Kapitel vier

Das Dahinscheiden des bleichen Wunderknaben

Okay, Caine, dann mal los.«

»Shanti, ich möchte Ihnen Misty vorstellen. Sie ist …«

»Wir können uns später miteinander bekannt machen, einverstanden? Ist das da der Eingang zum Backstage-Bereich?«

Sie wandte sich gerade rechtzeitig wieder um, um zu sehen, wie Caine die Rothaarige zärtlich auf beide Wangen küsste und ihr tief in die Augen sah.

»Jetzt kommen Sie doch mal her, Caine.«

»Ich sage es noch einmal, Shanti: Ich bin im Urlaub. Ich werde mich nicht in diesen Fall hineinziehen lassen …«

Taub gegenüber seinem Protest, zückte Shanti ihre Dienstmarke, streckte sie den vierschrötigen Security-Männern entgegen und stiefelte mit großen Schritten in die abgeschirmte VIP-Zone, wo Musiker und Festival-Crew bis ins Mark erschüttert vor einer Phalanx von Fahrzeugen standen: Tourbusse mit getönten Scheiben, Wohnmobile, riesige Sattelschlepper voller Ausrüstung. Shanti entdeckte sogar zwei alte Doppeldeckerbusse. Ihr Blick fiel auf verschiedene Zelte: Jurten und Großraumkonstruktionen, ausgestattet mit Bars und Catering-Einrichtungen, um den Ansprüchen jeder Diva, jedes Stars und Sternchens gerecht zu werden. Außerdem gab es reihenweise Container mit Duschen und Toiletten sowie einen riesigen Sitzbereich mit Picknicktischen und Liegestühlen.

Gefolgt von Caine, durchquerte Shanti die VIP-Zone und ging auf die alles überragende Pyramid Stage zu, vor deren Rückseite zwei Ambulanzwagen neben den Vans der SOCO und einer blinkenden Traube von Polizeifahrzeugen parkten. Dunster, Spalding und ein paar von der Belegschaft aus Yeovil befragten tränenüberströmte Techniker und erschütterte Roadies.

Benno kam mehrere schwarz gestrichene Stufen herunter, und Shanti entging nicht, wie respektvoll er und Caine einander begrüßten. Der große, stämmige Benno. Polizist in dritter Generation, der sich stets an die Vorschriften hielt.

»Wie geht es dir, Chefin?«

»Ich bin gar nicht glücklich, Benno. Es trampeln einfach zu viele Menschen an meinem Tatort herum. Wer sind diese Leute?«

Sie nickte in Richtung einer kleinen Gruppe, die sich um eine hübsche Frau Anfang fünfzig geschart hatte und von Trauer überwältigt schien.

»Das ist Queenie Flynn, Chefin. Die Mutter des Verstorbenen. Sie ist die Managerin von Stigma, schon von Anfang an. Die großen Kerle gehören zur Crew, und soweit ich weiß, sind die meisten von ihnen irgendwie mit Ethan verwandt – Neffen, Onkel … Auch die Frauen arbeiten mit. Es handelt sich sozusagen um ein Familienunternehmen. Die Flynns schirmen sich gern ab.«

»Glaubst du, die Mutter wird mit uns reden?«

»Keine Chance. Die arme Frau steht völlig neben sich. Die Sanitäter haben ihr ein Beruhigungsmittel verabreicht, aber sieh sie dir doch nur mal an …«

Queenie Flynn hatte sich von ihren Verwandten gelöst und kniete schluchzend im Gras, dann machte sie Anstalten, in Richtung Bühne zu kriechen. Einige der Flynn-Frauen hielten sie zurück und redeten leise auf sie ein, während sie ihr tröstend übers Haar strichen.

»Finde heraus, wo sie abgestiegen sind, und schick sie ins Hotel oder wohin auch immer.«

»Nach Hause. Das Familienanwesen der Flynns ist nicht weit entfernt. Nur ein kleines Stück außerhalb von Frome.«

Shanti nickte. »Sag Queenie, dass wir ihr einen Besuch abstatten werden, sobald sie in der Lage ist, eine Aussage zu machen.«

»Tut mir leid, Chefin, aber sie wird erst von hier weggehen, wenn die Leiche fortgeschafft ist.«

Auf Caines Gesicht trat ein gequälter Ausdruck des Mitgefühls. »Erzählen Sie uns etwas über Ethans Bruder«, bat er Benno leise.

Shanti hatte das schon einmal erlebt – Caines Widerwille, der Neugier wich. Er konnte nicht anders, als zu helfen.

»Tyrone? Er ist ein aggressiver Fiesling. Scheint sich weitaus mehr für Rekordumsätze zu interessieren als für seinen toten Zwillingsbruder.«

»Er ist vorbestraft, oder?«

»Dreimal schwere Körperverletzung.«

»Nett«, sagte Shanti. »Wo ist er abgestiegen? Oder wohnt er auch auf dem Familienanwesen?«

Benno schüttelte den Kopf. »Tyrone und Ethan sind auf einem Bauernhof in Kilton untergebracht. Dort mieten sich oft die ganz Großen aus der Musikbranche ein. Ich habe Tyrone angewiesen, die Gegend nicht zu verlassen, und ein paar Streifenkollegen in der Nähe des Hofes postiert.«

»Gute Arbeit, Benno«, sagte Shanti. »Ach übrigens: War Ethan Flynn liiert, oder hat er Kinder? Und was ist diesbezüglich mit seinem Bruder?«

»Ethan war nicht verheiratet, hatte aber laut der Boulevardpresse immer mal wieder wechselnde Beziehungen. Tyrone ist verheiratet, und soweit ich weiß, erwartet seine Frau ihr erstes Kind. Deshalb ist sie auch nicht auf dem Festival.«

»Okay, das sind nützliche Informationen. Caine und ich würden jetzt gern den Verstorbenen sehen, wenn das möglich ist.«

»Die Stufen hinauf und dann links. Dawn Knightly und ihr Team sind bereits da.«

»Zu blöd, dass die Leiche von der Bühne geschafft wurde. Ob die Leute wohl jemals lernen werden, an einem Tatort nichts anzufassen?«

»Ich denke, es ging darum, den Toten vor der Öffentlichkeit abzuschirmen. Die Tanztruppe hat ihn von der Bühne in die Seitenkulisse getragen, und dann haben die Sanitäter ihr Bestes gegeben. So verrückt es auch klingen mag: Sie haben sogar versucht, ihn mit einem Defibrillator zurück ins Leben zu holen.«

»Ich nehme an, niemand hat daran gedacht, ein Foto in situ zu machen?«

»Ich glaube nicht, Chefin. Das Ganze war wohl ziemlich chaotisch und hysterisch.«

»Habt ihr die Bühne mit einem Sichtschutz versehen?«

»Wir haben zumindest damit angefangen.«

»Also gut, kommen Sie, Caine. Zeit, der Legende gegenüberzutreten.«

»Aber besser mit leerem Magen«, ließ sich Benno vernehmen. »Ich fürchte, er sieht nicht mehr ganz so gut aus wie zu Lebzeiten.«

Shanti ging bereits auf die Stufen zu, wo sie zwei Einweganzüge sowie zwei Paar Latexhandschuhe von dem dort wacheschiebenden Constable entgegennahm, dann drehte sie sich zu Caine um. Der ihr nicht gefolgt war.

»Herrgott, Caine«, zischte sie. »Tun Sie mir das nicht an! Was ist Ihr Problem?«

Es folgte eine lange Pause.

»Tut mir leid, Shanti. Ich bin nicht gut in solchen Dingen. Ich bin nicht so tough wie Sie. Es ist einfach zu schmerzhaft …«

»Das ist doch nicht zu glauben! Ja, lassen Sie es mich ruhig aussprechen: Sie sind ein Polizist! Das gehört zu unserem Job! Ist Ihnen eigentlich klar, dass dies womöglich der größte Fall meiner ganzen Karriere sein könnte? Unser beider Karrieren, meine ich. Sehen Sie nur – Polizeihubschrauber! Mit Suchscheinwerfern. Wann haben Sie das letzte Mal an einem Fall gearbeitet, bei dem Helikopter eingesetzt wurden?«

»Es ist bloß so, dass …«

»Ich brauche Sie, Caine! Ist es das, was Sie von mir hören wollen?« Mein Gott, seine Augen wurden tatsächlich feucht. »Na schön, würden Sie bitte nur einen einzigen Blick auf den Leichnam werfen? Sie sind echt gut in so was, und das wissen Sie. Wenn Sie es schon nicht für mich tun wollen, dann tun Sie es eben für sie …« Shanti deutete mit dem Kinn auf Ethans im Gras kniende Mutter, die mit weit aufgerissenen Augen zum Himmel betete, dann streckte sie Caine die Hand mit dem Papieranzug entgegen und sah zu, wie er ihn überstreifte, zögernd, gleich einem Kind, das sich für die Schule anzieht.

Die Stufen führten zum Seitenflügel der Bühne, wo eine Gruppe von weiteren Papieranzügen hinter einem Nylonsichtschutz bei der Arbeit war. Als Shanti und Caine näher kamen, sahen sie die vertraute, leicht untersetzte Gestalt von Dawn Knightly, der Leiterin der Spurensicherung, die sich über einen leblosen Körper am Boden beugte. Dawn war ein paar Jahre älter als Shanti, aber zwischen den beiden Frauen hatte die Chemie sofort gestimmt.

»Was hast du für uns, Dawn?«, erkundigte sich Shanti.

Knightlys Augen hellten sich auf, als sie hochblickte und Shanti und Caine entdeckte.

»Ethan Flynn, neunundzwanzig Jahre alt, Musiker der Band Stigma. Vermutliche Todesursache: Stromschlag. Ich habe ein Team losgeschickt, das die Bühne nach DNA-Spuren und Fingerabdrücken absucht, und mein Elektronik-Crack ist auch schon unterwegs. Ihr wisst ja, wie’s läuft: Wir behandeln das Ganze wie einen Mordfall, bis wir das Gegenteil beweisen können.«

»Da habt ihr recht, Dawn. Caine und ich würden uns gern den Leichnam ansehen, wenn das für dich okay ist.«

Dawn richtete sich auf. Als sie einen Schritt von dem Verstorbenen zurücktrat, sah sie, wie Shanti und Caine gleichzeitig zusammenzuckten.

Leichen begegnet man in den unterschiedlichsten Formen und Größen. Die meisten befinden sich in der Horizontale. Manche sehen aus, als würden sie schlafen, doch der verkohlte Rockstar wirkte seltsam verdreht und starr – wie ein riesiger Grashüpfer, der einem Waldbrand zum Opfer gefallen war. Doch das war erträglich. Das Gesicht jedoch brachte die Fanta-Mars-Mischung in Shantis Magen zum Rebellieren – eine billige Maske aus einem Scherzartikelladen mit wild abstehenden Haaren, hervortretenden Augäpfeln und einer spitzen, schwarzen Zunge, die aus dem verzerrten Mund herausragte.

»Uff!« Shanti schnappte nach Luft.

»Möge er in Frieden ruhen«, sagte Caine.

»So etwas habe ich vorher erst einmal zu Gesicht bekommen«, teilte Knightly ihnen munter mit. »Neunzehnhundertachtundneunzig, wenn ich mich richtig erinnere. Ein Kricketspieler, der vom Blitz erschlagen wurde.«

»Okay … Gib mir nur einen Moment«, sagte Shanti, machte ein paar Schritte zurück und schloss die Augen. Während sie tief die Luft von Somerset einatmete, spürte sie den sanften Druck von Caines Hand auf ihrem Arm. Sie dachte an seine nervtötend hübsche Begleiterin, schüttelte seine Hand ab und wappnete sich.

»Todeszeit?«

»Einundzwanzig Uhr vierundvierzig«, sagte Knightly.

»Zeugen?«

»Ungefähr vierundzwanzig Millionen, Chefin«, antwortete Benno, der zu ihnen trat.

»Sehr witzig, Benno. Ich meine, wer war außer ihm auf der Bühne?«

»Die anderen Bandmitglieder – Schlagzeuger, Keyboarder, Blechbläser –, die kostümierten Tänzer, Background-Sänger, eine Roadie-Crew, Sound- und Lichttechniker, MC Vula Plenty, die jeden Moment zu uns stoßen wird, Tyrone, der Bruder, natürlich … und Ethans Mum im hinteren Bereich der Bühne. Die arme Frau hat die ganze Horrorshow mit angesehen.«

Während sie sprachen, näherte sich Caine ehrerbietig dem Leichnam. Vorsichtig berührte er Ethan Flynns Stirn und murmelte eine Art Beschwörungsformel. Anschließend wanderten seine behandschuhten Finger zu den hervorgequollenen Augen, doch ohne Lider ließen sie sich nicht schließen. Caine zog eine Stiftlampe aus der Tasche, kniete sich hin und leuchtete jedes einzelne starre Glied in den verkohlten Klamotten ab. Als Nächstes hob er vorsichtig Ethans schmale Füße an und untersuchte die verbrannten Fußsohlen.

Als Letztes inspizierte er dessen Hände, die zu schwarzen Fäusten geballt waren. Er öffnete die verschmorten Finger und richtete den Strahl der Stiftlampe nacheinander auf die beiden Handflächen. In der Mitte befand sich jeweils eine offene Wunde, aus der schwarzes Blut sickerte.

Mit einem verblüfften Gesichtsausdruck wandte DI Caine sich um und sah das stumme Grüppchen hinter sich an.

»Stigmata«, sagte er.