Kapitel sieben

Mörder in der Menge

Als es weit nach Mitternacht auf dem Festivalgelände ruhig wurde, saßen Shanti und Caine nebeneinander am Rand der Pyramid Stage und ließen die Füße baumeln. In der hügeligen Landschaft um sie herum stiegen kleine Rauchwolken von Lagerfeuern in den Himmel, die Zelte der Festivalbesucher leuchteten wie unzählige Lampions.

»Habe ich Ihnen schon gesagt, wie froh ich bin, Sie bei dem Fall an Bord zu haben, Caine?«, fragte Shanti.

Caine schüttelte den Kopf. »Ich denke, das haben Sie vergessen zu erwähnen.«

»Treiben Sie es nicht zu weit. Sie sind nervend, aber nützlich. Wieso kennen Sie sich eigentlich so gut mit Gitarren, Verstärkern und Elektromagnetismus aus?«

»Bücher. Physik in der Schule. Außerdem hab ich eine Zeit lang in einer Band gespielt.«

»Das war ja klar. Waren Sie wenigstens unerträglich schlecht?«

»Ich glaube, ja.«

»Dann verraten Sie mir besser nicht, wie die Band hieß.«

»Half Man Half Bull.«

»Ich sagte doch, Sie sollen es mir nicht verraten.«

»Wir hatten ein paar Auftritte in Südwestengland. Nichts Großes. Eine eher unbedeutende Tour.«

Shanti stöhnte. »Das war ein Scherz, oder? Sie sollten lieber nicht versuchen, lustig zu sein.«

»Es wird nicht wieder vorkommen.«

»Konzentrieren wir uns auf den Fall, Caine. Was haben wir bislang? Ich denke, es liegt auf der Hand, dass wir bei diesem Tyrone, Ethans Bruder, ansetzen.«

»Jahrzehntelange Rivalitäten …«

»… dazu ein Vorstrafenregister, das so groß ist wie sein Ego. Okay, der nächste Kandidat ist Ihr psychedelischer Freund Sparky Mudget.«

»Der sehr von Ihnen angetan ist, wenn ich mich recht erinnere. Augen wie Toblerone … Es ist richtig, dass Sparky über das technische Know-how verfügt, aber wo liegt das Motiv?« Caine legte nachdenklich die Stirn in Falten.

»Und dann ist da noch Vula Plenty«, sagte Shanti. »Vielleicht ist Ihnen nicht aufgefallen …«

»… dass sie eine Wasserflasche bei sich hatte?«

»Herrgott, Caine.«

»Eine limettengrüne Designer-Wasserflasche in einer Lederhülle. ›Elchtränen‹ stand darauf. Ich glaube, das ist ein kanadischer Anbieter, aber das kann ich überprüfen.«

»Vula hat einen Ausweis, der ihr Zugang zu sämtlichen Bereichen verschafft. Es wäre für sie ein Leichtes gewesen, etwas Wasser auf die Bühne zu schütten.«

»Auch hier stellt sich die Frage: Wo liegt das Motiv?«

»Keine Ahnung, aber das werden wir herausfinden. Übrigens, Caine, ist Vula womöglich …«

»Sie ist eine Transsexuelle, Shanti. Ich dachte, das sei allgemein bekannt.«

»Um ehrlich zu sein, hatte ich bis heute Abend noch nie von ihr gehört.«

»Sie moderiert eine sehr beliebte Radiosendung – Vula Has Plenty For You. Hauptsächlich internationale Charts – da ist wirklich jede Menge dabei. Misty ist ein großer Fan.«

»Das kann ich mir vorstellen. Wie dem auch sei, ich denke, unser Mörder ist direkt unter uns. Inmitten der Menge. Schleicht zwischen den Abertausenden schlafenden Fans umher.«

Caine legte sich mit dem Rücken auf die Bühne, die Hände hinter dem Kopf.

»Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen, Shanti?«

»Geht es darum, das Ungewisse zu umarmen?«

»Ganz genau.«

Sie standen erschöpft auf, gingen an den uniformierten Kollegen an der Rückseite der Bühne vorbei und die Stufen hinunter in den VIP-Bereich, wo Dawn Knightly soeben die Türen ihres Vans schloss.

»Wie immer: vielen Dank, Dawn. Ich habe keinen blassen Schimmer, was wir ohne dich anfangen sollten.«

Benno, der die Ablöse gebrieft hatte, kam zu ihnen herüber.

»Wie sieht deine Strategie aus, Chefin?«

Shanti räusperte sich. »Mudget scheint den Verdacht auf Tyrone Flynn lenken zu wollen, und damit ist er nicht der Einzige. Ich habe daher vor, Tyrone gleich in der Früh einen Besuch abzustatten.«

»Das habe ich bereits geklärt, Chefin. Er erwartet euch um zehn auf dem Hof im Dorf.«

»Du bist einfach legendär, Benno.«

Benno grinste. »Ihr solltet versuchen, ein bisschen Schlaf zu bekommen.«

»Das sehe ich genauso. Machen wir Feierabend. Ich habe auf dem Weg hierher ein Prem gesehen.«

»Ein Prem, Chefin?«

»Ein Premier Inn. Oder ist es zu spät, sich ein Zimmer zu nehmen?«

»Ha!«

»Warum lachst du mich aus, Sergeant Bennett?«

»Bei allem Respekt, Chefin, du machst Witze! Während des Festivals findest du kein Zimmer im Umkreis von zig Meilen!«

»Und wo bist du untergebracht?«

»Das Team vor Ort hat eine Basis oberhalb des Big-Ground-Camping-Areals im Norden des Festivalgeländes.«

»Gibt es dort Betten?«

»Ein paar Schlafsäcke, wenn wir Glück haben. Ich haue mich im Laderaum des Vans aufs Ohr, zusammen mit Dunster, auch wenn ich mir dabei einen Hexenschuss zuziehe.«

»Und was soll ich jetzt machen?«

»Ich werde etwas für Sie organisieren«, schlug Caine vor. »Gute Nacht, Benno. Gute Nacht, Dawn.«

Shanti hängte sich ihre Tasche um und folgte Caine aus der VIP-Zone. Ihre Füße schmerzten höllisch. Und es gab da noch ein weiteres Problem …

»Caine, wenn ich Ihnen etwas Persönliches anvertraue, versprechen Sie mir, dass Sie nicht lachen?«

»Selbstverständlich, Shanti. Ich werde ganz bestimmt nicht lachen, darauf können Sie sich verlassen.«

»Ich habe etwas, was man vielleicht als ›Phobie‹ bezeichnen könnte.«

»Aha.«

»Als ich noch in der Schule war, kursierten immer wieder Gerüchte über Festivaltoiletten. Eine lange Reihe von Plumpsklokabinen. Denken Sie nur an diese eine Szene aus Trainspotting, wo man meint, man würde einen Domestos-Werbespot ansehen. Um ehrlich zu sein, Caine, würde ich es lieber mit einer Biker-Gang aufnehmen, als eine dieser Toiletten aufzusuchen. Die machen mir echt Angst.«

»So schlimm sind die heutzutage gar nicht.«

»Es sind Menschen darin umgekommen, Caine, wussten Sie das nicht? Betrunkene sind durch die Sitze in die beschissene Hölle darunter gerutscht.«

»Nun, ich habe eine Überraschung für Sie, Shanti.«

»Eine angenehme Überraschung?«

»Eine wundervolle. Folgen Sie mir einfach. Es ist nicht weit.«

Mit seinem fledermausartigen Orientierungsvermögen führte Caine sie zwischen den unzählbaren Zelten hindurch und warnte Shanti dann und wann vor Spannseilen und auf dem Boden liegenden Hindernissen.

Als sie das Camping-Gelände hinter sich ließen, standen sie plötzlich vor einer ellenlangen Schlange, die geduldig vor – Zitat Caine – »den besten Toiletten in ganz Glastonbury« warteten. Bei diesen handelte es sich um eine Reihe von luxuriösen Minipalästen namens »Toiletten der Träume«, betrieben von WaterAid, das die Kunden auf den Mangel an Sanitäranlagen in der Dritten Welt aufmerksam machen wollte. Hinter der fest verschließbaren Tür entdeckte Shanti einen glänzenden Keramikthron, außerdem gab es kochend heißes Wasser, frische weiße Handtücher, angenehm duftende Seife und Handcreme, das Ganze aufgepeppt mit Discokugeln, verspiegelten Fliesen und leiser Entspannungsmusik.

Grinsend kam sie wieder heraus. »Na schön, Caine. Wenn Sie jetzt noch ein anständiges Bett für mich auftreiben, bin ich bereit, es später mit der ganzen Welt aufzunehmen. Meinen Sie, wir brauchen noch lange? Ein bisschen Schlaf würde mir verdammt guttun!«

»Wir sind schon fast da; es ist oben auf dem Hügel. Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht, aber ich schlafe besser in einem Zelt als in meinem eigenen Bett. Das hat wohl etwas mit dem Kontakt zur Erde zu tun …«

»Was? Einen Augenblick mal … Wohin genau bringen Sie mich?«

»Zu meinem Zelt. Oberhalb des Healing Field.«

»Wo?«

»Das ist die große Chill-out-Area mit den wunderschönen mystischen Gärten, wo man sich ausruhen, tanzen oder massieren lassen kann. Dort kümmern sich viele Heiler um die Besucher, und es werden Yoga- und andere Workshops für das physische oder psychische Wohl angeboten.«

»Aha.«

»Kommen Sie, Shanti, es ist nicht weit bis zu meinem Zelt.«

»Haben Sie Ihren buddhistischen Verstand verloren? Um nichts auf Gottes Welt werde ich mit Ihnen ein Zelt teilen.«

»Moment mal, Shanti … Es ist ein großes Zelt. Außerdem können Sie nirgendwo anders hin.«

»Ehrlich, ich quetsche mich lieber zusammen mit Benno und Dunster in einen Schlafsack, als dass ich die Nacht in einem Zelt mit Ihnen und diesem … diesem Flittchen teile. Misty. So heißt sie doch, oder?«

»Shanti …«

»Kommen Sie morgen früh um halb acht. Pünktlich. Und bringen Sie Tee mit, Caine. Starken Tee.«