Kapitel sechs

Ein Schleier aus Tränen

Shanti und Caine standen Seite an Seite unter den Lichtbogen und sahen zu, wie der merkwürdig ausgebeulte Leichensack auf einer Bahre von der Bühne getragen und in einen Rettungswagen mit abgedunkelten Scheiben geschoben wurde.

Das traurige Spektakel wurde begleitet von dem kummervollen Klagen der Flynn-Familie. Eine Phalanx von Polizisten hielt die rempelnde Menge vom Backstage-Bereich fern, aber Queenie Flynn gelang es, die Absperrung zu durchbrechen und sich jammernd auf den in Kunststoff verpackten Leichnam ihres Sohnes zu stürzen.

Als man sie von ihm losgeeist hatte, warfen die Sanitäter die Türen zu, dann rollte der Wagen langsam über das Gras und durch die schwer bewachte Pforte des VIP-Bereichs. Als er auf das Hauptgelände fuhr, ging ein dumpfes Stöhnen durch die Reihen der wartenden Fans, was klang, als würden Tausende von Didgeridoos ein Klagelied anstimmen.

Caine berührte Shantis Hand. »Ich lasse Sie jetzt allein«, sagte er leise. »Ich muss jemanden suchen …«

»Misty, nicht wahr?«

»Ja, Misty. Wir sehen uns, Shanti. Ich hoffe, Sie finden Ihren Mörder. Richten Sie Paul liebe Grüße von mir aus und Ihrer Mum ebenfalls. Es wäre großartig, die zwei bald mal wiederzusehen.«

Er drehte sich um und ging davon, doch als er die VIP-Pforte erreichte, wurde ihm der Weg versperrt, und er blickte in das verzweifelte, tränenüberströmte Gesicht von Queenie Flynn.

»Moment mal … warten Sie! Sind Sie Caine? Vincent Caine?«

»Der bin ich. Mein aufrichtiges Beileid. Ich vermag mir gar nicht vorzustellen …«

»Das Leben ist ein Tränenschleier, Inspector Caine. Von Anfang bis Ende. Aber Sie können helfen, das weiß ich. Sergeant Bennett hat mir mitgeteilt, dass Sie die Ermittlungen leiten …«

»Äh, nein, ich denke, da müssen Sie mit meiner Kollegin sprechen, DI Joyce.«

Queenie stach mit dem Zeigefinger in seine Brust. »Ich glaube, Sie wurden geschickt, um ihn zu finden – den Mörder meines Sohnes. Versuchen Sie gar nicht erst, das zu leugnen. Sie haben etwas, junger Mann, eine ganz besondere Gabe.«

»Polizeiarbeit ist Teamwork, Mrs. Flynn.«

Sie fasste ihn beim Arm und hob den Blick zum Himmel. »Hören Sie, Mr. Caine. Können Sie es hören?«

»Was soll ich hören können?«

»Ethan natürlich. Ich weiß, dass Sie ihn hören, genau wie ich. Er fleht Sie an, ihn zu erlösen – ›Finde den, der das getan hat, Ma‹, das sagt er uns. Er ruft uns … ruft wieder und wieder. Erzählen Sie mir nicht, dass Sie ihn nicht hören, Mr. Caine.«

»Es stimmt«, schaltete sich Shanti ein, die näher getreten war. »Caine hat jede Menge Intuition. Hat er die Stigmata erwähnt, Mrs. Flynn?«

»Shanti!«, sagte Caine. »Das hätten Sie nicht …«

»Stigmata! Ich wusste es! Waren sie an den Händen oder an den Füßen?«

»An den Händen, Mrs. Flynn. Aber in Wirklichkeit waren es die Brandwunden von der Gitarre.«

»Ethan war auserwählt, Mr. Caine. Das wusste ich schon immer. Ein Segen für die Welt. Das ist ein Zeichen … ein Zeichen …«

»Das Problem ist, Mr. Caine hat gerade eben erklärt, dass er nicht bereit ist, uns bei diesem Fall zu unterstützen.« Shanti zuckte die Achseln. »Tut mir leid, Mrs. Flynn, er steht leider nicht zu unserer Verfügung.«

Queenie funkelte Caine mit tief geränderten, vom Weinen geröteten Augen an. »Er steht nicht zur Verfügung?«

»Hören Sie, Mrs. Flynn …« Caines Blick wanderte von Shanti zu Queenie.

»Mr. Caine, das müssen Sie Ethan schon selbst beibringen. Sagen Sie ihm, dass Sie ihn nicht aus dem ewigen Schwebezustand befreien und ihn damit vor Höllenqualen bewahren werden, weil Sie nicht zur Verfügung stehen!«

»Ich … nein. Sie haben recht. Ich übernehme den Fall, Mrs. Flynn. Für Sie und für Ethan.«

»Gott segne Sie, Mr. Caine. Ich zähle darauf, dass Sie die Tränen einer trauernden Mutter eindämmen können.«