Kapitel drei
Wahnsinn! Sie sind tatsächlich drangegangen.«
»Sie müssen lauter sprechen, Shanti. Es ist sehr lärmig hier.«
»Das höre ich, Caine. Wo zum Teufel sind Sie? Beim Gefühlsworkshop in der Männergruppe?«
»Ich kann Sie nicht verstehen, Shanti …«
»Ich sagte … ach, egal. Hören Sie, Caine, es hat einen Todesfall gegeben. Und zwar einen ziemlich sonderbaren. Auf der Pyramid Stage in Glastonbury.«
»Das habe ich mitbekommen.«
»Ja. Die halbe Welt hat das gesehen. Sind Sie bei einer Seance? Was ist das für ein Gekreische?«
»Nein, ich meine, ich habe es direkt mitbekommen. War unmittelbar dabei. Vor zwanzig Minuten … Ich bin auf dem Festival. Ich habe getanzt.«
»Sie haben was? Sie hassen Lärm und Menschenmengen … außerdem gibt es dort bestimmt jede Menge Fleischburger.«
»Ich mag durchaus ein wenig Gesellschaft, und ich mag das Glastonbury-Festival, Shanti. Da gibt es jede Menge Liebe … zumindest bis gerade eben.«
»Wie dem auch sei, Caine, wir übernehmen den Fall. Also rühren Sie sich nicht vom Fleck, ich bin unterwegs.«
»Ich bin im Urlaub, Shanti. Ich habe mir eine Woche freigenommen für das Festival. Es tut mir leid.«
»Das können Sie mir erzählen, sobald ich da bin. Wir treffen uns in einer Stunde vor der Pyramid Stage.«
»Da stehen gut hunderttausend Menschen. Schicken Sie mir eine Textnachricht, wenn Sie angekommen sind, und ich werde Sie schon finden. Aber eins kann ich Ihnen gleich sagen: Bei dem Fall werden Sie auf sich gestellt sein.«
Shanti schaufelte einen Haufen Kram von den Vordersitzen ihres Saabs – Bündel von Aktenordnern, eine Raumstation von Lego, eine ausgelaufene Dose Fanta sowie einen halben, noch essbar aussehenden Mars-Riegel – und dachte an ihren widerwilligen Partner. Caine war Buddhist – warum um alles auf der Welt hatte er von allen Berufen gerade den eines Polizisten ergriffen? Er besaß eine geradezu verblüffende Fähigkeit, Verbrechen aufzuklären. Langsam, achtsam, intuitiv, wie ein Fährtenleser vom Stamme der Apachen. Ein Apachen-Fährtenleser, der in dem Betonklotz arbeitete, in dem die Polizeistation von Yeovil untergebracht war.
Laut Navi fand das Festival auf der Worthy Farm in dem kleinen Dorf Kilton nahe der Stadt Glastonbury statt. Unter normalen Umständen hätte sie bis dorthin keine fünfunddreißig Minuten über die A37 gebraucht, aber sie wusste, dass rund um das Festivalgelände sehr viel Verkehr herrschen würde. Benno hatte ihr geraten, den Wagen so nahe wie möglich beim Five Heads Pub in Kilton stehen zu lassen. Dort würde einer der Polizisten von Keynsham sie in einem Allradwagen abholen und mit Blaulicht zum Tatort bringen.
Himmel, war das aufregend! Sie liebte nichts mehr als ein Offroad-Abenteuer.
Im letzten Licht des Abends fuhr sie an alten Höfen und Apfelgärten vorbei. Vor einem umgebauten Van am Straßenrand verkaufte eine Familie in Batikklamotten mit der Kettensäge gefertigte Holzpilze. Sie entdeckte Schilder von Yoga-Anbietern und Schamanen und hatte den Eindruck, sich inmitten einer unvereinbaren Mischung aus ländlicher Idylle und Boheme zu befinden.
Als sie in das hübsche Dörfchen Kilton hineinfuhr, kam der Verkehr beinahe zum Erliegen; um die stehenden Fahrzeuge herum wogte ihr ein Strom von Fußgängern entgegen – viele schwankten, weil sie stoned waren oder betrunken, manche weinten wegen dem, was sie gesehen hatten.
Es war ein warmer Abend, weshalb die Tür des uralten Five Heads Pubs zu ihrer Rechten offen stand. Drinnen drängten sich kleine Gruppen von Einheimischen an den Tischen und tranken ihre Pints. Shanti sah, wie ein Pärchen mit Dreadlocks und Rucksäcken die Kneipe betrat, zwei magere Lurcher an der Leine. Obwohl sie im Auto saß, konnte sie die Feindseligkeit spüren, die den beiden entgegenschlug. Einen Moment später kamen sie mitsamt den Hunden wieder heraus und setzten ihren Weg fort.
Die Straßen waren von Hunderten Pylonen gesäumt, doch Shanti entdeckte tatsächlich ein freies Fleckchen an einer Steinmauer hinter dem Pub, wo sie ihren Saab abstellen konnte. Vorsichtig schob sie mit der vorderen Stoßstange eines der orange-weißen Verkehrshütchen ein Stück zur Seite.
Binnen Sekunden tauchte ein verärgerter Cop in Warnweste am Fahrerfenster auf. »Was machen Sie da, verdammt noch mal?«, blaffte er.
Shanti setzte in aller Ruhe die Füße auf den warmen Asphalt und zückte ihren Dienstausweis.
»Ich mache meinen Job, Constable. Es hat auf dem Festivalgelände einen größeren Zwischenfall gegeben. Ich bin die leitende Ermittlerin, und in dieser Funktion rate ich Ihnen dringend, im Dienst das Fluchen zu unterlassen, sonst sehe ich mich verdammt noch mal gezwungen, Beschwerde einzureichen. Ich werde mir Ihre Dienstnummer merken.«
»Ich … ähm … entschuldigen Sie, Ma’am. Es war ein langer Tag.«
»Das können Sie laut sagen. Sehen Sie dieses Auto?« Sie deutete auf ihren Saab.
»Ja, Ma’am.«
»Ich liebe dieses Fahrzeug, und Sie werden es unter Einsatz Ihres Lebens bewachen, habe ich mich klar ausgedrückt?«
»Ja, Ma’am.«
Sie zog den Pylon zurück an Ort und Stelle. »Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen … mein Wagen kommt.«
Ein Land Rover mit blinkenden Lichtern stoppte neben ihnen. Shanti öffnete die Beifahrertür, und während der verlegene Polizist den Verkehr aufhielt, machte die Fahrerin eine Kehrtwendung und schlängelte sich mit heulender Sirene in Richtung Festivalgelände, wobei sie mehrfach auf die steile Straßenböschung auswich, um die stehenden Fahrzeuge zu umrunden.
»DI Shanti Joyce?«, fragte die unerhört junge Frau. »Ich bin ein großer Fan Ihrer Arbeit. Ich habe jedes Detail im Havfruen-Fall verfolgt. Das war einfach unglaublich!«
O mein Gott!, dachte Shanti. Ich habe einen Fanklub. Das muss ich unbedingt Mum erzählen.
Während ihr Fan sie durchs Gedränge lavierte, sammelte Shanti ein paar Hintergrundinformationen. Die Truppe vor Ort hatte im Norden des Festivalgeländes ihre Basis, dazu Ausnüchterungszellen im Präsidium von Keynsham. Bis jetzt hatte man gedacht, für sämtliche Eventualitäten des weltgrößten Open-Air-Festivals gerüstet zu sein, immerhin fand die Veranstaltung seit fast vierzig Jahren erfolgreich statt. Anfangs hatte die Polizei es mit Rauschgifttoten, Drogendealern und nicht angemeldeten Fahrzeugen zu tun gehabt, mit verloren gegangenen Kindern, mehreren Geburten und einigen Herzinfarkten. Sie hatte Zeltdiebstähle verzeichnet, Schlägereien und sexuelle Übergriffe. In den letzten Jahren hatte man die Truppe um eine bewaffnete Einheit aufgestockt, außerdem kreiste wegen der zunehmenden Gefahr terroristischer Anschläge in regelmäßigen Abständen ein Helikopter über dem Gelände. Doch der unerhört dramatische Tod der Musiklegende Ethan Flynn war in einer anderen Liga anzusiedeln. Eine Art Massentrauer war über die Worthy Farm hereingebrochen, und die Polizei musste alles geben, um die aufgelösten Fans von der Leiche fernzuhalten.
»Die Pyramid Stage und die VIP Area im Backstage-Bereich sind abgesperrt, außerdem habe ich gerade erfahren, dass die SOCOs eingetroffen sind.«
Die SOCOs, dachte Shanti. Die Scenes of Crime Officer, die so lange nach Spuren suchen würden, bis sie einen Anhaltspunkt dafür fänden, weshalb um alles auf der Welt der Gott des Rock zu einem Stück Kohle verglüht war.
»Wer ist der Veranstalter des Festivals?«, wollte Shanti wissen.
»Am besten, Sie reden mit MC Vula Plenty. Vula kennt einfach jeden.«
Sie fuhren jetzt über schier endlose Parkplätze, dann holperten sie über zerfurchte Felder auf den hohen, acht Meilen langen Zaun zu, der das eintausendeinhundert Morgen große Gelände umgab.
Als sie hinter einem wendenden Traktor anhalten mussten, fragte die junge Polizistin, ob sie sich Shantis Handy ausleihen dürfe. Shanti reichte es ihr. »Ich würde Ihnen gern eine interaktive Karte des Festivalgeländes herunterladen. Sehen Sie … Da wollen wir hin – und da sind wir jetzt. Dort unten in der Senke ist die Pyramid Stage.«
»Danke«, sagte Shanti und nahm ihr Smartphone wieder an sich. »Das ist in der Tat nützlich.«
Der Land Rover rollte durch eine streng bewachte Durchfahrt für Rettungsfahrzeuge. Kaum befanden sie sich auf dem Festivalgelände, hatte Shanti das Gefühl, sie habe die Grenze zu einem fremden Land mit ganz eigenen Gesetzen überquert. Zentimeter um Zentimeter schob sich der Wagen durch die beinahe undurchdringliche Menge vorwärts, schlängelte sich durch eine Tundra aus Zelten und umkurvte hin und wieder Personen, die reglos im Gras lagen. Gingen diese Menschen eigentlich gar nicht ins Bett?, fragte sich Shanti. Es war später Mittwochabend, mussten die denn nicht am nächsten Morgen zur Arbeit?
Die junge Fahrerin plapperte noch immer, lauter jetzt, um die lärmige, nicht enden wollende Tanzmusik zu übertönen. »Könnten Sie mir vielleicht einen Tipp geben? Wie man ein Verbrechen wie dieses löst, meine ich.«
»Nun … man sollte permanent auf der Hut sein – in jeder noch so kleinen Kleinigkeit, die man zu Gesicht bekommt, in jedem Satz, den man hört, sind womöglich Hinweise versteckt.«
»Verstehe. Aber könnte es sich dabei nicht auch einfach nur um Ablenkungsmanöver handeln?«
»Genau darum geht es – um die Fähigkeit, das eine vom anderen zu unterscheiden. Übrigens: Noch wissen wir doch gar nicht sicher, ob es sich überhaupt um ein Verbrechen handelt.«
»Das ist richtig. Wenn allerdings ein Star wie Ethan stirbt, ziehen alle gern voreilige Schlüsse. Ich meine, es ist ja allgemein bekannt, dass die Flynn-Zwillinge nicht sonderlich viel füreinander übrighatten – zumindest aus Tyrones Sicht.«
Die Polizistin mit dem jugendlich frischen Gesicht erinnerte Shanti an eine jüngere Ausgabe ihrer selbst – mit Feuereifer bei der Sache, doch mit herzlich wenig Erfahrung. »Ja, das ist etwas, was ich gelernt habe«, sagte sie daher. »Ziehe niemals voreilige Schlüsse. Sie sind jung, also nehmen Sie sich diese Weisheit zu Herzen: Ein guter Detective ist bereit, das Ungewisse zu umarmen.«
»Oh, ich liebe diese Redewendung! Sagt das nicht Vincent Caine immer?«
»Sie kennen Caine?«
»Ich bin ihm nie persönlich begegnet, aber wie ich schon sagte: Ich habe den Havfruen-Fall bis ins kleinste Detail mitverfolgt, und Vincent Caine ist mein Idol. Ich weiß, dass man ihn auch ›den achtsamen Mr. Caine‹ nennt.« Die junge Fahrerin hatte die nervtötende Angewohnheit, am Ende eines jeden Satzes die Stimme zu heben, so als habe sie gerade eine Frage gestellt.
»Sie sollten stets versuchen, noch tiefer in die Sache einzusteigen … Apropos einsteigen: Ich würde gern aussteigen. Lassen Sie mich doch einfach hier raus. Ich kann die Pyramid Stage schon sehen, und ich denke, zu Fuß bin ich schneller.«
Die Polizistin hielt an. »Es war großartig, Sie kennengelernt zu haben. Im Handschuhfach liegt eine Ausgabe des POLICE-Magazins – die, in der über den Havfruen-Fall berichtet wird. Würde es Ihnen etwas ausmachen …?«
»Sie möchten ein Autogramm von mir?«
»Nur wenn Sie nichts dagegen haben. Wenn ich ehrlich bin, hatte ich gehofft, Sie könnten Inspector Caine dazu überreden, ebenfalls zu unterschreiben …«
Shanti schob sich den Riemen ihrer Umhängetasche über die Schulter und drängte sich durch die kunterbunten Budengassen. An den Ständen wurde alles verkauft – von Bob-Marley-Perücken bis hin zu Feenflügeln. Mein Gott, die jungen Leute rauchten hier ganz offen Joints! Wäre sie nicht mit ihren Ermittlungen beschäftigt, würde sie …
Die wogenden Massen brachten sie völlig durcheinander, sodass sie beinahe erleichtert war, als sie endlich auf Caine stieß.
Der hochgewachsene Detective trug eine weite Hose, Wanderstiefel und ein weißes T-Shirt – und er schien sich hier völlig zu Hause zu fühlen. Shanti bemerkte, dass er sich in Gesellschaft einer attraktiven Rothaarigen befand, die mindestens fünf Jahre jünger war als er. Zu ihrer Verärgerung verspürte sie einen Anflug von Eifersucht, den sie schleunigst zurückdrängte. Sie war nur aus einem einzigen Grund hier, nämlich um den Fall zu knacken. Und Gefühl war ein Werkzeug, das sie dabei ganz und gar nicht gebrauchen konnte.