Kapitel neun
Sie gingen über den asphaltierten Gehweg am Kidzfield vorbei, wo sich dreckverkrustete, lockige Kleinkinder, von denen viele die Gesichter wie Tiere geschminkt hatten, auf Piratenschiffen tummelten.
Warum zum Teufel konnte sie keinen normalen Job haben, der es ihr ermöglichte, mehr Zeit mit Paul zu verbringen? Tränen stiegen in ihre Augen, weshalb sie schnell an etwas anderes dachte. Sie war müde, das war alles.
Endlich erreichten sie den Zaun des Festivalgeländes und zeigten ihre Dienstmarken, bevor sie die Auffahrt hinunter ins Dorf gingen. Hier schlug ihnen der Geruch von Geld entgegen. Es gab elegante Architektenvillen mit Balkonen, die das Festivalgelände überblickten. Auf diesen Balkonen saßen reiche Londoner mit kurzen Hosen, Hawaiihemden und Designer-Sonnenbrillen und schlürften Bollinger. Zweifelsohne die Typen, die bis spät in die Nacht grillten und dazu Coldplay hörten, während die, die den Lärm nicht vertragen konnten, ihre Anwesen gegen gigantische Summen während der Festivalzeit vermieteten.
Andere Teile von Kilton waren traditioneller: Stein-Cottages, vor denen alte Leute ihre Gärten pflegten, taub gegenüber dem unablässigen Getöse.
Der Saab parkte noch genau an der Stelle, wo sie ihn stehen gelassen hatte. Erleichtert stellte sie fest, dass jemand einen Zettel hinter den Scheibenwischer geklemmt hatte, auf dem stand, dass der Parkplatz von der Polizei genehmigt sei.
Die Straßennamen in Somerset gefielen Shanti: Neat Lane – die schmale Straße war in der Tat sehr gepflegt – und Bread Street, in der es jedoch nicht nach Brot duftete. An der Abzweigung zum Totterdown Hill hatte sich eine Traube von Fotografen und Medienfuzzis hinter einer Polizeiabsperrung versammelt.
»Haben Sie etwas für uns, DI Caine?«, tönte es ihnen entgegen.
»Stimmt das mit den Stigmata?«
»Gehen Sie immer noch von einem Unfall aus, Inspector Joyce?«
»Sie kennen das Prozedere, meine Herrschaften – wir werden in Kürze ein offizielles Statement abgeben.«
Eine halbe Meile die Straße hinauf entdeckten sie den Van der SOCO vor einem Bauernhaus. Dawn Knightly pfiff lautstark zwei Constables zusammen.
»Was ist los, Dawn?«, fragte Shanti.
»Die beiden Trottel haben … Ach, erzählen Sie es ihr doch selbst.«
»Es tut mir leid, Ma’am, wir haben lediglich Anweisungen befolgt. Man hat uns aufgetragen, Tyrone Flynn im Auge zu behalten, und genau das haben wir getan. Dann ist ein weißer Transit mit zwei bulligen Kerlen erschienen – Mitglieder der Familie Flynn, Ethans Onkel, wie Tyrone uns bestätigte.«
»Was wollten sie?«
Die Uniformierten ließen die Köpfe hängen.
»Sie sind gekommen, um Ethans Sachen abzuholen«, murmelte der eine. »Gitarren, Klamotten und so. Sie haben gesagt, Queenie Flynn wolle, dass sie alles nach Hause bringen.«
»Nur damit ich das richtig verstehe«, sagte Shanti. »Sie haben diesen beiden Schlägertypen erlaubt, einen Ford Transit mit den Sachen aus Ethans Zimmer zu beladen, unter denen sich womöglich zahlreiche Hinweise oder Beweisstücke befanden?«
»Es kommt noch schlimmer«, blaffte Dawn. »Anschließend hat die Vermieterin, eine gewisse Primrose Vowles, zusammen mit Meister Proper den ganzen Raum gründlich gereinigt, hat Staub gesaugt, das Bett frisch bezogen – das volle Programm. Sie hat sogar den Fußboden desinfiziert.«
»Allmächtiger«, stöhnte Shanti.
»Wir haben ein paar Fingerabdrücke gefunden, aber wenn es irgendeinen wichtigen Hinweis gab, ist er weg.«
»Und jetzt?«, wollte Shanti wissen.
»Ich denke, jetzt fahren wir zum Anwesen der Flynns und nehmen uns die Sachen vor, die die Jungs abgeholt haben. Allerdings gehe ich davon aus, dass das eine reine Zeitverschwendung ist.«
Caine war ein Stück die Straße entlanggeschlendert und betrachtete jetzt den Hof. Die Unworthy Farm bestand aus einem typischen elisabethanischen Bauernhaus mit einem flachen Dach, das an eine Schiebermütze erinnerte. Dicke Eichenbalken stützten das Gemäuer, das über die Jahrhunderte krumm und schief geworden war, auch die Fenster waren in hanebüchenen Winkeln eingesetzt.
»Du sagtest, du willst mich etwas Wichtiges fragen, Dawn. Soll ich Caine holen?«
Dawn warf ihr einen verschwörerischen Blick zu und fasste sie beim Arm. »Nein. Das ist nur für deine Ohren bestimmt.«
»Klingt spannend.«
Sie gingen zur Rückseite des Vans.
»Einfache Frage, Shanti – hast du die Nacht in Caines Zelt verbracht oder nicht?«
»Wie bitte? Wovon redest du? Ich dachte, du hättest irgendwelche neuen Hinweise.«
»Ist schon okay, ich werde es ganz bestimmt nicht weitersagen. Ich will bloß wissen, ob es eine intensive Erfahrung war.«
»Herrje, Dawn! Lass mich eines klarstellen: Ich bin nicht auf diese Art und Weise an Caine interessiert.«
»Und ihr habt nicht mal ein klitzekleines bisschen gekuschelt?«
»Ich habe bei Dunster und Benno geschlafen.«
»Wow, stille Wasser sind tief.«
»Richtig. Ich sage dir etwas, Dawn: Verbring du doch die Nacht in DI Caines Zelt, wenn du dich so für ihn interessierst. Ich für meinen Teil werde mir allerdings etwas Komfortableres suchen.«
»Oh, ich bin verheiratet, Shanti, in guten wie in schlechten Zeiten. Überwiegend schlecht, leider. Aber du … du bist alleinstehend, und ihr zwei seid so süß zusammen. Glaub mir: Ich habe eine Antenne dafür.«
Kopfschüttelnd gesellte sich Shanti zu Caine unter das rosenumrankte Vordach.
»Was ist los, Shanti?«, erkundigte er sich. »Sie sehen so verwirrt aus.«
»Nichts. Alles in Ordnung. Ich kann es nur nicht fassen, mit was für Amateuren ich zusammenarbeiten muss.«
Begleitet von einem lauten Hupen wendete Dawn den Van in drei Zügen und fuhr davon, eine Staubwolke hinter sich herziehend.
»Wollen Sie jetzt läuten, Caine, oder sollen wir die Befragung durch die zehn Zentimeter dicke Eichentür führen?«
Er zog an einer Kette neben der Tür, die mit einer Messingglocke verbunden war.
Niemand öffnete. Er läutete erneut, doch im Haus blieb alles still. Das Einzige, was sie hörten, war der wummernde Lärm des Festivals in der Ferne.
»Vielleicht ist die Tür nicht abgesperrt«, sagte Shanti.
»Warten wir noch einen Augenblick, Shanti. Wir sind ohnehin etwas zu früh dran. Wenn es für Sie in Ordnung ist, würde ich mich gern ein bisschen umsehen. Nur um mich zu orientieren.«
Er trat unter dem Vordach hervor und ging zur Seite des Bauernhauses. Shanti folgte ihm. Der Hof machte einen leicht vernachlässigten Eindruck. Ein paar Hühner pickten zwischen wucherndem Wiesenkerbel, Kamille, Brennnesseln und ausrangierten landwirtschaftlichen Geräten nach Körnern, Würmern und Insekten. Ein alter Kleintransporter, die Achse auf Backsteine gestützt, rostete vor sich hin; in einem unkrautüberwucherten Gemüsebeet lagen, sehr zu Shantis Entsetzen, mehrere tote Krähen, als wollten sie ihre noch lebenden Kumpel warnen.
In dem großen Hof hinter dem Bauernhaus stand ein weiß verputzter Fertigbungalow, der einen starken Kontrast zu dem elisabethanischen Haus bildete. Außerdem gab es eine Reihe alter Scheunen und Nebengebäude, darunter einen baufälligen Melkschuppen mit einem Schild an der Tür, auf dem Unworthy Ices stand. Caine spähte durch das kleine Fenster und sah eine professionelle Eismaschine, einen Stapel Tupperware-Boxen auf mehreren Stahltischen und eine Reihe altmodischer Gefriertruhen auf dem Steinboden stehen.
In einer großen, offenen Scheune stapelte ein blond gelockter junger Mann in einem weißen Arbeitsoverall Heuballen. Caine wollte gerade zu ihm gehen, als oben an der Rückseite des Hauses ein Fenster aufgestoßen wurde und eine beunruhigte Stimme rief: »Hallo, kann ich Ihnen helfen?«
Sie schauten auf in das Gesicht einer Frau mit schiefen Zähnen und wirrem grauem Haar.
»Entschuldigen Sie die Störung«, sagte Caine. »Wir haben geläutet, aber es hat niemand geöffnet.«
»Sie sind nicht von der Presse?«
»Polizei.«
»Ach du liebe Güte. Nicht schon wieder! Nun, ich komme wohl besser mal runter. Ich lasse Sie ins Haus«, sagte sie und schloss das Fenster.
Die beunruhigte Frau, die ihnen öffnete, war spindeldürr. Bekleidet mit einem geblümten Kittelkleid, zupfte sie nervös an einem Strauß gelber Ringelblumen, den sie in ihren knochigen Händen hielt. Doch es waren ihre Zähne, die sie verunstalteten – jeder Zahn wuchs in eine andere Richtung.
»Primrose Vowles? Wir sind DI Joyce und DI Caine.«
»Ach du lieber Himmel! Nicht noch weitere schlimme Nachrichten! Es ist entsetzlich. Die ganze Sache ist ein Schock.«
»Im wahrsten Sinne des Wortes, Mrs. Vowles. Entschuldigen Sie die Störung, aber wir leiten die Ermittlungen im Fall Ethan Flynn.«
»Mein Mann und ich sind zutiefst erschüttert. Wir mochten ihn sehr gern. Nur zwischen uns und der Türschwelle: Diese Musikszene ist ein grauenhaftes Geschäft.«
»Das können wir voll und ganz nachvollziehen. Wir sind übrigens hier, weil wir mit Ethans Bruder Tyrone reden möchten.«
»Wie ich heute Morgen schon zu Ihren Kollegen sagte: Ich weiß, dass Sie nur Ihre Arbeit machen, aber wir müssen an unsere Gäste denken. Ich hoffe, Sie verstehen das.«
»Wir werden so diskret wie möglich vorgehen«, versicherte ihr Caine.
Sie trat unter das Vordach und zog die Haustür halb hinter sich zu, dann sagte sie mit gesenkter Stimme: »Die Sache ist die: Wir haben an einige sehr berühmte Leute vermietet – echte Stars. Und die wissen ihre Privatsphäre zu schätzen. Gestern Nacht hat Vowles – das ist mein Mann – zwei Paparazzi ertappt, die ihre Nasen gegen das Küchenfenster drückten. Er hat den Hund auf sie gehetzt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis jemand das Ganze bei TripAdvisor einstellt, und was denken Sie, wird dann hier los sein? Wie dem auch sei: Treten Sie ein. Nichts zu danken, gern geschehen.«
Sie hielt ihnen die Tür auf, den Blick auf ihre Füße gesenkt, aber Shanti dachte gar nicht daran, die Schuhe auszuziehen. Drinnen sah es genauso aus wie draußen – die Einrichtung verwittert wie eine alte Galeone –, und trotz des warmen Juni-Sonnenscheins schien die Temperatur um einige Grad zu sinken. Die Steinplatten im Flur waren mit Sicherheit eiskalt.
Sobald sie eingetreten waren, schlug Mrs. Vowles einen lauten, munteren Ton an.
»Mr. Flynn ist mit einem weiteren Gast im Esszimmer. Wenn Sie bitte mit durchkommen? Ich nehme an, er erwartet Sie bereits.«
Das Bauernhaus war für eine kleinwüchsigere Generation erbaut worden, was Caine zwang, bei jeder Tür und jedem Durchgang den Kopf einzuziehen. Sie betraten eine riesige Küche mit niedriger Decke, in der es merklich wärmer war als im Flur. Neben einem angeschlagenen, cremefarbenen Aga-Herd aus Gusseisen stand ein abgenutzter Sessel mit einer Mulde in der Mitte, die ganz offensichtlich von einem Hund stammte.
»Wir sind noch immer ein bisschen zu früh dran, Mrs. Vowles. Macht es Ihnen etwas aus, wenn wir deshalb zunächst Ihnen ein paar Fragen stellen?«, erkundigte sich Caine mit sanfter Stimme.
Die Vermieterin schloss fest die Küchentür.
»Bei allem Respekt, aber wir haben Ihren Kollegen bereits alles mitgeteilt, was wir wissen.«
»Noch einmal: Ich bedaure, dass wir Sie damit behelligen müssen, aber Sie und Ihr Mann zählen womöglich zu den Letzten, die mit Ethan vor seinem Auftritt gesprochen haben.«
»Oh, was für ein furchtbarer Gedanke! Bei der Vorstellung wird es mir ganz kalt. Ich setze wohl lieber mal den Kessel auf.« Sie hob einen Deckel vom Ofen und stellte den großen Kessel auf die Öffnung. »Setzen Sie sich doch.« Sie deutete auf einen zerschrammten Holztisch mit mehreren rustikalen Stühlen.
»Für mich keinen Tee, danke«, lehnte Shanti ab. »Sie haben Ihren Mann erwähnt …«
»Vowles.«
»Wie heißt er mit Vornamen?«
»Nur Vowles.«
»Ist er hier?«
»Nein, er ist unterwegs, aber zum Abendessen ist er bestimmt wieder zu Hause.«
»Wir haben jemanden in einer der Scheunen arbeiten sehen – einen jungen Mann mit blonden Locken. Ist das Ihr Sohn?«
»Einen jungen Mann? Ach so, Sie meinen Gav. Gavin Blackmore. Landarbeiter. Er sagt nicht viel, aber er kann kräftig zupacken. Wir haben zwar einen Sohn, aber Sie wissen ja, wie die so sind in dem Alter. Es gibt nur zwei Gründe für Seth, das Bett zu verlassen: das Festival und Fußball.«
»Dann wird der Hof also noch bewirtschaftet?«, wollte Shanti wissen.
»Bewirtschaftet? Selbstverständlich. Wir haben nie aufgehört zu arbeiten. Nur zwischen uns und dem Aga: Heutzutage ist das eine undankbare Aufgabe. Hätten wir nicht das Bed & Breakfast, wüsste ich nicht, was wir tun sollten. Die einzigen Leute, die in der Gegend riesige Gewinne einfahren, sind unsere Nachbarn von der Worthy Farm mit ihrer preisgekrönten Herde und dem Festival. Wahrscheinlich wissen die schon gar nicht mehr, was sie mit all dem Geld anfangen sollen.«
»Aber ist das Festival denn nicht auch für Sie von Vorteil?«
»Das lässt sich nicht leugnen. Über die Jahre waren sie alle bei uns zu Gast: Tom Jones hat genau an dem Platz sein Frühstücksei gegessen – weich gekocht, wenn ich mich richtig erinnere –, an dem Sie jetzt sitzen. Einmal bin ich im Bad mit diesem Alice Cooper zusammengestoßen, der vergessen hatte, abzusperren, und dann war da noch Amy Winehouse! Diese Woche hat sich Sista Tremble eingemietet … lauter internationale Megastars. Das Haus quillt förmlich über davon.«
»Was können Sie uns über Ethan Flynn sagen?«
»Ein richtiger Gentleman. Liebenswert. Hat sogar die Toilette sauber gemacht, wenn er sie benutzt hatte. Wir haben uns auf ihn gefreut, und das ist die Wahrheit. Ich darf gar nicht daran denken, was ihm zugestoßen ist. Schrecklich, einfach entsetzlich. Was hat Vowles gestern Abend noch gleich gesagt, als wir davon erfahren haben? ›Es ist eine Schande, dass er dran glauben musste und nicht sein Bruder‹, aber ich habe sofort geschimpft: ›So etwas sagt man nicht, Vowles. Nicht mal im Spaß.‹«
»Macht Tyrone Schwierigkeiten?«
Mrs. Vowles blickte sich verstohlen um, ihre schiefen Zähne glänzten im gelben Licht der Deckenlampe.
»Dieses ständige Kommen und Gehen! Immer sind irgendwelche Onkel und Cousins im Haus. Rein, raus, rein, raus. Manche von seinen Bodyguards rauchen hier drinnen, und das können wir nicht dulden. Ein altes Haus wie dieses geht in Flammen auf wie ein trockener Heuhaufen. Ich darf gar nicht daran denken, in welchem Zustand er sein Zimmer hinterlässt … Ich habe weiß Gott Besseres zu tun, als seine Unterhosen aufzusammeln. Aber natürlich wagt niemand, etwas zu sagen, denn er ist ein wenig …«
»Ein wenig …?«
»… aufbrausend.«
»Im Großen und Ganzen sind die Dorfbewohner aber glücklich mit dem Festival?«, fragte Shanti. »Immerhin ist es ein gewaltiger Eingriff in den Alltag – all die Leute, Musik fast rund um die Uhr …«
»›Glücklich‹ würde ich das nicht unbedingt nennen. Vor dem Festival gab es keine Kriminalität in Kilton. Hier wurde nicht einmal ein Apfel geklaut. Und sehen Sie nur, was jetzt passiert ist …«
»Verstehe. Zum Glück kommt so etwas ausgesprochen selten vor.«
»Das will ich hoffen. Wenn das alles ist, bitte ich Sie, mich jetzt zu entschuldigen. Ich habe noch jede Menge zu tun.«
Sie öffnete die Küchentür und scheuchte sie hinaus in den kalten Korridor, dann rief sie mit hoher, freudiger Stimme: »Da wären wir! Sie finden Mr. Flynn im Esszimmer am Ende des Flurs. Geben Sie auf Ihre Köpfe Acht, die Decken sind niedrig. Wie ich schon sagte: Ich nehme an, Sie werden bereits erwartet.«
Sie streckte ihre schmale Hand aus. Shanti nahm sie und stellte fest, dass sie sich so kalt anfühlte wie Tonerde.
Zwei schwergewichtige Männer bewachten wie mächtige Eichenstämme die Esszimmertür.
»Suchen Sie jemanden?«
»Wir sind mit Tyrone Flynn verabredet.«
»FBI, richtig?«
»Ja, wir sind von der Polizei.«
»Wir würden gern Ihre Marken sehen.«
»Wollen Sie uns unterstellen, dass wir gar nicht von der Polizei sind?«, blaffte Shanti.
»Die Leute reden viel, wenn der Tag lang ist. Es ist unser Job, Tyrone zu bewachen. Sie wissen, was mit Ethan passiert ist – man kann gar nicht vorsichtig genug sein.«
Shanti und Caine zeigten ihre Dienstmarken, und einer der Riesen klopfte und steckte seinen Kopf ins Esszimmer. Es folgte ein kurzes, gedämpftes Gespräch, dann sagte der Riese: »Tyrone ist nicht allein, aber er sagt, Sie können eintreten und zusehen.«
Er hielt ihnen die Tür auf, und die beiden DIs duckten sich unter seinem wuchtigen Arm hindurch. Das Esszimmer war groß und niedrig und hatte einen breiten Kamin, in dem jedoch kein Feuer brannte. In der Mitte stand ein mächtiger Eichentisch in der Größe einer Flugzeuglandebahn. An den Wänden hingen die Köpfe verschiedener großer Säugetiere. Ihre kleineren Verwandten standen liebevoll ausgestopft in Glasvitrinen auf diversen, auf Hochglanz polierten Möbelstücken. In der Luft hing der nebenhöhlenreizende Geruch nach Ruß, Möbelpolitur und altem Gebäude … und gleichzeitig ein seltsames Surren wie der Flügelschlag einer übereifrigen Hornisse.
Am Kopf der Tafel saß Tyrone Flynn, der offensichtlich Schmerzen litt. Er beugte den rasierten Kopf, an dem sich eine junge Asiatin mit Einweghandschuhen zu schaffen machte, ein Gerät in der Hand, mit dem sie in seinen Schädel zu bohren schien.
»Tyrone Flynn?«
»Erwischt.«
»Mein Kollege und ich sind von der Polizei in Yeovil. Wir sind die Ermittler im Todesfall Ethan Flynn, Ihres Bruders. Unser Beileid, übrigens, und danke, dass Sie uns Ihre kostbare Zeit zur Verfügung stellen.«
»Sie ist gleich fertig – Ahhh! Verdammt!«
Shanti und Caine zogen zwei Eichenstühle unter der Esszimmertafel hervor, und Shanti stellte fest, dass die Frau eine Tattoo-Künstlerin war, die die umfangreiche Sammlung auf Tyrones Haut erweiterte. Die aktuelle Tätowierung fand ihren Platz ganz oben in seinem Nacken, unmittelbar unter dem rechten Ohr.
»Das tut scheißweh!«
»Soll ich aufhören, Tyrone?«
»Nein, ich mag das. Mach deinen Job zu Ende.«
»Mr. Flynn, wir dürfen uns nicht mit Ihnen unterhalten, solange …«
»Ich hab doch gesagt, sie ist gleich fertig. Setzen Sie sich einfach hin und sehen Sie zu, okay? Scheiße!«
Sie nahmen schweigend Platz und beobachteten, wie sich Tyrones mit zahlreichen Piercings versehenes Gesicht in ekstatischer Qual verzog. Er trug ein weißes T-Shirt, das aussah, als würde es einem Kind gehören. Nach einem kurzen Augenblick wurde Shanti klar, dass nicht das T-Shirt zu klein, sondern der Körper darin zu groß war: die muskulösen Arme mit den kurz vor dem Platzen stehenden, hervortretenden Venen, der wuchtige Stiernacken und die Brusthälften, die aufgepumpt wirkten wie zwei Luftballons.
»So, das reicht. Schluss jetzt. Ich blute, sieh nur.«
Die Tattoo-Künstlerin tupfte seinen Nacken ab, aber Tyrone schob sie zur Seite. Sie fegte ihr Equipment in einen Koffer und verließ das Zimmer.
»Verflucht. Wussten Sie, dass man mehr Nerven an der Schädelbasis hat als in jedem anderen Teil seines Scheißkörpers?«
»Ich bin mir nicht sicher, ob das stimmt …«, wandte Caine zögernd ein.
»Nun, für mich stimmt das, und ich bin hier derjenige, der leidet.«
Sein mit Tinte verunziertes Gesicht wirkte ausgesprochen feindselig.
»PRIMROSE!«, brüllte er. »PRIMROSE! Ich brauche dringend noch ein Bier!«
Einen kurzen Moment später hastete Primrose Vowles ins Zimmer und hebelte eifrig den Deckel von einer Bierflasche. »Bitte sehr, Mr. Flynn«, zwitscherte sie. »Zum Wohl.«
Als sie weg war, setzte Tyrone die Flasche an die Lippen, trank mit großen, gierigen Schlucken, dann knallte er die leere Flasche auf den Tisch und funkelte Shanti an.
»Am besten, ich sage Ihnen gleich, dass ich die Cops nicht mag, genauso wenig wie die mich mögen. Also, wie kann ich Ihnen helfen, Constable?«
»Ich bin Detective Inspector, Mr. Flynn. Gestatten Sie, dass ich mir die Bemerkung erlaube, aber der Tod Ihres Zwillingsbruders scheint Sie nicht sonderlich zu schmerzen, oder täusche ich mich da?«
»Schmerzen? Was verstehen Sie schon von Schmerz? Sehen Sie sich das mal an … Na los!«
Er drehte seinen glänzenden Kahlkopf so, dass sie das blutende, blaue Tattoo betrachten konnten – ein einzelnes Wort in gotischen Lettern …
»Sie haben sich Ethans Namen auf den Kopf tätowieren lassen«, stellte Shanti fest.
»Auf meinen Kopf, auf mein Herz, auf meine verfluchten Eier.«
»Aber als er gestorben ist, sind Sie einfach weggegangen …«
»Richtig. Hören Sie, ich sage dies nur einmal: Als es passiert ist, habe ich gedacht, er würde wieder so eine Scheißshow abziehen. Noch so ein typisches Ethan-Drama – Affentheater. Ich hatte keine Ahnung, dass er tot ist, klar? Genauso wenig wie die hunderttausend Stigs vor der Bühne.«
Er stand von seinem Stuhl auf, nahm zwei schwer aussehende Hanteln vom Fußboden und begann mit seinem Workout. Jedes Mal, wenn er die Muskeln anspannte, traten die Adern in seinem baumstammdicken Nacken hervor wie kriechende Nacktschnecken.
»Der Name interessiert mich«, sagte Caine.
»Ach, Sie interessieren sich für den Namen? Für welchen verdammten Namen? Ethan? Der Name Ethan Flynn interessiert Sie?«
»Nein, der Name Stigma.«
»Schlagen Sie im Lexikon nach.«
»Ich kenne die Bedeutung, Mr. Flynn. Ich frage mich nur, wer diesen doch eher speziellen Namen für die Band ausgesucht hat und warum.«
»Tatsache ist, dass das auf meinem Mist gewachsen ist. Stigma war meine Idee. Die Flynns sind eine alte Zigeunerfamilie. Wir haben seit Generationen mit Vorurteilen und Rassismus zu kämpfen, und das in einem Ausmaß, das Sie sich gar nicht vorstellen können. Am Ende waren die meisten von uns gezwungen, von der Straße zu verschwinden und sesshaft zu werden. Trotzdem haben die Diskriminierungen nicht aufgehört – wir sind immer noch die ›Zigeuner‹, die ›Herumtreiber‹ oder ganz einfach ›das Pack‹. Hauptsächlich ist diese Stigmatisierung den Jungs in Blau zuzuschreiben.«
»Mir ist aufgefallen, dass Sie ein Vorstrafenregister haben, Mr. Flynn«, warf Shanti vorsichtig ein.
Tyrone ließ die Hanteln fallen, die mit einem dumpfen Poltern auf den Boden prallten und über die Steinplatten rollten.
»Sehen Sie, schon wieder.«
»Ich bringe lediglich eine Tatsache zur Sprache.«
»Hören Sie, man hat mich dazu erzogen, die Dinge auf meine Art und Weise zu regeln. Und wir regeln die Dinge nun mal mit den Fäusten, innerhalb der Gemeinschaft genau wie außerhalb. So ist das eben. Ihr Cops seid ja nicht da, wenn es um das Wohl meiner Familie geht.«
»Aus genau dem Grund sind wir jetzt bei Ihnen, Tyrone«, schaltete sich Caine freundlich dazwischen. »Ich habe Ihrer Mutter versprochen, dafür zu sorgen, dass Ethan Gerechtigkeit widerfährt.«
»Und deshalb beschuldigen Sie als Erstes mich.« Tyrones Stimme triefte vor Sarkasmus.
»Niemand wirft Ihnen irgendetwas vor, Mr. Flynn«, sagte Shanti. »Allerdings ist allgemein bekannt, dass Sie gewisse Differenzen mit Ethan hatten.«
»Ach, das meiste davon war Show. Und Ethan war auch kein Engel. Er hat einen auf heilig gemacht, dabei konnte er ein richtiger Bastard sein.«
»Können Sie uns ein Beispiel nennen?«
»Gestern zum Beispiel. Haben Sie gesehen, wie er für einen kurzen Moment die Welt angehalten und auf den Sonnenuntergang gedeutet hat? Alle fanden das magisch, aber ich sage Ihnen: Von dort, wo wir standen, konnten wir den Glastonbury Tor nicht mal sehen. Der ist nämlich direkt hinter der Bühne.«
»Und wie …?«
»Einer von den Jungs hat ihm ein Zeichen gegeben, als die Sonne genau an der richtigen Stelle stand. Daraufhin hat er diese Show abgezogen, hat die Menge zum Schweigen gebracht und dramatisch auf den Abendhimmel in seinem Rücken gedeutet, genau in dem Moment – was für ein Zufall! –, in dem ich mein Basssolo spielen wollte, an dem ich die letzten zwei Jahre gefeilt hatte. Da sehen Sie mal, was für ein toller Bruder er war.«
»Ich bin ein bisschen verwirrt«, gestand Caine. »Wenn Sie behaupten, ein Großteil der geschwisterlichen Rivalitäten war reine Show, was haben Sie wirklich für Ihren Bruder empfunden?«
»Ich habe ihn gehasst. Ich habe ihn immer schon gehasst. Ich habe ihn gehasst, seit wir Kinder waren, denn er war Mammys Liebling. In ihren Augen konnte er nichts falsch machen. Sie hat ihn tatsächlich für eine Art Heiligen oder sonst was gehalten. Außerdem habe ich es gehasst, wie er mich bevormundet hat.«
»Können Sie das näher erläutern?«
»Ach, wissen Sie, die Leute haben ihn für ein Riesentalent gehalten, mich dagegen lediglich für einen Mitläufer. Doch wie ich schon sagte: Ethan hatte noch eine andere Seite, die niemand gesehen hat, nicht mal Mam. Ständig hat er mich manipuliert, auf eine ganz subtile Art und Weise. Ja, Ethan war ein echter Tyrann.«
»Dann dürften Sie nicht allzu überrascht sein, wenn die Leute anfangen, zwei und zwei zusammenzuzählen und …«
»Und was? Es ist kein Verbrechen, einander zu hassen, oder? Ich kenne kein Gesetz, das vorschreibt, man müsse seinen Bruder lieben.«
»Um ehrlich zu sein, wirken Sie sehr hin- und hergerissen«, bemerkte Shanti. »Ich meine, immerhin haben Sie sich gerade seinen Namen auf den Schädel tätowieren lassen.«
Tyrone ließ sich wieder auf seinen Stuhl fallen und massierte seine tätowierten Fäuste.
»Ethan war mein Blutsverwandter. Wir haben uns eine Gebärmutter geteilt.«
»Das ist mir bewusst. Wer also hätte ihm Ihrer Meinung nach Schaden zufügen wollen? Jemand aus der Familie?«
»Ja klar, es muss ein Flynn sein.«
»Wusste Ethan, dass er sterben würde?«, fragte Caine.
»Wie bitte?«
»Hatte er eine Art Vorahnung, seinen Tod betreffend? Hat er Ihnen gegenüber jemals etwas in der Art erwähnt?«
»Klingt nach ihm, aber eins ist doch klar: Ich werde auch sterben. Und Sie ebenfalls, Herr Wachtmeister. Unheimlich, nicht wahr?«
»Versuchen wir es anders«, sagte Shanti. »Mr. Flynn, können Sie mir erzählen, was Ethan vor der Show gemacht hat?«
»Wie ich schon sagte: Wir waren nicht gerade Busenfreunde. Außerdem erwartet meine Frau unser Kind, deshalb habe ich gerade andere Dinge im Kopf. Aber ich weiß, dass er den Großteil des Vormittags in Glastonbury verbracht hat.«
»Das hilft uns sehr. Wissen Sie, warum er dort war?«, hakte Caine geduldig nach.
»Er hatte es total mit diesem spirituellen Hippie-Schwachsinn. Ist gern zu einer Wahrsagerin in der Stadt gegangen, die ihm die Karten gelegt hat.«
»Das ist interessant. Kennen Sie den Namen der Dame?«
Tyrone nickte. »Den kenne ich tatsächlich. Sie nennt sich Medusa Cole.«
»Und ihr Laden heißt …?«
»Feenfurz. Trolltitte. Woher zum Teufel soll ich das wissen?«
»Waren die beiden eng befreundet?«, erkundigte sich Shanti.
»Sie meinen, ob er sie gevögelt hat? Keine Ahnung, aber er hielt sie für weise, deshalb hat er ihr auch Unsummen an Kohle in den Rachen geschmissen. Ach ja, sie hat übrigens diese bescheuerten Kostüme gemacht.«
»Kostüme?«
»Die Kostüme von den Tänzern. Tarotkarten-Charaktere.«
»Und das hat Ihnen nicht gefallen?«
»Hören Sie, ich bin ein alter Rock ’n’ Roller. Ich dachte immer, die Fans wollen echte, ehrliche Rockmusik. Dieses mystische Zeug war Ethans Ding.«
»Sie ›dachten‹? Haben Sie Ihre Meinung geändert?«
»Es ist kein Geheimnis, dass ich zwei Rockalben auf den Markt gebracht habe, nachdem wir uns vor sieben Jahren getrennt hatten. Formulieren wir es mal so: Beide sind nicht so gelaufen, wie ich es mir erhofft hatte. Ethan hat unterdessen fünf von diesen verträumten, spirituellen Alben herausgebracht, darunter auch Heartstrings, das … na ja, Sie wissen schon.«
»Heartstrings hat mehrfach Platin geholt«, ergänzte Caine.
»Keine Ahnung. Vermutlich. Hören Sie, mir platzt der Kopf. Ich muss mich unbedingt etwas hinlegen.«
»Selbstverständlich. Eine letzte Frage noch: War Ihr Bruder zum Zeitpunkt seines Todes mit jemandem liiert?«, wollte Shanti wissen.
»Er hat immer irgendwen gevögelt.«
»Aber wer war seine letzte Partnerin?«
»Was denken Sie eigentlich? Ich bin doch nicht sein persönlicher Assistent! Es gab Mädchen und es gab Jungs und alles, was dazwischenliegt.«
»Verzeihung, ich kann Ihnen nicht ganz folgen.«
»Er hat sich selbst als pansexuell bezeichnet. So, Befragung vorbei. Sie finden selbst hinaus?«
»Ja, das war’s fürs Erste, vielen Dank, aber es könnte sein, dass wir später noch weitere Fragen haben. Man hat uns mitgeteilt, dass Sie und Ihre Frau bei Ihrer Mutter Queenie in der Nähe von Frome leben. Allerdings würden wir es vorziehen, wenn Sie noch ein paar Tage hierbleiben könnten, falls es Ihnen nichts ausmacht«, sagte Shanti.
Tyrone deutete in einer Mischung aus Drohung und Amüsiertheit mit seinem fleischigen Zeigefinger auf sie.
»Nur damit eins klar ist: Ich gehe, wohin es mir verdammt noch mal gefällt, und zwar wann immer ich möchte. Kapiert?«
»Das ist Ihre Entscheidung, Mr. Flynn, doch mit Sicherheit ist es für Sie um einiges leichter, wenn Sie mit uns kooperieren. So, und jetzt lassen wir Sie erst einmal in Frieden.«
»Frieden? Für die Flynns wird es niemals Frieden geben. Jungs! Diese zwei Amateure hier möchten gehen!«