Kapitel sechsundzwanzig
Caine betrat den Hof an der Rückseite des Five Heads und spähte durch die Fenster. Immer noch keiner da.
Nach einer Weile überquerte er die vollgestopfte Straße und kehrte zu der steilen Gasse vor dem Friedhof zurück. Neben der Kirchentreppe blieb er eine Zeit lang stehen und beobachtete, wie die kleine Gemeinde in den Sonnenschein hinausströmte. Das Glockengeläut schmerzte in den Ohren und vermischte sich auf unschöne Weise mit den Gigs der ersten Bands unten auf dem Festival.
Als der Vikar auch noch die letzte Hand geschüttelt hatte und die Kirchentüren schloss, betrat Caine den Friedhof und nahm sich einen Moment Zeit, um die Gräber zu betrachten. Schließlich schlenderte er die Gasse hinunter, bis er die Stelle fand, die Ben Dunnit beschrieben hatte – eine kleine Lücke im Gestrüpp.
Er schlängelte sich hindurch und sah sich um. Überall wucherten Efeu und Brombeerranken, am Boden lagen weggeworfene Düngemittelsäcke, alles klatschnass vom Regen. Caine bemerkte einen Schleichweg, außerdem eine Stelle mit platt gedrücktem Gras, wo wahrscheinlich das Fahrrad gelegen hatte.
Fünf Minuten später verließ er das Gebüsch und kehrte zum Pub zurück, der jetzt geöffnet hatte.
Der Gastraum war leer, abgesehen von der Barfrau in der roten Lederjacke, die geräuschvoll hinter der Bar staubsaugte. Sämtliche Stühle waren hochgestellt, die Sitzflächen auf den Tischen.
»Guten Morgen«, wünschte Caine.
Sie fuhr zusammen und stellte den Staubsauger ab.
»Schon wieder da?«, sagte sie und stützte sich auf die Zapfanlage. »Möchten Sie etwas trinken?«
»Diesmal etwas Nichtalkoholisches«, antwortete Caine. »Einen Apfelsaft, bitte. Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir ein paar Fragen zu beantworten?«
»Kommt darauf an, was für Fragen.«
»Kennen Sie Medusa Cole?«
Sie schenkte den Saft ein, gab Eis und eine Zitronenscheibe hinzu und reichte Caine das Glas.
»Sie sind von der Polizei, stimmt’s? Medusa hat mir erzählt, dass Sie bei ihr rumgeschnüffelt haben. Sie sehen gar nicht aus wie ein Cop, wenn ich das mal so sagen darf. Tragen die nicht für gewöhnlich solche riesigen Helme?«
»Ich bin Detective – DI Vince Caine. Wir untersuchen …«
»… den Tod von Ethan Flynn. Das hat Medusa ebenfalls erzählt. Und ja, wir sind beste Freundinnen. Sie kommt ständig her.«
»Entschuldigen Sie, darf ich Sie nach Ihrem Namen fragen?«
»Molly. Molly Appleyard. Freut mich, Sie kennenzulernen, DI Vince Caine.«
»Sie leben beide in Kilton, Molly?«
»Das tun wir. Wir sind zusammen zur Schule gegangen und haben alles gemeinsam gemacht: die erste Zigarette rauchen, das erste Mal was mit Jungs anfangen … Im Dorf waren wir als Bad Girls verschrien, falls Sie wissen, was ich meine.«
Caine nickte. »Und Sie sind auch zusammen aufs Festival gegangen?«
»Als Teenies haben wir das nie verpasst. Das Festival war für uns das Highlight des Jahres. Wenn man im Dorf lebt, bekommt man Freikarten. O ja, wir haben Beyoncé, Björk, Amy Winehouse, Skunk Anansie gesehen – die waren echt gut.«
»Das war 1999, stimmt’s?«
»Sie waren auch da?«
»Das werde ich nie vergessen«, sagte Caine.
»Skunk Anansie waren der letzte Hauptact des zwanzigsten Jahrhunderts.«
Caine nickte erneut, dann fragte er: »Aber mittlerweile gehen Sie nicht mehr aufs Festival, Molly?«
»Sieht es so aus, als hätte ich Zeit dazu? Außerdem ist Glasto in meinen Augen nicht mehr das, was es mal war.«
»Aber Sie mögen Stigma?«
»Die sind ganz okay. Allerdings bin ich inzwischen alleinerziehende Mutter von zwei Kids, drei Jahre und ein Jahr alt. Meine knapp bemessene Freizeit verbringe ich mit meinem Hobby.«
»Verständlich. Und was für ein Hobby haben Sie?«
»Motorräder, Vince. Hauptsächlich Geländemaschinen. Man fühlt sich nirgendwo lebendiger als auf einem Motorrad, wenn einem der Wind an den Haaren zerrt und der Motor zwischen den Schenkeln dröhnt. Sind Sie schon mal gefahren?«
»Nicht wirklich. Als ich jung war, hab ich ab und an mal auf einer Maschine gesessen …«
»Sie sollten es mal versuchen. Hier in der Gegend gibt es ein paar richtig gute Strecken.«
»Das werde ich vielleicht sogar tun. Aber kommen wir zurück zum Thema: Sie wussten von Medusas Auftrag für Stigma.«
»Na ja, um ehrlich zu sein, ging es mir sogar auf den Geist, ständig davon zu hören.«
»Vermutlich haben alle im Pub darüber geredet und vielleicht sogar Fotos von den Kostümen gesehen.«
»Das trifft wohl zu. Stört es Sie, wenn ich weitermache? Wir sind heute knapp besetzt, und auch wenn es jetzt noch nicht so aussieht, brummt der Laden sonntagmittags während der Festivalzeit wie verrückt.«
»Nur zu. Lassen Sie mich Ihnen helfen.«
Sie fingen an, die Stühle von den Tischen herunterzunehmen und neue Bierdeckel zu verteilen.
»Wenn jeder Polizist so wäre wie Sie, wäre die Welt ein glücklicherer Ort. Ich nehme an, Sie sind verheiratet?«
»Molly, erinnern Sie sich, ob einer der Kunden ein besonderes Interesse an diesen Kostümen gezeigt hat?«
»Darüber muss ich nachdenken …«
»Ich gebe Ihnen eine Nummer, unter der Sie mich kontaktieren können.«
»Süß.«
»Rufen Sie mich an, falls Ihnen irgendetwas Ungewöhnliches einfällt.«
»Keine Sorge, das mache ich. War das jetzt alles, DI Caine?«
»Nicht ganz. Wir haben ein Fahrrad gefunden, und ich möchte es seinem Besitzer zurückgeben.«
»Die halten Sie aber auch auf Trab. Morddezernat und Fundbüro gleichzeitig.«
»Gehört alles zum Job.«
»Viele Leute hier haben Fahrräder. Sehen Sie sich den Verkehr draußen an, und Sie wissen, warum. Es dauert eine halbe Stunde, um von einem Ende des Dorfes zum anderen zu fahren. Ich habe kein Problem damit, ich nehme meine Yamaha. Sie steht draußen im Hinterhof.«
»Dann fällt Ihnen also niemand ein, dem in den letzten Tagen ein Fahrrad abhandengekommen ist?«
»Ich kann mich ja mal umhören.«
»Es ist ein älteres Modell. Schwarz, mit Schutzblech. Kein Schloss, vorn mit einer altmodischen Dynamolampe. Und mit einer Gepäcktasche … aber nur an einer Seite.«
»Ah ja. Das Fahrrad kenne ich. Es stand oft vor dem Pub.«
»Tatsächlich? Wissen Sie, wem es gehört?«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ich rufe Sie an, okay? Nach der Arbeit …«
»Warum verraten Sie es mir nicht jetzt, Molly?«