Kapitel fünf

Ein musikalischer Bilderbuchmord

Warum mussten Sie das sagen, Caine?«

Sie waren von der Leiche zurückgetreten, damit Dawn und ihr Team ihre Arbeit fortsetzen konnten.

»Was sagen?«

»Sie wissen schon: Stigmata. Sie haben sich angehört wie ein Irrer.«

»Stigmata sind Male an den Händen oder Füßen, die den Kreuzigungswunden von Jesus Christus entsprechen. Tatsächlich werden sie auch im Buddhismus und in anderen Glaubenssystemen erwähnt …«

»Ich weiß, was Stigmata sind, ich bin schließlich keine Vollidiotin. Das Unheimliche ist, was Sie mit seinen Händen angestellt haben … Es ist mir beinahe peinlich, das anzusprechen, aber Sie haben daran gerochen. Was alle gesehen haben.«

»Oh, okay. Nun, es heißt, Stigmata hätten einen besonderen Geruch – einen süßlichen Duft wie Blumen, der mitunter auch als der ›Wohlgeruch der Heiligkeit‹ bezeichnet wird. Allerdings konnte ich nichts dergleichen feststellen.«

»Hören Sie, Caine, was unsere Leute betrifft, so ist mir das egal – die sind an Ihre Verschrobenheit gewöhnt. Es geht mir um die Kollegen aus Keynsham, die uns mit Sicherheit für völlig abgedreht halten, wenn sie so etwas mitbekommen. Wussten Sie, dass man uns bereits als das ›Team für die abgefahrenste Scheiße in ganz Südwestengland‹ bezeichnet?«

Caine lächelte schief. »Ach, Shanti, es sollte Sie nicht kümmern, was die Leute reden. Sie sind ein erstklassiger Detective. Der beste.«

»Ja, das bin ich und das weiß ich. Sie sind es, um den ich mir Sorgen mache.«

»Zu Recht. Ich bin für diesen Job einfach nicht gemacht. Jeden Tag denke ich darüber nach, meine Marke abzugeben.«

»Herrgott, Caine, warum sind Sie ständig auf Komplimente aus? Aber wenn es denn sein muss: Benno hält Sie für den kompetentesten Detective, dem er je begegnet ist, und er ist sozusagen als Polizist auf die Welt gekommen.«

»Schon gut, Shanti. Ich möchte Ihnen noch etwas zeigen, was mir aufgefallen ist, und dann werde ich mich aus dem Staub machen.«

Er führte sie um den Sichtschutz des Seitenflügels herum auf die eigentliche Bühne, wo Dawns SOCO-Team hinter den breiten Nylon-Sichtschutzwänden jeden einzelnen Quadratzentimeter mit Fingerabdruckpulver bestäubte und die komplizierte Anlage unter die Lupe nahm: hoch aufragende Türme aus Lautsprechern und Verstärkern, ein riesiges Schlagzeug auf einem Podium, jede Menge Keyboards und eine Reihe altmodischer Saiteninstrumente auf Ständern.

Die hohe Bühne zu betreten war eine schwindelerregende Erfahrung, die für gewöhnlich nur Leute wie Ethan Flynn machten. So weit das Auge reichte, erstreckten sich die funkelnden Lichter des Festivals in die pulsierende Nacht. Die Arena unter ihnen war mit Polizeiband abgesperrt, auf dem grasbewachsenen, etwa dreißig Meter breiten Streifen patrouillierte bewaffnete und berittene Polizei. Dahinter drängte sich eine riesige Menge fassungsloser Stigs, den Blick starr auf die Bühne geheftet, die dilettantisch gebastelten Fahnen schlaff herabhängend, wie bei einer besiegten Armee nach der Schlacht. In dem diffusen Licht zuckten Dutzende Blitze auf.

»Ach du heilige Scheiße«, sagte Shanti zu Caine. »Jetzt weiß ich, wie es sich anfühlt, wenn man unter Beobachtung steht. Ich komme mir vor wie eine Schauspielerin in einem völlig irren Bühnenstück!«

»Ignorieren Sie die Leute einfach«, sagte Caine. »So, hier ist die Stelle, an der er zu Boden gegangen ist. Keine Sorge, der Strom ist abgestellt.« Er führte sie nach vorn an den Rand der Bühne, wo die Mikros vor weiteren, keilförmig aufgestellten Verstärkern standen, und deutete auf die Bretter. »Und das hier ist Excalibur.«

Das tödliche Instrument lag zu ihren Füßen, lackiert und elegant geschwungen.

»Was fällt Ihnen auf, Shanti?«

»Herrgott, ich weiß es nicht … Das Ding ist noch immer mit dem Verstärker verbunden. Es hat einen Leinenriemen. Dort sind Brandflecken, und … o mein Gott, die Fetzen auf den Saiten – ist das verbranntes Fleisch?«

»Schauen Sie auf den Boden und sehen Sie genau hin. Fällt Ihnen etwas auf?«

»Das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für Partyspielchen, Caine.«

»Da sind Fußabdrücke, Shanti. Nasse Fußabdrücke, die meines Erachtens von Ethan Flynn stammen.«

»Fußabdrücke? Wo?«

Er bückte sich und berührte einen davon, dann betrachtete er prüfend seine behandschuhten Fingerspitzen. Die Fußabdrücke waren lang und schmal und gespenstisch schwach.

»Sie sind bei der Hitze großteils verdampft«, sagte Caine. »Doch wenn man ihnen folgt …« Er richtete sich wieder auf und ging ihr voran. »Wenn man ihnen folgt, stellt man fest, dass sie aus dem hinteren Bereich kommen. Sehen Sie? Von dort drüben, gleich bei den Verstärkern, wo der Boden nass ist. Der Gitarrenständer befindet sich genau in der Mitte, Ethan muss also in die Pfütze getreten sein, als er Excalibur geholt hat.«

»Vielleicht hat er sich eingenässt. Das passiert ständig, wenn Leute sterben.«

»Er ist aber nicht hier gestorben, sondern vorn auf der Bühne.«

»Gut möglich, dass er etwas verschüttet hat. Vielleicht hielt er ein Getränk in der Hand.«

»Tyrone hatte eine Flasche Bier beim Auftritt dabei, aber Ethan trinkt nie auf der Bühne. Außerdem bin ich mir ziemlich sicher, dass es sich um Wasser handelt.«

»Entschuldigen Sie, Caine, aber was soll das Ganze? Worauf wollen Sie hinaus?«

»Wie Sie vielleicht wissen, ist Ethan immer barfuß aufgetreten.«

»Ja, aber was hat das mit seinem Tod zu tun?«

»Konduktivität. Die Kombination von Strom, Wasser und nackter Haut ist tödlich.«

Sie starrte ihn mit nur halb verhohlener Ehrfurcht an. »Okay, Caine, Sie sind ein gottverdammtes Genie. Zwanzig Minuten später, und das Wasser wäre weg gewesen. Ich hole jemanden, der Fotos macht und Proben fürs Labor nimmt.«

Caine lächelte.

»Trotzdem ergibt das für mich keinen Sinn«, fuhr Shanti fort. »Sie hatten die Hälfte des Auftritts schon hinter sich, oder nicht? Warum hat Ethan nicht schon vorher einen Stromschlag bekommen?«

»Das habe ich mich auch gefragt. Allerdings bin ich mir ziemlich sicher, dass Excalibur das erste und einzige elektrische Instrument war, das er heute Abend gespielt hat – bei den anderen handelte es sich um altmodische Akustikinstrumente, die er zusammen mit Mikros benutzte, ohne direkte Stromzufuhr.«

»Dann sagen Sie mir, weiser Mann – warum wurde er nicht in der Sekunde gegrillt, in der er die Gitarre vom Ständer genommen hat?«

»Das ist eine gute Frage, aber wenn Sie sich die Filmaufnahmen ansehen, werden Sie bestimmt feststellen, dass er Excalibur am Leinenriemen hochgenommen und nur den Holzkorpus angefasst hat – Leinen und Holz leiten nicht. Der erste Kontakt mit Stromkomponenten – damit meine ich die Saiten – erfolgte, als er den Eingangsakkord anschlug.«

Shanti dachte einen Moment lang nach. »Okay, da haben wir’s. Trotz aller Gerüchte haben wir es hier mit einem bedauerlichen Unfall zu tun. Möglicherweise mit strafbarer Fahrlässigkeit. Eine nasse Bühne, dazu nackte Füße und eine E-Gitarre … KAWUMM! Das ist schwer für die Stigma-Fans, aber ein enttäuschend einfacher Fall für uns.«

»Nicht so schnell, Shanti. Ich fürchte, so leicht ist das nicht. Die Sache ist die: In einer Gitarre fließt kein Strom.«

»Selbstverständlich fließt darin Strom. Das sagt doch schon der Name: E-Gitarre, elektrische Gitarre. Ethan Flynn hat einen Stromschlag bekommen, so viel steht fest.«

»Das werden die Kriminaltechniker bestätigen, aber wenn ich mich richtig erinnere, geht es um Elektromagnetismus. Wenn man die Saiten einer E-Gitarre anschlägt oder zupft, werden die Schwingungen über elektromagnetische Tonabnehmer abgenommen und elektronisch verstärkt wiedergegeben. Dabei wird kein Strom direkt in die Gitarre geleitet. Unter normalen Umständen wäre es so gut wie unmöglich, einen Stromschlag von einer elektrischen Gitarre zu erhalten, geschweige denn eine tödliche Ladung abzubekommen.«

»Genau das habe ich auch gesagt«, ließ sich eine leise Stimme hinter ihnen vernehmen.

Shanti und Caine drehten sich um und sahen sich der berühmten Radiomoderatorin MC Vula Plenty gegenüber, die neben dem korpulenten Benno an ihrer Seite unendlich schlank und elegant wirkte. Sie trug eine locker fallende Haremshose, dazu ein kurzes, besticktes Jäckchen und hatte ein violettes Tuch um den Kopf gebunden.

»So, Ms. Plenty«, sagte Benno. »Dann überlasse ich Sie mal meinen kompetenten Kollegen DI Shantala Joyce und DI Vincent Caine. Die beiden leiten die Ermittlungen.«

Zitternd und mit aschfahlem Gesicht gab Vula Plenty den beiden Detectives die Hand. Sofort stachen Shanti ihre langen, rubinroten Fingernägel ins Auge, genau wie die unzähligen Armreifen an ihren Handgelenken.

»Sie müssen entschuldigen, ich kann einfach nicht aufhören zu zittern. Ethan war so ein lieber Freund, und ich nehme an, ich bin traumatisiert. Mein Gott, können die denn nicht endlich aufhören, Fotos zu machen?«

»Kommen Sie hinter den Sichtschutz«, sagte Caine freundlich.

»Ich möchte helfen, wirklich. Ich werde alles tun, worum Sie mich bitten, außer … außer noch einmal dieses grässliche Etwas anzusehen. Das Bild werde ich wohl nie mehr aus dem Kopf bekommen. Ethan war so ein schöner Mann, verstehen Sie?«

»Das klingt, als hätten Sie ihn schon lange gekannt«, hakte Caine nach.

»Seit Jahren.« Vula Plenty seufzte und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. »Er war erst neunzehn, als er das erste Mal auf dieser Bühne aufgetreten ist, und eines kann ich Ihnen sagen: Ich habe es tagtäglich mit Rockstars zu tun, und neunundneunzig Prozent davon sind arrogante Narzissten – Tyrone ist das beste Beispiel dafür –, aber Ethan war anders. Er war freundlich und bescheiden. Er wusste, dass er nichts beweisen musste, denn er war ein echtes Genie. Jeder verliebte sich in ihn. Es tut mir leid, aber ich kann noch immer nicht fassen, dass das hier echt ist. Es kommt mir vor wie eine außerkörperliche Erfahrung. Im Augenblick frage ich mich, ob das Festival nach diesem Ereignis überhaupt noch eine Zukunft hat …«

Sie brach in unkontrolliertes Schluchzen aus, und zu Shantis Bestürzung trat Caine auf sie zu und legte einen Arm um sie.

»Mein Gott, Sie sind wirklich der netteste Cop, dem ich je begegnet bin«, sagte Vula und vergrub ihr Gesicht an seiner Brust.

»Ich störe ja nur ungern«, schaltete Shanti sich ein, »aber ich versuche, eine Ermittlung zu führen.«

»Es tut mir leid … es tut mir leid«, schluchzte Vula, öffnete eine in Leder gebundene Wasserflasche und trank durstig.

»Könnten Sie uns ein paar Hintergrundinformationen geben, Vula?«, erkundigte sich Caine sanft. »Wie viele Leute sind an einem solchen Stigma-Auftritt beteiligt?«

»Sie meinen, wie groß die Crew ist? Tja, Stigma ist eine äußerst erfolgreiche Band.« Sie räusperte sich, offenbar erleichtert, über sachliche Dinge reden zu dürfen. »Das Team ist riesig. Ich denke, sie beschäftigen etwa zwanzig eigene Leute, wenn nicht sogar mehr, dazu kommen noch viele andere … Lassen Sie mich überlegen … Es gibt zwei Tontechniker für den Publikumsbereich, die an dem Mischpult ungefähr auf der Hälfte des Felds arbeiten, und außerdem die Tontechniker an den Seiten der Bühne – das sind die Jungs, die den Sound abstimmen, den die Künstler über ihre Ohrstecker und aus den Verstärkern auf der Bühne hören. Dann sind da die Beleuchter, die Pyrotechniker und das Videoteam. Und dazu kommen noch die Aufbauhelfer.«

»Aufbauhelfer?«

»Das sind Leute aus der Gegend, die sich über einen Backstage-Pass freuen und ein bisschen Geld verdienen möchten. Meistens die Jungs vom Fußballverein. Sie entladen die Trucks und schleppen das Zeug durch die Gegend.«

»Ist es möglich, dass mit den Stromkabeln etwas nicht in Ordnung war? Ein Defekt?«

»Das ist ausgesprochen unwahrscheinlich.« Vula schüttelte den Kopf. »Vorher werden alle möglichen Checks und Tests durchgeführt, damit bei der Show nur ja nichts schiefgeht – es werden jede Menge Fehlerstrom-Schutzschalter eingebaut, und selbstverständlich werden sämtliche elektronischen Geräte zuvor auf Sicherheit überprüft. Außerdem fließt kein elektrischer Strom in die Gitarre hinein, wie Inspector Caine gerade eben richtig bemerkt hat.«

»Wer ist für die Elektronik verantwortlich?«

»Ein Mann namens Mudget, den alle ›Sparky‹ nennen. Er ist schon ewig dabei, lebt förmlich für seinen Job. Ihm gehört eine riesige Elektrofirma namens Spark1Up. Er hat sich auf groß angelegte Gigs in ganz Europa spezialisiert. Draußen unter den Bäumen parkt eine ganze Flotte von Spark1Up-Fahrzeugen. Es hat nie auch nur das kleinste Problem mit ihm gegeben, sonst hätte man ihn nicht immer wieder für das Festival engagiert.«

»Keine Meinungsverschiedenheiten zwischen Mr. Mudget und Ethan?«

»Wie ich schon sagte: Alle liebten Ethan.«

»Alle bis auf einen. Sein Bruder, Tyrone …«

»Tyrone hasst jeden.«

»Können wir mit Mr. Mudget sprechen?«

»Sicher. Der arme Sparky entfernt sich nie weit von der Bühne. Er ist ein Einzelgänger – ehrlich gesagt, habe ich ein bisschen Mitleid mit ihm. Er wohnt in der Fahrerkabine eines der Spark1Up-Sattelschlepper auf dem Gelände.«

»Sie waren uns eine große Hilfe, Ms. Plenty. Wir werden mit Sicherheit noch weitere Fragen haben, aber für heute Nacht ist das erst mal alles. Würden Sie uns einen Gefallen tun, wenn Sie gehen?«, fragte Caine.

»Sicher.«

»Würden Sie Mr. Mudget in seiner Fahrerkabine aufsuchen und ihn fragen, ob es ihm etwas ausmacht, sich zu den DIs Joyce und Caine auf die Hauptbühne zu begeben?«

Vula Plenty nickte, dann schenkte sie Caine ein zaghaftes Lächeln und wandte sich zum Gehen.

Shanti und Caine sahen ihr nach, bis ihre schmale Gestalt außer Sichtweite war.

»Verdammt«, sagte Shanti. »Ich bin froh, wenn die Bühne endlich komplett abgeschirmt ist. Wie sollen wir forensische Ermittlungen vor Publikum durchführen? Vielleicht sollten wir das ganze Festival einfach abblasen. Was halten Sie davon, Caine?«

»Das wäre ein logistischer Albtraum. Stellen Sie sich nur vor, was für einen Aufwand es bedeuten würde, all den aufgebrachten Fans ihr Eintrittsgeld rückzuerstatten. Und zudem würden sich so potenzielle Zeugen in alle Winde zerstreuen. Nein, das ist unmöglich. Fakt ist, dass wir den Fall bis Sonntagabend gelöst haben sollten.«

»Sagten Sie gerade wir?«

»Ich meinte Sie. Sie müssen den Fall bis Sonntagabend gelöst haben.«

»Nur damit ich das richtig verstehe: Es ist jetzt fast Donnerstag. Das heißt, uns bleiben vier Tage, um zu klären, was passiert ist. Das ist ausgesprochen knapp.«

In diesem Augenblick betrat ein ungepflegt wirkender Mann von der linken Seite her die Bühne und kam auf sie zu. Er trug ein verwaschenes Status-Quo-T-Shirt, unter dem seine schwarz behaarte Wampe hervorschaute; unter den Achselhöhlen hatten sich tiefe Schweißränder gebildet. Fettige, schulterlange Locken umgaben seinen kahlen Schädel wie ein Kranz, die Gläser der Drahtbrille vor seinen winzigen Augen waren verschmiert. Sein Alter ließ sich nur schwer schätzen – Shanti tippte auf irgendetwas zwischen dreißig und fünfundsiebzig.

»Sparky Mudget?«, fragte sie. »Ich bin Detective Inspector Shanti Joyce, und das hier ist DI Caine. Man hat uns gesagt, Sie seien für die Elektrik beim Stigma-Auftritt zuständig gewesen.«

»Das Ganze ist wahnsinnig schwer für mich.«

»Das verstehen wir. Trotzdem müssen wir Ihnen ein paar Fragen stellen. Wenn Sie so freundlich wären …«

»Vielleicht morgen. Ist das okay?«

»Äh, nein. Das ist nicht okay. Tut mir leid, Mr. Mudget, oder haben Sie im Augenblick noch eine weitere wichtige Verpflichtung?«

Mudget betrachtete die kompliziert aussehende Uhr an seinem Handgelenk.

»Eine Verpflichtung nicht gerade … Hören Sie, könnten wir in ungefähr fünfzehn Minuten fertig sein?«

»Wieso? Möchten Sie eine Fernsehsendung anschauen? Bares für Rares vielleicht? Wir haben hier einen toten Superstar, Mr. Mudget, einen Superstar, der an einem Stromschlag gestorben ist, was Sie für die Polizei zu einer Person von besonderem Interesse macht. Ich will mich klar ausdrücken: Wir werden so lange mit Ihnen reden wie nötig, im schlimmsten Fall die ganze Nacht über.«

»Schon gut, schon gut … Sie können ruhig etwas freundlicher sein.«

»Mr. Mudget, haben Sie etwas mit dem Tod von Ethan Flynn zu tun?«

»Wow! Echt, das packe ich nicht.«

»Beantworten Sie bitte einfach meine Frage.«

»Zum Teufel, nein! Ich habe den Mann geliebt. Außerdem ist der Gig in Glastonbury der größte auf dem ganzen Planeten! Warum sollte ich mir das versauen? Übrigens: nur noch vierzehn Minuten.«

»Augenblick mal. Wollen Sie vorsätzlich die Ermittlungen behindern? Was soll der Countdown?«

»Es tut mir leid, es ist bloß so, dass …«

»Was, Mr. Mudget?«

»Das kann ich nicht sagen.«

»Das sollten Sie aber.«

»Na schön. Sie können es genauso gut wissen. Ich habe etwas eingeschmissen.«

»Sie haben etwas eingeschmissen?«

Er vergrub das Gesicht in den Händen, die klein, behaart und voller schwerer Ringe waren.

»Das alles hier ist so stressig, und ich …«

»Was Sparky sagen will«, schaltete sich Caine mit sanfter Stimme ein, »ist, dass er eine Tablette eingenommen hat.«

»Eine nicht legale Substanz, meinen Sie?«, vergewisserte sich Shanti.

»Es tut mir wirklich leid«, jammerte Mudget. »Ich war total fertig. Mir ist schon klar, dass das dämlich war, aber was soll ich jetzt machen? In zehn Minuten fängt das Zeug an zu wirken.«

»Sagten Sie nicht gerade, in vierzehn Minuten?«

»Zeit fließt.«

Shanti verschränkte seufzend die Arme vor der Brust.

»Okay, Sparky«, übernahm Caine. »Reden Sie mit mir. Wir sind doch alle Freunde, richtig?«

»Wie Brüder, Mann.«

»Verraten Sie mir, ob Sie Ethans Equipment persönlich aufgebaut haben.«

»Das mache ich jedes Mal.«

»Dann möchte ich, dass wir uns sein Zeug jetzt gemeinsam ansehen. Schaffen Sie das?«

»Caine«, zischte Shanti. »Das ist doch absurd! Lassen Sie den Mann gehen und uns unseren Job weitermachen.«

»Ich stimme Ihnen zu, dass die Ausgangssituation nicht gerade ideal ist, aber Sie wollten, dass ich mit Ihnen zusammenarbeite, also lassen Sie mich für einen Moment die Dinge in die Hand nehmen.«

Caine wandte sich Mudget zu, der zunehmend besorgt wirkte.

»Haben Sie einen Schraubenzieher, Sparky?«

»Klar«, erwiderte Mudget.

»Gut. Fangen wir mit dem Verstärker an. Wie fühlen Sie sich?«

»Ein bisschen paranoid, wenn Sie die Wahrheit wissen wollen. Ihre Freundin macht mir Angst.«

»Bellende Hunde beißen nicht, mein Freund. Und jetzt blenden Sie alles andere aus. Ich möchte, dass Sie diese Handschuhe anziehen. Sehen Sie, ich trage sie ebenfalls.«

»Meine Haut ist elastisch.«

»Machen wir uns an die Arbeit, Sparky.«

Sparky Mudget ließ sich vor dem riesigen Verstärker, der noch immer mit Excalibur verbunden war, auf die Knie fallen und fing an, fachmännisch die Schrauben herauszudrehen.

»Das machen Sie gut«, sagte Caine. »Ich sehe, dass Sie darin Übung haben.«

»Das hab ich schon Millionen Male gemacht … aber so noch nie …«

Shanti starrte auf die bleichen Hügel von Mudgets aus der Hose ragenden Pobacken und seufzte erneut. »Herrgott, Caine. Was soll das bringen?«

»Haben Sie Geduld mit mir, Shanti.«

Als Mudget die vordere Verschalung abnahm, stöhnte er entsetzt auf. »Boa! Das gibt’s doch gar nicht! Ich pack’s nicht …«

»Sagen Sie mir, was Sie sehen, Sparky.«

»Das ist der Hammer. Ich sehe einen Kasten voller verbrannter Spaghetti.«

»Manche der Kabel sind geschmolzen, nicht wahr?«

»Meine Kabel! Meine schönen Kabel!«

»Warum sind sie geschmolzen, Sparky? Müsste da nicht ein Fehlerstrom-Schutzschalter eingebaut sein? Werfen Sie doch mal einen Blick auf die Schaltplatten und sagen Sie mir, ob irgendetwas an der falschen Stelle ist. Aber versuchen Sie bitte, nichts anzufassen. Sie machen das großartig, Sparky. Wir wissen Ihre Hilfe sehr zu schätzen.«

»Ich mag Sie. Sie sind nett. Ein Cop der Liebe.«

»Dann lassen Sie uns zusammenarbeiten.«

»Das da …«

»Das grün-weiße, flache Kabel? Das Masseband? Ist es …«

»Von der Erde getrennt.«

»Wovon zur Hölle redet der?«, zischte Shanti. »Wer ist von der Erde getrennt?«

»Haben Sie Geduld, Shanti«, murmelte Caine, dann, lauter: »Sparky, wollen Sie damit sagen, dass jemand die Erdung gelöst hat?«

»Die Erde ist vom Mutterschiff getrennt.«

»Okay, Caine, ich werde dieser Farce jetzt ein Ende bereiten.« Shanti schüttelte genervt den Kopf.

»Bitte, Shanti, das könnte entscheidend sein … Sparky, das Masseband wurde vom Mutterschiff getrennt?«

»Ethan wurde von der Erde getrennt«, erwiderte Sparky Mudget und kam wieder auf die Füße, die Arme ausgestreckt wie Flügel.

»Bleiben Sie bei mir, Sparky. Sie wollen also sagen, dass sich jemand an Ihren Kabeln zu schaffen gemacht hat?«

»Nichts ist so, wie es sein sollte.«

»Wer würde so etwas tun? Wer hätte Ethan Schaden zufügen wollen?«

Mudget schickte sich an, einen der riesigen Lautsprecher zu erklimmen.

»Toble … Toble … rone …«

»Tyrone? Hat er Tyrone gesagt, Caine? Mudget, haben Sie Tyrone gesagt?«

»Sie hat braune Augen wie To … blerone.« Mudgets Blick schweifte zu Caine. »Sie hat schöne Augen, Officer. Alle zwölf … wie tanzende Kerzen … Ich bete sie an …«

»Benno!«, rief Shanti. »Begleitest du Mr. Mudget bitte zu seinem Transporter? Nimm Dunster mit und sieh zu, dass jemand ein Auge auf ihn hat. Er darf das Gelände unter keinen Umständen verlassen. Ach ja, vielleicht solltest du ihn unterwegs von einem Sanitäter durchchecken lassen. Ich denke, er hat versehentlich eine illegale Substanz eingenommen.«

Mudget sprang von dem Lautsprecher, und als Benno und Dunster die Verfolgung aufnahmen, fing er an, die Bühne zu umkreisen. Endlich prallte er, begleitet vom ironischen Applaus des Publikums, gegen das Schlagzeug. Becken flogen in alle Richtungen, dann konnten die beiden Sergeants ihn endlich festhalten.

»Mir ist durchaus bewusst, dass die Befragung ein wenig ungewöhnlich war«, sagte Caine, »aber Sie haben ja gehört, was er gesagt hat – er ist fest davon überzeugt, dass sich jemand an seinen Kabeln zu schaffen gemacht hat.«

»Der Mann entspricht exakt der Definition eines unzuverlässigen Zeugen«, sagte Shanti. »Wie auch immer – ich verstehe, was Sie damit bezwecken wollen. Sehen wir zu, dass wir uns Mudgets Aussage bestätigen lassen. Ich schau mal nach, ob Dawns Elektroexperte schon eingetroffen ist.«

 

Während Dawn und der Kriminaltechniker vor dem Verstärker hockten, tranken Shanti und Caine Tee aus Pappbechern.

»Wäre es nach mir gegangen, hätte ich ihn festgenommen und seinen Sattelschlepper auf den Kopf gestellt«, beschwerte sich Shanti. »Abgesehen von allem anderen, ist er auf meinem Tatort herumgetanzt, was an und für sich schon ein Verbrechen ist.«

»Hören Sie, Shanti, Sie können jedes Fahrzeug und jedes Zelt auf dem Festgelände durchkämmen und werden mit Sicherheit tonnenweise Drogen sicherstellen, aber das hilft uns nicht, den Mörder zu finden.«

Dawn und der Elektroexperte prüften den gesamten Verstärker, machten Fotos und nahmen jedes einzelne verschmorte Kabel genauestens unter die Lupe. Nach einer ganzen Weile standen sie auf. Ihre Gesichter waren ernst.

»Wie lautet das Urteil?«, fragte Shanti.

»Tja, wir müssen das ganze Zeug zwar noch ins Labor schaffen, aber ich kann euch jetzt schon sagen, dass dieser Mudget recht hat. Das Masseband wurde tatsächlich abgetrennt, wodurch eine Notabschaltung verhindert wird«, erläuterte Dawn.

»Könnte das versehentlich passiert sein?«

»Möglich, aber unwahrscheinlich«, antwortete der Techniker. »Allerdings ist das nicht der einzige Punkt.«

»Was denn noch?«, drängte Shanti.

»Es gibt eine zusätzliche Zuleitung, die nicht dort sein dürfte. Sehen Sie selbst, das Kabel hier … Es scheint das Verstärkerchassis zu versorgen – das ist dieses Teil.«

»Kein Wunder, dass Sparky so erschüttert war«, sagte Caine.

»Er stand einfach nur neben sich, weil er etwas eingeschmissen hatte«, hielt Shanti dagegen.

Caine ignorierte sie. »Das bedeutet also, dass wir es mit vorsätzlichem Handeln zu tun haben?«

»Einfach ausgedrückt: Die Anlage wurde manipuliert«, brachte Dawn die Sache auf den Punkt. »Irgendwer – jemand, der genau wusste, was er tut – hat mit den Kabeln hantiert und dafür gesorgt, dass der gesamte Verstärker unter Strom stand, sodass zweihundertvierzig Volt direkt in Excalibur und Ethan Flynn geleitet wurden …«

»… der zuvor barfuß durch eine Pfütze getappt war«, ergänzte Caine.

Es entstand eine lange Pause, gefüllt von dem pulsierenden Sound des Festivals auf dem riesigen Gelände um sie herum.

»Du kennst mich, Shanti«, sagte Dawn. »Ich bin wirklich niemand, der voreilige Schlüsse zieht, doch wenn ich mich nicht völlig irre, haben wir es hier tatsächlich mit Mord zu tun – einem musikalischen Bilderbuchmord.«