Kapitel siebenundzwanzig
In Trauerkleidung öffnete Queenie Flynn die imposante Haustür.
Es war schockierend, wie erschöpft sie aussah. Seit Shantis letztem Besuch schien sie sichtlich gealtert. Unter ihren traurigen Augen drückten sich dunkle, aufgequollene Ringe durch das Make-up; außerdem wirkte sie irgendwie kleiner – vielleicht lag das aber auch nur daran, dass sie ihre selbstbeherrschte Haltung aufgegeben hatte.
»Ich muss ein Hühnchen mit Ihnen rupfen, junge Dame«, sagte sie.
»Wie bitte?«
»Tyrone hat mir erzählt, dass Sie Ethans Zimmer auf der Unworthy Farm bezogen haben. Ist das korrekt?«
»Ich … ähm, ja. Ich habe es für diese Woche gemietet.«
»Und das halten Sie für schicklich?«
»Es tut mir leid, wenn Sie diesbezüglich anderer Meinung sind. Außerdem musste ich irgendwo unterkommen, Mrs. Flynn. Und da Ihre Leute alles ausgeräumt hatten, ohne zuvor das Einverständnis der Polizei abzuwarten, war das Zimmer frei.«
»Ich möchte mich nicht mit Ihnen streiten. Hier gibt es momentan weiß Gott genug Ärger. Was kann ich für Sie tun?«
»Ich hoffe, Sie können mir ein paar weitere Fragen beantworten.«
»An einem Sonntag?«
»Es tut mir aufrichtig leid, Mrs. Flynn, aber ich möchte die Dringlichkeit dieser Ermittlungen betonen. Wie Sie wissen, ist heute der letzte Tag des Festivals, und wenn wir jetzt nicht zu irgendeiner Art von Durchbruch gelangen, wird alles noch komplizierter.«
»Wollen Sie damit sagen, dass Sie bislang noch keinerlei Fortschritt erzielt haben?«
»So würde ich das nicht ausdrücken«, verwahrte sich Shanti. »Wir haben verschiedene vielversprechende Hinweise, denen wir nachgehen werden, und genau das ist auch der Grund dafür, dass ich hier bin. Aber die Zeit drängt.«
»Dann kommen Sie mal rein. Sie können genauso gut wissen, dass die Dinge hier ein wenig aus dem Ruder gelaufen sind.«
»Es ist eine schreckliche Zeit für die Familie, das verstehe ich«, sagte Shanti.
»Es ist mehr als das«, erwiderte Queenie, als Shanti an den Marmorsäulen vorbeiging und den Flur betrat, der von einer riesigen Vase voller Pfauenfedern dominiert wurde. »Ich bin im Wintergarten gewesen, als Sie kamen«, sagte Queenie. »Ich ziehe mich gern dorthin zurück, um an Ethan zu denken.«
Sie gingen zusammen durch die verschachtelten Gänge und durch den Raum mit der Glaskuppel, wo Shanti stehen blieb, um den alten Zigeunerwagen auf dem Sockel zu betrachten. Aus einem entfernten Teil der riesigen Villa waren erhobene Stimmen zu vernehmen.
Die Glastüren des Wintergartens standen offen, eines der Mannsbilder aus dem Flynn-Clan reinigte mit einem langstieligen Kescher den Pool.
Queenie setzte sich aufrecht auf das weiße Ledersofa und deutete auf einen Sessel, auf den Shanti ihre Tasche stellte. Sie nahm einen Notizblock heraus.
»Sie haben ja gar nicht Ihren netten Kollegen mitgebracht«, stellte Queenie bedauernd fest.
»DI Caine ist anderweitig mit Befragungen beschäftigt.«
»Ein ausgesprochen höflicher junger Mann und zudem ein guter Zuhörer, was selten ist. Ich werde einen Kaffee bestellen, wenn Sie möchten, auch wenn ich hoffe, dass das hier nicht allzu lange dauert …«
»Kommen wir gleich zur Sache«, schlug Shanti vor. »Sie mögen es vielleicht für eine seltsame Frage halten, aber könnten Sie mir bitte den Vornamen Ihrer Mutter nennen, Queenie? Ethans Großmutter.«
»Sie haben recht, das ist in der Tat eine merkwürdige Frage. Ich kann zwar nicht nachvollziehen, was das mit den Ermittlungen zu tun hat, aber meine Mutter hieß ebenfalls Queenie. Wie alle ältesten Mädchen in unserer Familie. So war es schon immer.«
»Oh.«
»Sie wirken überrascht.«
»Und Ethan hatte nicht zufällig einen Kosenamen für sie?«
»Er hat sie Nana genannt.«
»Nicht Eve?«
»Warum sollte er sie denn Eve nennen?«
»Ich dachte nur. Hat der Name irgendeine Bedeutung für Sie?«
»Ja, Eve – Eva – war die erste Frau. Sie hat gern mal einen Apfel gegessen oder zwei … Ah! Ich glaube, ich weiß, worauf das hinauslaufen soll. Sie meinen den Song, nicht wahr? Das wunderschöne Lied, das ich zufällig gehört habe. Es ging darin um jemanden namens Eve … don’t you grieve, darling Eve … – trauere nicht, geliebte Eve … so was in der Art.«
»Das ist richtig.«
»Aber wie können Sie das wissen? Haben Sie den Song gehört?«
»Es tut mir leid, das darf ich Ihnen zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Ermittlungen nicht mitteilen.«
»Dürfen Sie mir zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Ermittlungen denn mitteilen, ob er zu Ihnen gekommen ist?«
»Ob wer zu mir gekommen ist?«
»Ethan. Ich habe gespürt, dass er in der vergangenen Nacht umtriebig war.«
»Sie wissen doch, dass ich an so etwas nicht glaube, Mrs. Flynn. Allerdings muss ich zugeben, dass Ethan in meinen Gedanken äußerst präsent war. Außerdem spüre ich, dass die Aufklärung dieses Falles zahlreichen Personen Frieden und einen Abschluss bringen wird. Auch Ethan, falls Ihnen das hilft.«
»Ich möchte Ihnen etwas sagen, das ich vermutlich besser für mich behalten sollte. Tyrone hat das Haus auf den Kopf gestellt, so verzweifelt hat er das Blatt mit den Noten und dem Text für diesen Song gesucht. Diese Information ist übrigens absolut vertraulich.«
»Selbstverständlich.«
»Ich habe ihm gesagt, dass es ihm nicht zusteht, sich den Song unter den Nagel zu reißen, aber Sie wissen ja, wie Brüder sind. Sie kämpfen noch im Grab.«
»Mrs. Flynn, darf ich Sie ganz direkt fragen: Halten Sie es für möglich, dass Tyrone etwas mit dem Tod seines Bruders zu tun hat?«
Es entstand eine lange Pause. Der Mann am Pool beendete seine Arbeit, legte den Kescher zur Seite, nickte Queenie zu und verschwand.
Als sich die kleinen Wellen auf dem Wasser wieder geglättet hatten, vergewisserte sich Queenie, dass sie allein waren, dann antwortete sie leise: »Ich sollte wütend sein über diese Frage, aber ich müsste lügen, wenn ich behaupten würde, ich hätte sie mir nicht selbst gestellt. Tyrone ist so verbittert. Und er hat in der Vergangenheit ein, zwei Menschen auch körperlich verletzt.«
»Das weiß ich.«
»Ich muss zugeben, dass er mir manchmal Angst macht. Aber nein, ich denke nicht, dass er so weit gehen würde. Es würde mich umbringen, wenn er Ethan auf dem Gewissen hätte, und das weiß er.«
»Vielleicht ergibt sich die Gelegenheit, dass ich mich später einmal mit Tyrone unterhalte.«
»Oh, das glaube ich nicht. Tyrone hat im Augenblick eine Menge um die Ohren.«
»Das verstehe ich, allerdings …«
»Schwören Sie, dass Sie mit keinem Wort erwähnen, was ich gesagt habe? Ich bin mir sicher, da ist nichts dran.«
»Ich werde nichts sagen, Mrs. Flynn. Aber Sie sehen sicherlich ein, dass wir ihn befragen müssen. Womit ist er denn gerade so sehr beschäftigt, wenn ich fragen darf?«
»Das ist eine persönliche Angelegenheit. Eine Familiensache, die nichts mit Ethan zu tun hat.«
Noch während sie sprach, wurde die friedliche Stille wieder einmal von markerschütternden Schreien zerrissen, und die beiden Pfauen kamen panisch zum Pool gerannt, die Schnäbel weit aufgerissen, die Federn zu einem prächtigen Fächer ausgebreitet. Einen Moment später flog ein halb geöffneter Koffer durch die Luft und landete mitten im Wasser, sodass der Inhalt in alle Richtungen davontrieb. Shanti sah gekenterte Stilettos, schwimmende Klamotten, dümpelnde Bücher und mehrere Schmuckstücke, die langsam in Richtung Grund sanken.
»Du Hure! Du verfluchte Hure!«, brüllte Tyrone.
»Herrjemine, jetzt geht das schon wieder los!« Queenie seufzte.
Vor den Augen der entsetzten Shanti spielte sich eine Szene ab, die an die Vertreibung aus dem Paradies erinnerte. Zuerst erschien Tyrone, Koffer, Mäntel und Karton schleppend, die er Richtung Außentür im hinteren Poolbereich schleuderte. Dann tauchte Ophelia auf, so feingliedrig und gleichzeitig so hochschwanger, dass sie kaum laufen konnte. Wie beim letzten Mal war ihr Gesicht tränenüberströmt, doch diesmal bot sie ihm die Stirn.
»Jetzt weißt du es, du grauenhafter Giftzwerg!«
»Ich wusste es schon die ganze Zeit, Schlampe. Ich habe schließlich mitangesehen, wie du dich immer tiefer in deine Lügen verstrickt hast.«
»Seit wann weißt du es?«
»Seit drei Wochen, wenn nicht schon länger. Ich bin ja nicht blind.«
Er machte kehrt, um weitere Habseligkeiten von Ophelia zu holen, die er zu den anderen warf. Nun allerdings nahm Shanti ihre Tasche und hielt auf den Pool zu, wo die Auseinandersetzung stattfand.
»Ich warne Sie, Tyrone Flynn …«
»Heilige Scheiße, die schon wieder! Miss Ich-stecke-meine-Nase-ständig-in-anderer-Leute-Angelegenheiten.«
»Tyrone!«, rief Queenie und rannte auf die kleine Gruppe zu. »So wird in diesem Haus nicht geredet! Die Dinge, die du Ophelia an den Kopf wirfst, sind absolut inakzeptabel.«
»Aber Mammy, sie ist eine Hure, eine gottverdammte Hure! Dafür gibt es kein anderes Wort.«
»Noch ein Mal, Tyrone, und ihr fliegt beide raus. Vielleicht finde ich dann ein wenig Ruhe, um zu trauern.«
»Sag’s ihr. Sag’s ihr, du Schlampe.«
Ophelia richtete sich zu ihrer majestätischen Balletttänzerinnengröße auf, sodass sie alle anderen Anwesenden überragte.
»Ich schäme mich für gar nichts. Was immer ich getan habe – du hast mich dazu getrieben, du Unmensch!«
»Genau! Du bettelst doch förmlich darum …«
»Tyrone Flynn, das ist eine offizielle Warnung«, erklärte Shanti mit Nachdruck. »Sollte ich irgendeine Form von Aggression oder Gewalt feststellen, werde ich …«
»Meinen Sie das mit ›Gewalt‹?«
Er packte Ophelia mit der rechten Hand bei den Haaren und hob die linke Faust.
»Nein. Mit ›Gewalt‹ meine ich das hier …«
Mit einer geschmeidigen Bewegung führte Shanti einen Ashi-guruma aus, einen traditionellen Judo-Wurf. Bei diesem »Beinrad« fasste sie Tyrone am Kragen seines superengen T-Shirts, stellte ihr rechtes Bein hinter sein Schienbein und schleuderte ihn mit einem kreisenden Schwung in den Pool, wo er mit einem gewaltigen Platscher landete und prompt unterging wie ein Stein.
»Jesses!«, kreischte Ophelia.
»O Gott!«, rief Queenie. »Er kann nicht schwimmen. Er wird ertrinken!«
Shanti hatte nicht vor, ihm nachzuspringen, aber sie schnappte sich den Kescher und streckte ihn vage in seine Richtung. In blinder Panik griff er danach und zog sich an die Oberfläche, wobei er voller Entsetzen nach Luft schnappte.
»Keine Panik, Tyrone«, sagte sie mit fester Stimme. »Legen Sie die Hände auf den Beckenrand und beruhigen Sie sich.«
»Ich kann nicht … Ich kann nicht …«
»Jetzt tasten Sie sich am Beckenrand entlang zur Leiter. Und beruhigen Sie sich, um Himmels willen.«
Er zog sich unbeholfen bis zur Aluminiumleiter, wo Shanti die Hand ausstreckte, um ihm zu helfen. Als sein Fuß die unterste Sprosse gefunden und er die Hand um das Geländer gelegt hatte, bückte sie sich und ließ die eine Seite ihrer Handschellen um sein Gelenk schnappen, die andere befestigte sie am Geländer.
»Was? Was zur Hölle …«
»Sie sind dort ganz gut aufgehoben, Tyrone. Und jetzt geben Sie mal einen Moment Ruhe. Es geht nicht ständig um Sie.«
Ophelia grinste breit. »Jesses, das war verdammt beeindruckend. Wo haben Sie das gelernt?«
»Alles okay, Ophelia? Wie geht es dem Baby?«
»Gut. Mir geht es gut … uns beiden, danke.«
»Das freut mich.«
»Mammy«, jammerte Tyrone. »Das Baby, es ist …«
»Ja«, sagte Ophelia. »Ethan ist der Vater meines Kindes. Er und ich waren seit Jahren ein Liebespaar. Schon viel länger, als du dachtest«, fügte sie mit einem giftigen Blick auf ihren Mann hinzu.
Queenie vergrub das Gesicht in den Händen. »Nein!«, wimmerte sie. »Das darf nicht wahr sein.«
»Das versuche ich dir doch die ganze Zeit zu erklären, Mam. Sie ist eine Hure! Ethan, dieser Bastard, hatte es verdient.«
»Ich möchte nicht, dass du so über deinen toten …«
»Kaum zu glauben, dass dieser göttliche Mann mit einem Neandertaler wie dir verwandt war«, schluchzte Ophelia. »Er war … er war alles, was du niemals sein wirst: kultiviert, fürsorglich, talentiert …«
»Werden Sie mir jetzt wohl endlich diese verfluchten Dinger wieder abnehmen?«, brüllte Tyrone.
»Mache ich, sobald ich hier fertig bin«, versicherte Shanti und tippte auf ihre Smartphone-Tastatur.
»Benno, ich brauche Verstärkung in der Villa del Flynn … So bald wie möglich. Ich habe den Burschen.«
»Bist du in Gefahr, Chefin?«
»Ich komme klar, aber beeil dich.«
Trotz der Handschellen war es Tyrone gelungen, sich aus dem Pool zu stemmen. Klatschnass, die Muskeln zuckend vor Zorn, lag er zusammengekrümmt in einer Pfütze und brüllte so laut er konnte: »JUNGS! JUNGS! BEWEGT EURE ÄRSCHE HIERHER, SCHNELL!«
Einen Augenblick später hörte Shanti das Geräusch von Schritten, die sich eilig durch die langen Korridore näherten. Kurz darauf wurden drei Türen gleichzeitig aufgestoßen, und die Flynn-Meute stürmte herbei – Onkel, Neffen, Cousins.
»Sie war’s«, ächzte Tyrone und deutete anklagend auf Shanti. »Das Miststück hat versucht, mich zu ersäufen.«
»Dann hoffen wir mal, dass sie gut schwimmen kann«, knurrte einer der Schlägertypen und näherte sich Shanti drohend.
Shanti baute sich vor ihm auf. »Ich warne Sie: Ich bin Polizistin, Detective Inspector bei der Mordkommission. Verstärkung ist unterwegs, und sollte es jemand von Ihnen wagen, sich mir oder Ophelia auch nur einen Meter zu nähern, werden Sie für lange Zeit von der Bildfläche verschwunden sein.«
»Denkst du, du kannst uns Angst machen?«, fragte der große Mann. »Wir fressen Cops zum Frühstück.«
Die Bande umzingelte sie. Shanti wich zurück. Tastete nach ihrem Pfefferspray. Vergeblich.
»Jesses!«, jammerte Ophelia.
Shanti spürte, wie sie von kräftigen Armen gepackt wurde, aber obwohl sie schimpfte und kämpfte, wusste sie, dass sie keine Chance hatte. Was würden Mum und Paul sagen, wenn sie ihren geschundenen Körper, übersät mit blauen Flecken, Pflaster und Verbänden, erblickten?
Auf einmal übertönte ein gellendes Kommando die Rufe, Flüche und Drohungen.
»Nathan! Wayne! Daniel! Michael! Damon! Craig! Jetzt hört mir mal gut zu.« Queenie Flynn, zierlich, aber unerschütterlich wie ein Fels, trat den Kerlen entgegen, die Hände in die Hüften gestemmt. »Ihr geht jetzt sofort zurück in eure Wohnungen. Dort setzt ihr euch hin und denkt nach, und zwar über Folgendes: Jeder einzelne Penny, den ihr besitzt, stammt von mir. Ihr lebt in meinem Haus. Ich war diejenige, die die Songs in Gold umgewandelt hat – habt ihr das etwa vergessen?«
»Nein, Queenie.«
»Ohne mich wärt ihr nichts. Nichts, habt ihr das verstanden? Es hat genug Gewalt gegeben, genug Verlust. Die Entscheidung ist einfach: Ihr benehmt euch wie anständige Christen, oder ihr packt eure Sachen und geht, zusammen mit Ophelia. Ist das klar?«
»Ja, Queenie.«
»Tut uns leid, Queenie.«
Sie ließen Shanti los, machten kehrt und schlichen kleinlaut davon.
»Und was dich angeht«, sagte sie und schaute auf ihren tropfnassen Sohn, »wenn das, was du über Ethan und sie behauptest, der Wahrheit entspricht, ist es unentschuldbar. Es verstößt gegen Gottes Gebote und gegen die der Natur. Doch vielleicht solltest du überlegen, ob nicht auch dich eine gewisse Schuld trifft. Ich habe gesehen, wie du sie behandelt hast. Die ganzen Aggressionen – woher kommen die, Sohn? Das hast du weder von mir noch von deinem Vater, Gott segne seine unsterbliche Seele. Es ist doch kein Wunder, dass sie sich einem sanfteren Mann zugewandt hat.«
Damit drehte Queenie sich um und ging von dannen.
Gerade als Shanti Ophelias Habseligkeiten aus dem Wasser gefischt und sie zusammen mit deren übrigen Sachen zu dem Wendekreis am Ende der Zufahrt gebracht hatte, trafen Benno und sein Team ein. Zwei Officer in einem Streifenwagen. Zwei in einem Van. Mit Blaulicht und heulenden Sirenen.
»Tut mir leid, Chefin. Es war ziemlich starker Verkehr.«
»Bedauerlicherweise habt ihr den Höhepunkt verpasst, Benno, aber ihr kommt gerade rechtzeitig, um die Lorbeeren einzuheimsen. Ihr findet Tyrone Flynn am Pool, mit Handschellen ans Geländer gekettet. Er beklagt sich, dass ihm langsam kalt wird.«
»Hat er gestanden?«
»So gut wie. Wenn ich mich recht erinnere, lauteten seine genauen Worte: ›Ethan, der Bastard, hatte es verdient.‹«
»Ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich ein Geständnis ist«, wandte Benno ein.
»Du hast recht, Benno, das ist natürlich ein bisschen heikel …« Sie warf einen Blick auf Ophelia, die vor dem Eingang stand, und zog ihren stämmigen Kollegen diskret außer Hörweite. »Siehst du die schwangere Dame da drüben? Das ist Tyrones Ehefrau Ophelia. Allerdings trägt sie nicht sein Kind aus, sondern das von Ethan.«
»Autsch.«
»Anscheinend hat Tyrone das vor Kurzem herausgefunden. Wenn wir also nach einem klassischen Motiv suchen – bitte sehr. Hinzu kommt die lebenslange, zermürbende Demütigung durch den supertalentierten Bruder, der ihn in jeder Hinsicht in den Schatten gestellt hat. Da ist es doch keine Überraschung, dass er sich entmannt gefühlt hat.«
»Du sagst es, Chefin.«
»Zum gegenwärtigen Zeitpunkt schlage ich vor, dass wir ihn wegen Körperverletzung festnehmen … oder zumindest weil er einen Officer an der Ausübung seiner Pflicht gehindert hat. Es wäre schön, wenn du ihn ein bisschen grillst – mal sehen, ob er anfängt zu singen. Es liegt auf der Hand, dass er nicht allein gearbeitet hat. Bei dem technischen Kram muss er Hilfe gehabt haben. Sparky Mudget können wir ausschließen, oder?«
»Der könnte keiner Fliege etwas zuleide tun. Außerdem hat er ein wasserdichtes Alibi – er war die ganze fragliche Zeit über mit seinem Team zusammen. Die Techniker von Spark1Up haben mir versichert, dass sie ihre Arbeit stets von einem Kollegen gegenprüfen lassen.«
»Also gut, dann sollten wir herausfinden, ob jemand aus der Familie Flynn über die erforderlichen technischen Kenntnisse verfügt.«
»Ich werde sehen, was ich tun kann.«
»Wir sollten zudem Tyrones Räumlichkeiten gründlich unter die Lupe nehmen.«
»Wird gemacht, Chefin. Übrigens: Wo ist Caine?«
»Ach ja, den hatte ich ganz vergessen. Er wollte ein Gläschen Cider trinken und ein abhandengekommenes Fahrrad zurückbringen. Wie schön, dass es noch die gute, alte Polizeiarbeit gibt. Was würden wir ohne dich nur machen, Benno?«
Als Tyrone wild um sich tretend zum Van eskortiert wurde, brüllte er Shanti und Ophelia mit zornglühenden Augen zu: »Ich mache euch fertig … alle beide! Ich werdet keinen Fuß mehr auf den Boden kriegen, ihr Schlampen!«
»Keine Sorge«, beschwichtigte Shanti. »Es ist normal, dass sich Männer, die Angst vor Frauen haben, so aufführen. Zum Glück gibt es dort, wohin wir ihn jetzt bringen, kaum Frauen.«
Während der Van losfuhr und hinter einer Kurve verschwand, warteten sie gemeinsam auf Ophelias Taxi.
»Ich weiß, was Sie jetzt denken«, schniefte sie. »Sie fragen sich, warum ich ihn überhaupt geheiratet habe.«
»Da haben Sie recht. Das frage ich mich tatsächlich.«
»Es ist schwer zu glauben, aber Tyrone kann ungeheuer charmant sein – wenn er möchte. Als wir uns das erste Mal begegneten, wirkte er so selbstsicher. Er hat mir geschmeichelt, und ja, er war vermögend.«
»Ich war selbst unglücklich verheiratet, Ophelia, deshalb kann ich das gut nachvollziehen – bis auf den Teil mit dem Vermögen.«
»Außerdem liebte ich die Musik von Stigma. Doch jetzt kommt’s: Tyrone hat mich getäuscht. Vorsätzlich. Er hat alles genau andersherum dargestellt, hat behauptet, er sei der talentierte Zwilling, nicht Ethan. Ethan habe stets in seinem Schatten gestanden, und er habe ihn großherzig unterstützt. Er hat sogar geprahlt, dass er all die Songs geschrieben und Ethan den Ruhm dafür habe einstreichen lassen, weil er ihm angeblich leidtat. Dabei war genau das Gegenteil der Fall. Tyrone erntete viel Anerkennung für die Songs, aber das war schlichtweg Ethans Verdienst. Als wir verheiratet waren, fing ich an zu begreifen, dass Ethan der Schöpfer von allem war. Er war Stigma. Tyrone trug nichts dazu bei.«
»Vielleicht sollten wir ein bisschen großzügiger sein, Ophelia. Ich dachte immer, es sei der Kontrast zwischen den beiden so grundverschiedenen Persönlichkeiten, der die Musik einzigartig machte. Ethans Beseeltheit und Tyrones wummernder Bass. Eine Art Yin und Yang, wenn Sie wissen, was ich meine. Sanfte Liebeslieder – aber mit diesem schweren Bassgroove.«
»Jesses! Sie haben ja wirklich Ahnung.«
»Das gehört zu meinem Job. Hat Tyrone je damit gedroht, dass er Ethan umbringen wolle?«
»Aber ja. Ständig. Aber er wollte im Grunde alle umbringen – auch mich.«
»Und mich zweifelsohne auch. Konkreter ist er nicht geworden? Hat er zum Beispiel jemals erwähnt, dass er die Bühnenelektronik manipulieren wollte?«
Ophelia schüttelte den Kopf. »Ich habe so wenig Zeit wie möglich mit diesem Mann verbracht und stattdessen jede freie Minute Ethan gewidmet. Das Einzige, was ich seit Ethans Tod weiß, ist, dass Tyrone vollkommen besessen davon war, einen ganz bestimmten Song zu finden. Das hat ihn wahnsinnig gemacht. Ich fand es amüsant, dass er deswegen derart außer sich geriet … und ich hoffe, dass er das Lied niemals findet, denn es gehört ihm nicht.«
»Vielleicht mache ich jetzt einen Fehler, Ophelia, aber ich denke, es ist nur fair, wenn Sie wissen, dass ich den Song entdeckt habe. Wenn er irgendwem gehört, dann Ihnen und Ihrem Kind.«
»Jesses, wirklich? Das hört sich jetzt vielleicht schrecklich an, aber ich will ihn gar nicht haben.«
»Er könnte viel Geld wert sein.«
»Geld ist mir egal. Ethan hat gut für unsere Zukunft vorgesorgt. Das war typisch für ihn.«
»Nun, sollten Sie Ihre Meinung ändern …«
»Da kommt mein Taxi. Vielen Dank für alles, Inspector. Wissen Sie, je mehr ich darüber nachdenke, desto überzeugter bin ich, dass das Lied all denen gehört, die Ethan geliebt haben. Ich würde es der Welt gern schenken. Würden Sie das für mich übernehmen? Es wäre das, was er sich gewünscht hätte.«
»Und was wird aus Ihnen?«
»Ich werde versuchen, ein Leben für unser Kind und mich aufzubauen. Ich weiß, dass Ethan sich das ebenfalls gewünscht hätte.«
»Da bin ich mir sicher. Gibt es einen Ort, an dem Sie unterkommen können?«
»Ich habe großes Glück – Mummy hat ein Haus in Hampshire und Daddy ein Anwesen in Notting Hill. Sie werden sich um mich kümmern. Das tun sie immer.«
»Ich bin froh, dass Sie Unterstützung haben. Ich fürchte, ich werde Ihnen noch weitere Fragen stellen müssen, aber die können bis nach der Geburt warten. Wann soll es denn so weit sein?«
»Der eigentliche Geburtstermin ist für Dienstag berechnet, aber ich spüre heute schon ein Ziehen. Haben Sie Kinder, Inspector?«
»Einen Jungen. Paul. Er ist fast neun. Ganz schön anstrengend, aber ich habe ihn furchtbar lieb.«
»Das klingt wundervoll. Wir werden ein kleines Mädchen bekommen.«
»Wie schön. Und haben Sie schon einen Namen ausgesucht?«
»Eve. Wir dachten, wir nennen sie Eve.«