Kapitel acht

Andeutungen von Sterblichkeit

Ihr Körper schmerzte schon, bevor sie wach wurde. Stöhnend öffnete sie ein Augenlid. Es war aberwitzig hell. Von draußen drang eine Kakofonie aus Kinderlachen, Vogelgezwitscher und gedämpften Stimmen zu ihr herein.

Der Polizei-Van parkte an einem Hang, weshalb ihr furchtbar dünner Nylonschlafsack abwärts gerutscht war und sie nun in ausgesprochen schmerzhafter Haltung zusammengekauert in einer Ecke bei den Hecktüren lag. Dunster und Benno waren bereits unterwegs, was ein Segen war, doch der an eine Bärenhöhle erinnernde Geruch schlafender Männer hing noch in der Luft.

Wie war es möglich, dass sie sich fühlte, als hätte sie einen Kater, obwohl sie gar nichts getrunken hatte? Sie zog die Jeans an, dann wühlte sie in ihrer Umhängetasche und zog eine Zahnbürste und eine Packung feuchte Tücher heraus. Anschließend kletterte sie auf den Beifahrersitz und warf einen Blick in den Spiegel in der Sonnenblende. Sie machte sich so gut es ging frisch, dann strich sie ihre Haare zurück und kroch wieder nach hinten, wo sie zögernd eine Tür öffnete.

Unter ihr erstreckte sich das Festivalgelände, das aussah, als hätte jemand eine Spielzeugkiste ausgeschüttet – Zirkuszelte, kunterbuntes Chaos, jede Menge Festzelte. Sie dachte an Paul und zuckte zusammen.

Der Van parkte am Rand des Polizei- und Sicherheitskräften vorbehaltenen Areals und überblickte einen zur Gemeinde von Kilton gehörenden Campingplatz. Einige Hundert Meter weiter … o mein Gott! Einige hundert Meter weiter genoss ein Paar mittleren Alters sein Frühstück … unbekleidet, ein glückseliges Lächeln auf den Lippen.

In der Ferne sah sie die vertraute Gestalt von DI Caine, der sich einen Weg zu ihr bahnte, eine Thermoskanne in der Hand. In der anderen hielt er zwei Becher. Oje, gleich würde er einen Schock bekommen, denn er musste genau an Mr. und Mrs. Wabbelfleisch vorbei.

Doch als er bei ihrem Zelt ankam, erwiderte er einfach ihr Lächeln und ging weiter. Nein, er blieb sogar kurz stehen, und Shanti sah, wie er etwas zu den beiden sagte – vermutlich etwas über die furchtbare Tragödie gestern, seiner ernsten Miene nach zu urteilen. Dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck, und er deutete zum Himmel, offenbar freute er sich über das herrliche Wetter. Jetzt wandte er sich ab, und Shanti hörte, wie er im Weggehen eine Bemerkung über das Leben machte, das eine »seltsame und wundervolle Reise« sei. Die drei wünschten sich einen schönen Tag und versicherten einander, dass sie jeden Moment davon auskosten würden.

»Caine! Ich bin hier oben … Caine …«

»Ach, da sind Sie, Shanti. Ich habe Ihnen Tee mitgebracht.«

»Der Tee ist nicht so wichtig. Haben Sie nicht etwas vergessen?«

»Ich denke nicht.«

»Doch, haben Sie. Paragraf fünf des Gesetzes für öffentliche Ordnung von 1986. Der Abschnitt über Nacktheit in der Öffentlichkeit. Belästigung der Allgemeinheit.«

Caines Mundwinkel zuckten. Er stellte die Becher auf den Boden des Vans und schenkte ihnen dampfenden Chai-Tee ein.

Auf Shantis Becher stand: Tu nicht einfach irgendwas, sei da!

Der Spruch auf Caines Becher lautete:

Was wollen wir?

Erleuchtung.

Wann wollen wir Erleuchtung?

Danke der Nachfrage, irgendwann während der nächsten drei Reinkarnationen wäre schön.

Sie hätte einen Mord begehen können für eine Tasse mahagonifarbenen Yorkshire-Tee, doch erstaunlicherweise schmeckte die ungenießbar aussehende Flüssigkeit in ihrem Becher ebenfalls köstlich – milchig, würzig und süß. Ein schwaches Déjà-vu an längst vergangene Urlaube bei ihrer Großmutter in Kerala stieg in ihr auf wie der duftende Dampf des heißen Tees.

»Wie haben Sie geschlafen, Shanti?«

»Ich habe nicht geschlafen.«

»Das tut mir leid. Ich hatte Ihnen angeboten …«

»Ja, ich weiß. Ich nehme an, ich bin enttäuscht, aber nicht sonderlich überrascht. Es muss schwer für Sie sein, Ihre Urtriebe niederzukämpfen. Zu dritt in einem Zelt – die Fantasie eines jeden Pfadfinders.«

»Ich denke, ich sollte Ihnen etwas erklären. Misty ist meine Schwester.«

»Lügen macht es nur schlimmer, Caine.«

»Nun, genau genommen meine Halbschwester. Außerdem hat sie ihr eigenes Zelt. Ich habe versucht, Ihnen klarzumachen, dass ich ihretwegen hier bin, aber dazu bin ich nicht gekommen. Sie ist Sängerin, meiner Meinung nach ein herausragendes Talent, und wissen Sie, was?«

»Was?«

»Heute Nachmittag hat sie ihren ersten richtigen Gig! Bloß auf der kleinen Akustikbühne am Field of Avalon, aber ich bin unglaublich stolz auf sie. He! Vielleicht kommen Sie auch. Misty würde sich sehr freuen.«

»Machen Sie Witze, Caine? Ich kann mir nicht einfach den Nachmittag freinehmen. Ich leite die Ermittlungen in einem Mordfall, haben Sie das schon vergessen?«

»Aber nein. Das verstehe ich.«

»So. Was ich jetzt brauche, ist Frühstück. Wissen Sie, wo ich hier etwas Anständiges zwischen die Zähne bekomme? Toast, Eier, Schinkenspeck?«

»Ich bin in einer halben Stunde mit Misty verabredet. Wir kennen ein nettes kleines Lokal, wo alles angeboten wird. Ach übrigens, meine Schwester möchte uns etwas über Ethan erzählen.«

Shanti kletterte aus dem Van, streckte sich und strich ihre Klamotten glatt.

»Darauf bin ich gespannt, aber wir dürfen nicht vergessen, dass wir um zehn Uhr Tyrone befragen wollen.«

»Selbstverständlich. Seine Unterkunft liegt nur einen zwanzigminütigen Fußmarsch von hier entfernt.«

Shanti folgte Caine über das Areal für die Einsatzkräfte in Richtung des exhibitionistischen Paars. Caine lächelte, Shanti runzelte die Stirn.

»Wie machen Sie das bloß, Caine? Wie können Sie so … aufgekratzt sein?«

»Wie ich schon sagte: Ich schlafe wunderbar in meinem Zelt. Um diese Jahreszeit wird es gegen fünf Uhr morgens hell, also bin ich aufgestanden und zu dem Steinkreis auf dem Healing Field gegangen. Es heißt, er liegt auf einer Linie mit dem Glastonbury Tor.«

»Hm.«

»Es gibt dort eine wundervolle sangha und …«

»Übersetzung, bitte.«

»Buddhistische Gemeinschaft. Wir treffen uns bei Anbruch der Morgendämmerung am Steinkreis und meditieren.«

»Wie hätte es auch anders sein sollen?«

»Das macht einen bereit für den Tag, Shanti. Vielleicht möchten Sie morgen mitkommen …«

 

Caines Schwester wartete bereits am Hundred Monkeys Café – ein offenes Zelt voller bärtiger Männer und Frauen ohne BH. In megakurzem Minirock und kniehohen Springerstiefeln verströmte Misty denselben Optimismus wie ihr älterer Bruder, ihr Lächeln war genauso offen und freundlich wie seins.

Die Stimmung hier war wie überall auf dem Festivalgelände – gedämpft und beklommen. Sämtliche Gespräche schienen sich um Ethans tödlichen Abgesang zu drehen.

Caine und Misty umarmten sich voller Wärme, und Shanti wusste sofort, dass sie niemals so eng mit ihrem Bruder sein würde – vorausgesetzt, sie hätte einen. Hatte sie aber nicht.

»Ich habe gehört, Sie sind Sängerin, Misty?«

»Du kannst ›du‹ zu mir sagen, hier auf dem Festival duzen sich alle. Und ja – ich habe heute meinen ersten richtigen Gig. Um ehrlich zu sein, mache ich mir fast in die Hose vor Aufregung.«

»Du bist bestimmt großartig«, versicherte Caine ihr. »Sei einfach du selbst, und alle werden dich lieben.«

Sie reihten sich in die Schlange ein, um etwas zu essen zu ordern, und Shanti stellte fest, dass die Geschwister beide das Gleiche nahmen: Naturjoghurt mit Saaten, frisches Obst, eine Scheibe Vollkornbrot mit Honig und ein Glas Saft. In Anbetracht dessen war ihr ihre eigene Bestellung beinahe peinlich, aber sie hatte nun mal einen anstrengenden Job zu erledigen, und deshalb brauchte sie Fleisch und tierische Fette. Wer wusste schon, wann sie überhaupt wieder etwas zwischen die Zähne bekam?

»Ist Misty dein richtiger Name?«, fragte sie, als sie sich gemeinsam mit Caine und seiner Schwester an einen der langen Picknicktische gesetzt hatte und nun Butter auf ihr Brot spachtelte.

»O nein, das ist eine Art Künstlername. Als ich klein war, hat man mich so genannt, stimmt’s, Vince?«

»In Wirklichkeit heißt sie Tina, und irgendwann ist ›Miss T.‹ zu Misty geworden, was gut zu ihr passt.«

»Inwiefern?«

»Meine Schwester ist wie der Nebel, nicht wahr, Kleines? Sie verschwindet monatelang auf ihren Reisen, als hätte sie sich in Luft aufgelöst, und urplötzlich taucht sie wieder auf.«

»Du musst endlich aufhören, dir Sorgen um mich zu machen, Vince. Ich bin kein Kind mehr.«

»Das weiß ich. Trotzdem mache ich mir Sorgen um dich, dagegen kann ich nichts tun.«

»Caine hat mir erzählt, dir sei etwas zu dem Fall eingefallen?«, brachte Shanti das Gespräch auf das eigentliche Thema.

»Ich weiß nicht, ob es wichtig ist …«

»In diesem Stadium der Ermittlungen ist alles wichtig.«

»Nun, als Sängerin habe ich einen Backstage-Pass. Gestern Nachmittag war ich hinter der Pyramid Stage und habe tatsächlich mit Ethan gesprochen. Wie ich dir schon sagte, Vince: Vielleicht war ich die letzte Person, mit der er geredet hat, bevor er auf die Bühne gegangen ist.«

Es kostete Shanti einige Mühe, ihre vollbeladene Gabel zum Mund zu führen, ohne dass etwas herunterfiel, aber sie schaffte es. Mein Gott, die in dieser Gegend hergestellten Würstchen waren einfach köstlich, auch wenn die Blicke der heiligen Geschwister ihr das Gefühl vermittelten, sie würde mit jedem Bissen ein quiekendes Ferkel abschlachten.

»Das ist interessant«, sagte sie mit vollem Mund. »Erzähl mir davon. Seid ihr euch da zum ersten Mal begegnet? Was für einen Eindruck hat er auf dich gemacht?«

»O ja, wir sind uns zuvor noch nie über den Weg gelaufen, doch zu meiner Überraschung kannte er meine Songs – zumindest hat er das behauptet. Vielleicht wollte er einfach nur nett sein. Er war überhaupt sehr charmant. So offen und interessiert, und das an mir. Ich meine, Ethan ist … war der vielleicht größte Name der ganzen Musikszene. Früher bin ich von der Schule nach Hause gerannt, nur um eins seiner Alben aufzulegen, erinnerst du dich noch, Vince? Ich kann gar nicht glauben, dass er nicht mehr unter uns ist.«

»Kommen wir zurück zu eurem Treffen, Misty. Hast du ihn angesprochen?«

»Ja. Ich habe ihn dort stehen sehen, barfuß und einfach nur wunderschön, und ich dachte: Jetzt oder nie! Also bin ich zu ihm gegangen und habe Hi gesagt. Ich wusste, dass er gleich vor wer weiß wie vielen Menschen auftreten würde, aber er hat sich tatsächlich zu mir umgedreht und mit mir geredet, als wären wir Freunde.«

»Was hat er gesagt?

»Das war merkwürdig. Es war, als würde die Zeit stillstehen. Entschuldigung, ich weiß, dass das ein Klischee ist, aber es war wirklich so – als würde nichts anderes existieren außer uns, als wären wir zwei ganz allein auf der Welt. Ich konnte es nicht glauben, aber er hat sich tatsächlich für meine Karriere interessiert, hat mir Ratschläge gegeben.«

»Was für Ratschläge?«

Himmel, der geröstete Schinkenspeck war köstlich! Es hieß ja, zu viel Fleisch sei krebserregend, aber was war schon ein kleiner Tumor im Vergleich mit Gaumenfreuden wie diesen? Misty und Caine hatten ihren Joghurt kaum angerührt, als Shanti schon bereit für einen Nachschlag war.

»Ach, das Gleiche, das Vince mir auch immer rät: Bleib du selbst und so weiter. Er sagte, ich solle für mich Musik machen und mich nicht an dem orientieren, was andere Menschen von mir erwarten.«

»Aha. Und was noch?«

»Er meinte, es sei ein guter Trick, zwei Gesichter zu haben für die beiden Seiten des Geschäfts, und darauf zu achten, niemals das falsche aufzusetzen.«

»Was meinte er damit?«

»Nun, die Musikwelt kann gnadenlos sein, deshalb muss man sich bei geschäftlichen Dingen tough und emotionslos geben, als handele es sich um die Musik von jemand anderem. Als wäre man sozusagen sein eigener Superagent. Wenn man dagegen Songs schreibt oder performt, muss man sein emotionales, kreatives Gesicht zeigen. Sein Herz öffnen. Diese beiden Gesichter dürfe man niemals verwechseln, das hat er extra betont. Mit anderen Worten: Gehe dein Business völlig emotionslos an, aber sei nicht verkopft in Bezug auf deine Kunst. Und heute Nachmittag werde ich mein Herz für Ethan öffnen.«

»Okay, aber sagtest du nicht, das Gespräch sei merkwürdig gewesen?«

»Ja. Ich habe keine Ahnung, wie lange wir geredet haben. Vielleicht sechs oder sieben Minuten, wenngleich es mir länger vorkam. Dann ist Tyrone mit ein paar harten Kerlen aufgetaucht. Er schien aufgewühlt zu sein, und … ich fand, er war verdammt grob.«

»Was hat er gesagt?«

»Er hat gesagt: ›Sollen wir jetzt diesen Scheißgig hinter uns bringen, oder willst du sie erst ficken?‹ Es war grauenhaft.«

»Was hat Ethan geantwortet?«

»Er hat sich bei mir entschuldigt und gewartet, bis Tyrone und seine Jungs wieder weg waren, dann hat er meine Hand genommen, auf eine ganz nette Art. Er hat so komische Andeutungen gemacht … Warte, ich versuche, mich genau zu erinnern …«

»Lass dir Zeit.«

»Er hat gesagt: ›Ich werde bald sterben, Misty, das weiß ich. Aber das ist in Ordnung. Mein Werk ist beinahe vollbracht.‹ Oder so ähnlich.«

»Wahnsinn! Und was hast du geantwortet?«

»Ich war total perplex. Mein einziger Gedanke war: Hat er das gesagt? Hat er das tatsächlich gesagt? Wir konnten bereits Vula Plenty auf der Bühne hören. Sie hat die Menge in Stimmung gebracht, die begeistert Ethans Namen grölte. Ich konnte mir gut vorstellen, wie aufregend und gleichzeitig erschreckend es sein musste, da rauszugehen und sich dieser irrsinnigen Anbeterei zu stellen. Dann wurde er auf die Bühne gerufen, und er … o Gott …«

»Was, Misty?«

»Er hat mich geküsst. Ganz sanft. Mitten auf die Stirn. Es war schön. Anschließend ist er barfuß die Stufen hinaufgerannt, und ich bin um die Bühne herum nach vorn gegangen und habe mich mit Vince getroffen.«

»Wir haben uns zusammen den Auftritt angesehen«, ergänzte Caine.

»Und wir haben getanzt, stimmt’s, Vince? Es war so schön! Und dann, als es passiert ist … als er diesen verhängnisvollen Song spielen wollte, da habe ich es gespürt. Ein Brennen, genau an der Stelle, auf die er mich geküsst hat. Ich kann es jetzt noch fühlen. Seht ihr irgendwo ein Mal auf meiner Stirn?«

Shanti schüttelte den Kopf. »Nein. Höchstens eine leichte Rötung.«

Tränen strömten wie Perlenschnüre über Mistys schönes Gesicht.

Shanti stand auf. »Ich hole mir schnell noch einen Kaffee und erledige ein paar Anrufe. Ihr könnt unterdessen in Ruhe frühstücken, und dann treffen Caine und ich uns mit dem liebenswerten Tyrone Flynn. Danke für das Gespräch, Misty. Du ahnst nicht, wie nützlich das für uns sein kann. Ich brauche dich vielleicht noch für eine offizielle Aussage, wenn das für dich in Ordnung ist.«

»Klar.«

»Ach ja, du könntest etwas für mich tun – geh noch mal in dich und versuch, dich erneut genauestens an deine Begegnung mit Ethan zu erinnern. Jedes noch so kleine Detail könnte ausschlaggebend sein.«

»Okay, Shanti. Ich gebe dir Bescheid, sollte mir noch etwas einfallen. Ich bin echt froh, dass du mit Vince zusammenarbeitest. Er ist ein ganz besonderer Mann – das weißt du ja sicher. Aber auch du bist echt großartig.«

Shanti verließ das Hundred Monkeys Café und fand ein halbwegs ruhiges Plätzchen neben einem riesigen Wegweiser, der in Richtung verschiedener bizarrer, nicht existenter Zielorte deutete: Hoffnung, Höllenregion, Tal Der Gesundheit, Schicksal und andere. Von hier aus rief sie Benno an.

»Ich habe keine Ahnung, was Dunster gestern Abend gegessen hat, aber ich möchte auf keinen Fall noch einmal im Umkreis von einer Meile neben ihm schlafen.«

»Ich glaube, es war ein Ziegencurry, Chefin.«

Shanti schüttelte sich.

»Was hast du für mich, Benno?«

»Nun, jede Menge arrogante Agenten, die mich anschreien, weil wir die Pyramid Stage abgesperrt haben.«

»Sag ihnen, sie haben Pech gehabt, aber formuliere es höflich.«

»Ich bin immer höflich, Chefin.«

Shanti legte auf und rief Dawn Knightly an, die ihr bestätigte, was sie bereits wussten: dass Ethan Flynn am Mittwoch, dem 26. Juni, um 21:44 Uhr von einen oder mehreren unbekannten Personen ermordet worden war. Als Todesursache galt ein Stromschlag von seiner Gitarre, Excalibur, aufgrund des manipulierten Verstärkers. Die fatalen Umstände waren begünstigt worden durch die Tatsache, dass der Verstorbene zuvor barfuß durch eine leitende Flüssigkeit gegangen war.

»Du meinst Wasser?«, fragte Shanti und spitzte die Ohren, um Dawn trotz des Lärms der vielen Menschen um sie herum zu verstehen.

»Konkret gehe ich davon aus, dass es sich um Wasser mit einer kleinen Menge an Haushaltsreiniger handelt – vermutlich Spülmittel.«

»Was hat das zu bedeuten, Dawn?«

»Wir haben die Tests noch nicht abgeschlossen, aber ich würde sagen, dass die Viskosität des Spülmittels die Leitfähigkeit des Wassers zusätzlich erhöht hat. So oder so – hier wusste jemand ganz genau, was er tut.«

»Das ist höchst interessant. Was hast du jetzt vor, Dawn?«

»Im Augenblick bin ich mit dem Van unterwegs. Wir fahren zu dem Bauernhaus in Kilton, in dem Ethan Flynn abgestiegen war. Wir wollen uns sein Schlafzimmer vornehmen.«

»Caine und ich sind mit seinem Bruder Tyrone verabredet. Er wohnt ebenfalls dort.«

»Dann sehen wir uns da. Ach, Shanti, noch eine wichtige Frage …«

Aber Shanti legte auf, bevor Dawn weitersprechen konnte, und wählte die Nummer ihrer Mutter. Sie erwischte ihre Mum und Paul, als sie gerade zur Schule fahren wollten. Die beiden hatten den Vorfall in den Nachrichten gesehen, und Shanti konnte es sich nicht verkneifen, ein bisschen damit zu prahlen, mit welchen Stars sie es zu tun hatte. »Wahrscheinlich muss ich auch noch Sista Tremble befragen«, erklärte sie lässig. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass zu Hause alles in Ordnung war, schlenderte sie zurück zum Hundred Monkeys Café, wo Caine und Misty noch beim Frühstück saßen. Heiliger Strohsack! Nahmen die ihre Nahrung via Osmose auf?

Außer Sichtweite blieb sie stehen und sah den beiden beim Essen zu. Sie lächelten einander voller Herzlichkeit an und wechselten ab und an ein paar freundliche Worte. Misty sah aus wie eine hell lodernde Flamme. Caine wie ein Stück Kohle.

Die achtsame Art und Weise, mit der Caine seine Nahrung zu sich nahm, ließ Shanti daran denken, wie die Truppe aus Yeovil in der Kantine das Essen in sich hineinschlang. Wie Labradore, dachte sie. Munter scherzend schlugen sie sich die Mägen voll. Hätte man sie hinterher gefragt, was sie eigentlich gegessen hatten, hätte das vermutlich kaum jemand gewusst. Und sie war genauso. Fast jeden Abend aß sie mit Mum vor dem Fernseher, und um ehrlich zu sein, würde es ihnen wahrscheinlich nicht einmal auffallen, wenn sie Pappe in sich hineinstopften.

Als sie beobachtete, wie sich Caine bedächtig einen halben Löffel voll Joghurt in den Mund schob, war sie zu neunundneunzig Prozent genervt. Das noch verbliebene eine Prozent aber wollte ihn küssen, während er aß. Ihm den letzten Hanfsamen von den lächelnden Lippen lecken.

»Also gut, Caine, Sie werden wohl um eine Verpackung für die Reste bitten müssen, denn wir haben eine Befragung durchzuführen, und ich will im Dorf nach meinem Wagen sehen.«

Weiteres Wangenküssen und Tief-in-die-Augen-Blicken. Es war wirklich keine Überraschung, dass sie die beiden für Bettgenossen gehalten hatte!

»Ich suche mir irgendwo ein ruhiges Fleckchen und denke noch einmal über meine Begegnung mit Ethan nach. Mir ist klar, wie wichtig das ist«, sagte Misty.

»Da bin ich dir sehr dankbar, Misty. Ich möchte dich vor deinem Gig nicht zusätzlich unter Druck setzen, aber die Chance, dass du die Letzte warst, die mit ihm gesprochen hat, ist tatsächlich sehr groß. Wie ich schon sagte: Oft sind die scheinbar unbedeutenden Details die entscheidenden.«

»Ich werde mir alle Mühe geben, das verspreche ich.«

»Danke. Ich drücke dir die Daumen für deinen Auftritt. Kommen Sie, Caine, wir müssen los. Einen Mörder festnehmen.«