich einen bescheidenen Löffel Honig in den Tee, dann ging er zu dem Sessel hinüber und setzte sich tatsächlich hinein, den schmalen Hintern gleich neben der Flanke der satanischen Bestie. Primrose und Vowles sahen es ebenfalls. Schlagartig trat ein alarmierter Ausdruck auf ihre Gesichter.
Shanti wartete auf das Knurren. Auf die Panik. Das reißende Fleisch. Die Schreie. Das Blut. Doch als Boner eines seiner Knopfaugen öffnete, nahm Caine den kleinen Kerl in aller Seelenruhe hoch, legte ihn quer auf seinen Schoß und fing an, ihn ausgiebig hinter den gelbbraunen Ohren zu kraulen. Der Köter starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an und entspannte sich dann, als hätte man ihn unter starke Drogen gesetzt.
»So was hab ich noch nie gesehen.« Vowles schnappte nach Luft.
»Er muss magische Finger haben«, seufzte Primrose.
Nach einer Weile drehte sich Boner voller Wollust auf den Rücken und lud Caine ein, sein pralles Bäuchlein zu massieren.
»Der arme Gavin ist davongestürmt, ohne sein Frühstück aufzuessen«, sagte Caine, ohne die offenen Münder um ihn herum zu bemerken.
»Wie ich Ihrer Freundin bereits erklärt habe, fühlt sich Gavin in Gesellschaft nicht sonderlich wohl«, meldete sich Primrose zu Wort. »Er hat seine Gründe, aber wir ziehen es vor, nicht darüber zu sprechen, stimmt’s, Vowles? Schlafende Hunde sollte man nicht wecken.«
Boner seufzte und leckte ekstatisch Caines Hand.
»Mir macht es nichts aus, darüber zu sprechen«, entgegnete Vowles bedächtig.
»Oh. Bist du dir sicher, dass das klug ist, Liebling?«, fragte Primrose.
»Gavin ist mein Neffe, und außerdem war ich seit seiner Kindheit sein Vormund.«
»Du hast alles für ihn getan, Vowles«, sagte Primrose.
»Der junge Gavin hatte alles – gutes Aussehen, Verstand. Er war der beliebteste Bursche im Dorf. Und dann ist er Carole begegnet …«
»Carole?«
»Ein Mädchen vom Exeter College. Es war Liebe auf den ersten Blick. Die beiden passten perfekt zusammen. Wo ist noch mal das Foto, Primrose?«
»Ach, Vowles, ich bin mir nicht sicher, ob der Gentleman das wirklich sehen möchte …«
»Liebend gern«, versicherte Caine.
Primrose ging zu einer überladenen Anrichte und zog ein gerahmtes Foto hinter einem Stapel Teller hervor.
»Meinst du das?«, fragte sie und reichte ihrem Mann eine Aufnahme von vier lächelnden Erwachsenen und einem Baby.
»Das ist es. Sehen Sie, das hier bin ich … und das ist Primrose in ihren besten Jahren. Was für eine Schönheit!«
»Ach, Vowles.«
»Sie sehen alle sehr glücklich aus«, sagte Caine. »Ist das der kleine Seth in Ihren Armen, Primrose?«
»O ja. Seth war die späte Mehrung unseres Lebens, wie wir es nennen, nicht wahr, Vowles?«
»Eine unerwartete Mehrung, Primrose.«
»Sehen Sie, Vowles und ich kommen aus einer anderen Generation. Um ehrlich zu sein, verstehen wir Seths Art und Weise nicht, und es macht mich traurig, zuzugeben, dass wir uns in den letzten Jahren entfremdet haben.«
»Familien sind kompliziert«, stimmte Caine ihr zu.
Vowles tippte auf das Glas vor dem Foto. »Eigentlich wollte ich Ihnen die beiden anderen hier zeigen. Das ist Gav mit Carole. Sie haben gerade ihren Abschluss gemacht, deshalb sind sie so glücklich.«
»Ein schönes Paar«, pflichtete Caine ihm bei.
»Die zwei waren bis über beide Ohren verliebt, hab ich recht, Primrose?«
»Vowles, vielleicht solltest du lieber nicht …«
»Überglücklich waren die zwei. Ich erinnere mich noch, wie Gav gesagt hat: ›Selbst wenn ich mein Leben lang suche, Onkel Vowles, so werde ich doch nie eine bessere Partnerin finden als Carole.‹ Dabei sah er Primrose und mich an. Ich habe den beiden zu einer anständigen Miete eines der Landarbeiter-Cottages überlassen, in dem Gav heute noch wohnt, doch die zwei wollten etwas Eigenes besitzen. Sie sparten und kauften sich ein nettes Grundstück ein paar Meilen außerhalb von Kilton. Dort, so träumte Gav, wollte er ein Haus bauen und eine Familie gründen. Doch dann geriet in einer finsteren Winternacht alles aus den Fugen.«
»Vowles, ich weiß wirklich nicht, ob der Gentleman das hören möchte …«
»Doch, doch, das interessiert mich sehr«, sagte Caine. »Vorausgesetzt, es ist nicht zu erschütternd für Sie.«
»Gav verkündete uns, dass sie heiraten würden. Sie wollten ausgehen, um die Verlobung zu feiern. Er hatte einen Ring gekauft und alles.«
»Wunderschön«, seufzte Primrose.
»Sie gingen in einen Pub und tranken ein, zwei Gläser. Dann noch ein paar. Und noch mehr. Carole musste am nächsten Tag früh zur Arbeit, deshalb stand sie irgendwann auf und ging, das dumme Mädchen. Dachte nicht mal dran, sich ein Taxi zu nehmen …«
»O nein, reg dich bitte nicht auf, Vowles«, sagte Primrose.
»Ist in ihren Wagen gestiegen und davongefahren in die dunkle, nasse Nacht. Gav wollte noch etwas bleiben und später zu Fuß nachkommen, richtig, Primrose?«
»Das weiß ich nicht. Du warst da, Vowles. Ich lag im Bett.«
»Ich war da.« Vowles nickte. »Ich und der Hund waren draußen, auf Rattenjagd. Ich war derjenige, der sie gefunden hat.«
»Das tut mir sehr leid.«
»Alles war überflutet. Sie ist von der Straße abgekommen und direkt in den Entwässerungskanal gefahren. Ich habe die Lichter ihres kleinen, weißen Autos gesehen. Sie waren noch an. Der Wagen ragte aus dem Wasser … Verzeihen Sie … Es geht gleich wieder …«
»Bitte …«
»Die Sache ist die: Ich kriege das Bild einfach nicht aus dem Kopf. Das weiße Auto, der Entwässerungskanal … Was für eine schreckliche Art zu sterben! Natürlich bin ich sofort hinübergerannt und habe mit aller Kraft versucht, den Wagen zu bewegen. Wenn ich einen Traktor gehabt hätte, hätte ich vielleicht etwas tun können, aber ich glaube, sie war ohnehin schon tot.«
»Siehst du, jetzt hast du alles wieder aufgewühlt«, sagte Primrose.
»Ich bin bis zur Taille in das eisige Wasser gewatet. Und dann … dann habe ich sie durchs Fenster herausgezogen. Liebes kleines Ding. Wog kaum mehr als ein Kind. Sie war nicht angeschnallt gewesen und ist sofort unter Wasser gerutscht. Mausetot.«
»Wie furchtbar. Der arme Gavin«, sagte Caine.
»In jener Nacht hat er sich verändert. Er wurde lebensscheu … zog sich zurück wie ein Wiesel in sein Erdloch. Vor der Tragödie war er ausgesprochen gesellig, doch jetzt …«
»Sagt er kaum ein Wort.«
»Kaum ein Wort«, wiederholte Vowles, klopfte sein Ei an und entfernte die obere Hälfte mit einem Teelöffel. »Das ist der Grund dafür, warum er ist, wie er ist. Und natürlich hat er sich nie wieder hinters Steuer gesetzt.«
»Tatsächlich?«, sagte Shanti und blickte von ihrem Frühstück auf. »Ich habe ihn doch auf einem Quad gesehen.«
»Selbstverständlich, junge Dame, aber er fährt niemals auf der Straße – was ausgesprochen ärgerlich ist, wenn Sie mich fragen. Er nimmt noch nicht mal den Traktor, um die Hecken entlang der Zufahrtsstraße zu schneiden.«
»Vowles hat sich nach dem schrecklichen Unfall noch mehr um ihn gekümmert, nicht wahr, Liebling?«, fügte Primrose an.
»Es war das einzig Richtige. Er wusste weder ein noch aus. In jener Nacht ist buchstäblich seine gesamte Zukunft abgesoffen. Als er wieder arbeiten konnte, hat er mir auf der Farm geholfen. Wir können uns nicht beschweren, Primrose und ich. Er zahlt seine Miete und erledigt ordentlich seine Arbeit. Allerdings ist man bei Gav an der falschen Adresse, wenn man nach fröhlicher Gesellschaft sucht.«
»Der arme Kerl«, sagte Caine.
»Ich dachte, Sie sollten das wissen.« Vowles schob sich einen Teelöffel voll Ei in den Mund.
Shanti stand auf. »Das ist eine sehr traurige Geschichte, aber ich fürchte, wir haben noch etwas zu tun.«
»Haben Sie Fortschritte gemacht, was die Person angeht, die dem jungen Ethan etwas so Schreckliches angetan hat?«, wollte Vowles wissen.
»Ich fürchte, wir werden den Fall noch nicht abschließen können, doch ich bin überzeugt, dass die Gerechtigkeit siegen wird«, antwortete Shanti.
»Ganz bestimmt, junge Dame. Da bin ich mir sicher.«
»Sind Sie so weit, Caine?«, fragte Shanti.
Caine stand auf und legte den Hund, der nicht sonderlich glücklich über die Trennung wirkte, behutsam auf den Sessel.
»Danke für den Tee«, sagte er. »Ach übrigens, mir ist ein schönes Grab auf dem Friedhof aufgefallen, auf dem frische Blumen standen.«
»Meine geliebte Mutter«, stieß Vowles mit zugeschnürter Kehle hervor. »Sie ist vor zehn Jahren von uns gegangen. Ganz egal, wie alt man ist: Seine Mum vermisst man immer.« Der Tropfen fiel von seiner Nase in das gekochte Ei.
»Nichts zu danken, gern geschehen«, sagte Primrose und räumte die Reste von Shantis Frühstück ab.
»Was zum Teufel sollte das alles?«, fragte Shanti, als sie auf den Hof hinaustraten.
»Wir haben uns bloß unterhalten«, erwiderte Caine. »Man weiß nie, was man dabei aufschnappt.«
»Caine, es ist beinahe zehn. Wir haben bisher genau gar nichts erreicht, und Sie sitzen da mit diesem Höllenhund auf dem Schoß, trinken Tee und hören sich Gruselgeschichten an.«
»Ich bin seit Tagesanbruch auf den Beinen, Shanti. Sie sind diejenige, die ausgeschlafen hat. Wie sieht’s aus – haben Sie Lust, mich in den Pub zu begleiten?«
»Damit Sie der Barfrau auf den Zahn fühlen können?«
»Ich möchte mehr über ihre Beziehung zu Medusa herausfinden.«
»Nettes Angebot, aber ich mache mich lieber auf den Weg, um Tyrone Flynn zu verhaften.«
»Shanti, Sie haben nichts gegen Tyrone in der Hand außer Ihrem persönlichen Groll.«
»Was soll ich Ihrer Meinung nach tun? Ein Tänzchen aufführen? Mir die Nägel lackieren und hoffen, dass sich das Ganze von selbst erledigt?«
»Sie wissen doch, was ich immer sage: Wir müssen das Ungewisse umarmen.«
»Ja, und wissen Sie, was ich immer sage? Wir sind nicht an der Hüfte zusammengewachsen. Warum also ziehen Sie nicht einfach los, setzen sich auf die Schwelle und warten auf diese Barfrau? Vielleicht pflücken Sie ihr unterwegs ein paar Blumen.«
»Im Ernst, Shanti. Ich bin der Ansicht, Sie sollten vorsichtig sein. Tyrone ist ein gefährlicher Mann – was er zu Genüge unter Beweis gestellt hat. Außerdem hat er ein paar äußerst unangenehme Aufpasser. Könnten Sie nicht bitte eine halbe Stunde warten?«
»Jetzt kommen wir zum Knackpunkt. In Wirklichkeit denken Sie, ich brauche einen großen, starken Mann, der mich beschützt.«
»Ganz und gar nicht …«
»Wissen Sie, wer Jahresbeste in Martial Arts war?«
»Sie.«
»Und wissen Sie, wer Topergebnisse erzielt hat beim professionellen Fahrertraining? Beim Fahrtraining für Straßenkampffahrzeuge? Nicht zu vergessen beim Rettungsschwimmen! Ich kann auf mich selbst aufpassen, vielen Dank. Wir sehen uns später. Halten Sie sich beim Cider zurück.«