Kapitel neunundzwanzig
Im Esszimmer der Unworthy Farm atmete Shanti genussvoll den Duft nach Roastbeef und Bratensoße ein. Der riesige Tisch war lediglich zu einem Viertel besetzt, da viele der Stars ihren Auftritt bereits hinter sich hatten und abgereist waren.
»Sie haben vielleicht Nerven, sich hierherzutrauen«, sagte Sista Tremble neben ihr.
»Sind das da drüben Bratkartoffeln?«, fragte Shanti.
»Haben Sie nicht gehört, was ich gesagt habe?«
»Doch, das habe ich. Und ich habe gleich drei gute Nachrichten für Sie, Sista.«
»Ach ja?«
»Wenn Sie mir die Kartoffeln reichen, erzähle ich sie Ihnen. Und bitte auch die Pastinaken. Also, das Wichtigste zuerst: Ich kann bestätigen, dass die Pyramid Stage freigegeben wurde. In diesem Augenblick bereiten Sparky Mudget und das Festivalteam alles für Ihren Auftritt heute Abend vor.«
»Das sind tatsächlich zwei gute Nachrichten, deshalb bekommen Sie die Bratkartoffeln.«
»Danke. Und die Pastinaken?«
»Sie sprachen von drei guten Nachrichten.«
»Richtig. Obwohl Sie sich mir gegenüber ausgesprochen grob verhielten, als ich meinen Pflichten nachkam, halte ich Sie für eine wahrhaft großartige Künstlerin.«
»Das weiß ich zu schätzen, und ich entschuldige mich für das, was ich gesagt habe. Ich hatte furchtbare Kopfschmerzen an dem Tag. Keine Ahnung, was sie einem hier in den Wein panschen.«
»Entschuldigung angenommen. Ich hatte ebenfalls Kopfschmerzen. Aber was halten Sie hiervon?« Shanti reichte ihr ein Blatt Papier.
Die anderen Berühmtheiten am Tisch waren sichtlich interessiert an dem, worauf Sista mit großen Augen starrte.
»Ach du heiliger Strohsack! Ist es wirklich das, wofür ich es halte?«
»Es ist Ethans letztes Werk – ›Song For Eve‹. Eve ist seine kleine Tochter, die jeden Moment zur Welt kommen müsste.«
»Wow, das ist mehr als außergewöhnlich. Das ist der absolute Hammer! Entschuldigung, wie war noch gleich Ihr Name?«
»Shanti Joyce. DI Shanti Joyce.«
»Nun, DI Shanti Joyce, diesen Augenblick werde ich niemals vergessen. Spread your wings, it’s time to fly from home … Das ist wirklich schön.«
»Wenn Sie etwas damit machen könnten, Sista, würde Ethan wohl sehr glücklich sein. Der Song ist sein Abschiedsgeschenk an die Welt.«
Shanti richtete ihre volle Aufmerksamkeit auf den dampfenden Teller vor ihr auf dem Tisch, doch gerade als sie die erste Gabel voll knuspriger Bratkartoffeln und saftig zartem Fleisch zum Mund führen wollte, zerriss ein Dröhnen wie von einem Düsenjet die Stille.
»Was zum Teufel …?«, rief Sista erschrocken.
»Mein Herz!«, stöhnte Marcel Snapper.
Shanti eilte zum Fenster, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie ein Quad schlingernd zum Stehen kam und Gavin Blackmore gleich darauf auf die Küchentür zurannte, wobei er ein Stück Stromkabel aus der Tasche zog. Seine Kleidung war schlammbespritzt, sein Gesicht zu einer mordlüsternen Grimasse verzerrt.
»Um Gottes willen!«, stieß sie hervor, warf ihre Serviette auf den Tisch und stürmte aus dem Raum.
Während sie über die großen Steinplatten im Gang rannte, hallte bereits Boners Geheul von den Wänden wider. Shanti trat mit dem Fuß die Tür auf und platzte in die Küche, wo Gavin Vowles wirkungsvoll mit dem Kabel die Luft abschnürte, während Primrose an seinem Arm zerrte und Boner die Zähne in sein Bein schlug.
»Ich … bringe … dich … um«, stieß der Landarbeiter mit vor Zorn abgehackter Stimme hervor.
»Nach all dem, was er für dich getan hat, Gavin Blackmore!«, kreischte Primrose.
»Dein Mann hat mein Leben ruiniert!«, schrie der und zog die Schlinge noch fester zu.
Abgesehen von den schneeweißen Augenbrauen hatte Vowles den Farbton einer Krampfader angenommen. Sein Mund war verzerrt zu einer unmenschlichen Fratze des Entsetzens und der Furcht. Seine winzigen Augen traten aus den Höhlen.
Shanti rannte um den Küchentisch herum, wo Unmengen Schalen und Becher mit Eiscreme von Unworthy Ices auf den Transport ins Esszimmer warteten. Sie packte Gavins sehnige Arme, und nach einem ordentlichen Kampf gelang es ihr, ihn rückwärts gegen den gusseisernen Herd zu schleudern. Der Hund war nach wie vor fest in sein Bein verbissen.
»Gavin Blackmore«, keuchte sie. »Ich verhafte Sie wegen Körperverletzung und … und anderen Dingen. Sie haben das Recht zu schweigen, aber alles, was Sie sagen, kann …«
Vowles war hustend und würgend auf den Küchentisch gesackt, wo Primrose hektisch das Kabel von seinem Hals entfernte. Als er wieder Luft bekam, fiel er rückwärts auf seinen Stuhl und japste: »W-w-wasser!«
Shanti dachte an die Handschellen, die in ihrer Tasche im Esszimmer steckten, doch sie kam zu dem Schluss, dass sie sie vermutlich nicht brauchen würde. Blackmore, der den Hund endlich von seinem Bein entfernt hatte, sah absolut fertig aus.
»Er hat mich dazu gebracht, es zu tun«, schluchzte er.
»Was zu tun, Gavin?«, fragte Shanti.
»Alles. So viele schlimme Dinge. Ich habe alles Ihrem Partner erzählt.«
»Sie haben mit Caine gesprochen?«
»Gavin ist nicht ganz bei sich«, schaltete sich Primrose ein. »Seit der Tragödie ist er nicht mehr er selbst, stimmt’s, Vowles? Und das nach allem, was wir für ihn getan haben. Es ist eine Schande.« Sie reichte ihrem Mann ein Glas Wasser. »Nichts zu danken, gern geschehen.«
»So, jetzt beruhigen sich alle erst einmal«, befahl Shanti mit strenger Stimme. »Ich werde einen Krankenwagen und Verstärkung anfordern.«
»Das ist nicht nötig«, krächzte Vowles wie ein Verdurstender in der Wüste. »Es geht mir schon wieder gut. Sie können einen Psychiater rufen – so einen würden wir hier brauchen. Er soll am besten eine Zwangsjacke mitbringen.«
Während Shanti Gavin zu einem Stuhl in sicherem Abstand zu Vowles begleitete, hörte sie auf dem Hof das Dröhnen eines eintreffenden Motorrads. Kurz darauf flog die Tür auf, und Caine platzte ins Zimmer.
»Herrgott, Caine. Können Sie nicht mal für einen Tag die Füße still halten?«
»Alles okay, Shanti?«
»Mir geht’s gut. Ich bin bloß ein bisschen verwirrt.«
Während sich Boner voller Freude in Caines Arme stürzte, wies Shanti Vowles und Blackmore auf ihre Rechte hin, um sie offiziell vernehmen zu können.
Im selben Moment kam Seth Vowles in einem ausgewaschenen Arctic-Monkeys-T-Shirt und einem ausgebeulten Trainingsanzug in die Küche geschlurft und rieb sich den Schlaf aus den Augen.
»Was gibt’s zum Frühstück?«, fragte er.
Primrose explodierte. »Frühstück? Wir sind bald mit dem Mittagessen fertig, und dein Vater wäre beinahe ermordet worden, während du noch geschlafen hast. Siehst du den Servierwagen? Den schiebst du jetzt nach hinten ins Esszimmer und prüfst, ob unsere Gäste schon fertig sind. Wenn ja, räumst du ab und machst dich nützlich. Es wird Zeit, dass sich hier einiges ändert.«
Schockiert über die Reaktion seiner Mutter kam der dünne Junge mit dem zerzausten roten Irokesen deren Anweisungen nach.
»Vielleicht sollten Sie sich lieber setzen, Primrose«, schlug Caine vor. »Ich werde uns allen einen Tee machen, wenn Sie nichts dagegen haben. Und Gavin – wären Sie wohl so freundlich, meiner Kollegin mitzuteilen, was Sie mir erzählt haben?«
»Ich … ich weiß nicht, wo ich anfangen soll …«
»Warum beginnen Sie nicht mit Caroles und Ihrer Verlobung? Ich meinte, Sie erwähnten, es sei ein dunkler, stürmischer Abend gewesen.«