Kapitel Drei
K opf voran prallte ich gegen den Kleiderschrank und verlor dabei nicht nur das Lebkuchenherz um meinen Hals, sondern auch das Gleichgewicht. Hart landete ich auf Händen und Knien, was auch Matts zweites Geschenk aus meinen Fingern beförderte.
»Juneau, du musst mir zuhören!« Die Worte der Wahrsagerin wurden beinah von dem nächsten Gong übertönt. »Du weiß noch zu wenig über deine Rolle. Wenn du dich unwissens unter die Menschen begibst, wird das schlimme Folgen haben. Du musst –« Ein weiterer Gong unterbrach ihre Worte und ich sah ungewollt auf. Anstatt wie ich einer leblosen Puppe gleich willenlos durch den Raum geschubst zu werden, saß die alte Lady noch immer auf ihrem Stuhl und hielt mit konzentrierter Miene die Glaskugel zwischen ihren Fingern. Das Pulsieren war inzwischen zu einem konstanten Leuchten geworden, das es mit einer 1000-Watt-Birne aufnehmen konnte.
»Drake! Sag doch auch mal was! Was glaubst du, wofür ich dich hierherbestellt habe?«
Okay, das war’s!
Dass sie offenbar glaubte, eine Verbindung zu einem leblosen Plüschtier zu besitzen, das mir erst vor zwei Stunden geschenkt worden war, sprengte die Grenzen meiner Toleranz. Sollte sie das dämliche Ding doch behalten. Ich würde es ohnehin nie wieder ansehen können, ohne an den heutigen Abend denken zu müssen. Und bei Gott! Es gab keinen Tag in meinem bisherigen Leben, den ich lieber aus meinen Erinnerungen löschen wollte als diesen hier.
Als das Beben allmählich abklang, ignorierte ich alles um mich herum und hievte mich so schnell ich konnte auf die Beine. Jeder Zentimeter meines Körpers pochte schmerzhaft, aber ich mobilisierte all meine Kaftreserven und sprintete in Richtung Vorhang. Zwar ähnelten meine Bewegungen denen eines betrunkenen Matrosen auf stürmischer See, dennoch gelang es mir, einen Großteil des Weges hinter mich zu bringen. Ich schaffte es sogar, dem Sekretär auszuweichen, der wie der Rest der Möbel durch den Raum tanzte, als würde hier die Realverfilmung von dem Disney-Klassiker »Die Schöne und das Biest« gedreht werden.
Mit dem nächsten Gongschlag veränderte sich das Licht im Zimmer. Aus dem sanften Kerzenschein wurde jenes grelle Leuchten, das mich bereits bei meiner Ankunft in diesem Zimmer geblendet hatte, und ich kniff die Lider zusammen.
»Drake!«, rief die Wahrsagerin grollend. »Jetzt reicht es aber, du unsäglicher Faulpelz! Tu endlich etwas! Juneau braucht dich!«
Dem Kampf-oder-Flucht-Modus unterjocht, der Adrenalin durch meine Adern pumpte, öffnete ich meine Lider, jedoch nur weit genug, um mich zu orientieren. Dabei erkannte ich, dass wenige Zentimeter über der Glaskugel ein kleiner Leuchtball schwebte, dessen Kern nicht größer war als ein Quarter und der trotzdem die Strahlkraft der Sonne besaß.
»Du musst keine Angst haben, Juneau.« Die alte Frau war inzwischen ebenfalls aufgestanden. »Das Licht wird dir nichts tun. Es ist deine Bestimmung. Dein Schicksal! Es wird dich leiten, wenn die Finsternis nach dir greift.«
Mein Mund öffnete sich für eine Erwiderung, doch stattdessen erklang ein lautstarkes Kreischen, das ich verzögert als mein eigenes identifizierte. Der Sci-Fi-mäßige Leuchtball schwebte geradewegs auf mich zu.
Panik explodierte in mir und ich taumelte blind zurück. Dabei stolperte ich über die am Boden liegenden Gegenstände und wäre beinah hingefallen.
Ich muss hier raus! Und zwar auf der Stelle!
Ohne meine Aufmerksamkeit von dem Leuchtball zu wenden, sah ich mich nach dem Ausgang um. Der schwarze Vorhang hing unweit von mir, jedoch war ich nicht die Einzige, die dieses Ziel anpeilte. Das Licht schoss zeitgleich mit mir darauf zu und wir wären zweifelsfrei kollidiert, hätte ich mich nicht kurz zuvor durch einen Hechtsprung in Sicherheit gebracht.
Was zum Henker …?
Wollte mich dieses hyperaktive Glühwürmchen auf Ecstasy etwa umbringen?
Die Antwort auf diese Frage konnte nur Ja lauten, da der Leuchtball knapp über meinen Kopf hinwegflog, ehe er in einer engen Schleife wendete, um erneut Kurs auf mich zu nehmen.
Sofort sprang ich auf die zitternden Beine – glücklicherweise blieben weitere Gongschläge aus – und jagte in Richtung Vorhang. Ich riss den schweren Stoff zur Seite und sprintete ungeachtet des Chaos, das die Erschütterungen im benachbarten Zimmer angerichtet hatten, los.
Leider erschwerte der drastische Wechsel der Lichtverhältnisse mein Vorankommen, sodass ich mich mehr blind als sehend durch den Verkaufsraum kämpfte. Meine Ankle Boots rutschten immer wieder auf dem nassen Boden aus, meine Knöchel knickten mehrfach um und ich war inzwischen so oft mit den Knien gegen irgendwelche Gegenstände gestoßen, dass ich es nicht mehr zählen konnte. Aber nichts davon spielte eine Rolle.
Zentimeter für Zentimeter arbeitete ich mich zwischen den umgestürzten Regalen, im Weg liegenden Kerzenständern und zerbrochenen Einmachgläsern hindurch, die sich in einem Meer aus knirschenden Scherben unter meinen Schuhsohlen erstreckten.
Eine gefühlte Ewigkeit dauerte die Prozedur, doch schließlich erreichte ich die Eingangstür – und zwar noch bevor der Leuchtball einen Weg auf diese Seite des Vorhangs gefunden hatte.
Ich erlaubte mir einen innerlichen Jubelschrei.
Ich hatte es geschafft! Ich hatte es wirklich geschafft! Ich würde hier nicht draufgehen und von einer Verrückten und ihrem Sci-Fi-Leuchtball umgebracht werden!
Meine Freude wurde von einer ordentlichen Portion Stolz angereichert, sodass ich selbstbewusst nach der Türklinge griff. Das Metall fühlte sich unter meinen erhitzten und zitternden Fingern einfach göttlich an.
Ich drückte die Klinke herunter und das Schloss öffnete sich. Die Glastür glitt einen Spaltbreit auf und ein Windstoß frischer Nachtluft drang zu mir vor. Erst jetzt bemerkte ich, wie stickig die Luft hier drinnen war.
Getrieben von der Aussicht, nur noch einen Schritt von meinem rettenden Ziel getrennt zu sein, zog ich das von einem schmalen Metallrahmen eingefasste Glas schwungvoll auf.
Doch nach zwei Zentimertern stoppte die Tür.
Fassungslosigkeit löschte meine Freude aus und hinterließ nichts als kalte Asche. »Was soll das?« Wie bessessen rüttelte ich an der Klinke, doch egal wie sehr ich mich anstrengte, die Tür ließ sich nicht weiter öffnen. »Nein! Nein! Nein! Das kann einfach nicht wahr sein!« In meinem Wahn brauchte ich ein paar Sekunden, um zu erkennen, dass ein umgefallenes Regal die Tür blockierte.
Ich sitze in der Falle!
Zeitgleich mit dieser Erkenntnis passierte der Leuchtball den Vorhang und flog in den Verkaufsraum. Meine Freudentränen schlugen um und ein Schluchzen drang mir über die Lippen. Doch ich weigerte mich, aufzugeben. Wenn ich schon sterben würde, dann kämpfend!
Zitternd drehte ich mich wieder zu der Eingangstür und rüttelte daran. Doch es war zwecklos – ebenso wie um Hilfe zu schreien. Abgesehen davon, dass meine Kommilitonen mich längst zu Hause vermuteten, dämpfte die Jahrmarktmusik, die selbst hier drinnen dumpf zu hören war, meine Rufe wie ein akkustisches Bermudadreieck.
Das Gefühl, in der Falle zu sitzen, floss wie Säure durch meine Adern und ließ mich trotz der Anstrengungen von innen heraus frieren. Als dann auch noch das Licht um mich herum stetig heller wurde, musste ich mir eingestehen, dass ich verloren hatte. Der Leuchtball lauerte bereits hinter mir.
Bibbernd drehte ich mich herum.
»Was willst du von mir?«, schrie ich das Licht an, während ein Teil von mir den Boden nach etwas absuchte, das ich als Waffe verwenden konnte. Doch in dem herrschenden Chaos war nichts auszumachen.
Wobei …
Moment, war das dort unten etwa …?
Drake?
Ich ignorierte die Frage, wie das kleine Plüschtier einen Weg auf diese Seite des Vorhangs gefunden hatte, und warf mich stattdessen zu Boden, um es aufzuheben. Da der Leuchtball nun wieder auf mich zuglitt, konnte ich jede »Waffe« gebrauchen.
Wieder auf den Beinen begab ich mich sogleich in Schlagposition. Früher hatte ich meinen Dad dafür gehasst, dass er mich regelmäßig zum gemeinsamen Baseballspielen im Garten genötigt hatte. Doch nun konnte ich ihm gar nicht oft genug dafür danken.
»Stop!«, rief die Wahrsagerin, die in dieser Sekunde den Vorhang zur Seite riss. »Du verstehst das falsch, Juneau! Wir wollen dir nichts tun! Wir wollen dir helfen! Du wurdest berufen!«
Ein schrilles Lachen bildete sich in meiner Kehle. Ich sollte berufen worden sein? Zu was? Als Ehrengast für ein satanistisches Opferritual? Dafür gab es sicherlich passendere Kandidaten. Donald Trump zum Beispiel.
Der Leuchtball, der meine kurzzeitige Unkonzentriertheit bemerkt hatte, nutzte diese sogleich aus und hielt mit rasender Geschwindigkeit auf mich zu.
Und dann geschahen mehrere Dinge auf einmal.
Der Leuchtball näherte sich mir in erschreckendem Tempo, die Wahrsagerin rief »Juneau! Bitte, du musst mir zuhören! Du sollst nicht gegen das Licht ankämpfen, du solltest es in dich aufnehmen!« und ich holte mit dem Plüschdrachen aus, als wäre ich Babe Ruth.
Aber ich war nun mal kein Profi-Baseballspieler und mein Schlag besaß nicht genug Power. Der Leuchtball durchdrang das Plüschtier, als wäre es nicht existent, und prallte anschließend mit einer derart ungeheuerlichen Wucht gegen mich, dass ich von den Beinen gerissen wurde.
Buchstäblich durch die Glastür des Ladens katapultiert, landete ich hart auf dem Kiesboden zwischen den Backsteinmauern und den Jahrmarktbuden. Sämtlicher Sauerstoff wurde mir aus der Lunge gepresst und ich schaffte es nicht mal, meine Arme vor mein Gesicht zu halten, um mich vor dem Glasscherbenregen zu schützen.
Jeder Zentimeter meines Körpers schmerzte auf bisher ungekannte Art, ich schmeckte Blut in meinem Mund, und ich war mir sicher, mir einige Knochen gebrochen zu haben. Dennoch verlieh mir der Abendwind, der kühl über meine nass geschwitzte und stellenweise blutende Haut strich, neue Energie. Ein weiteres – und hoffentlich an diesem Abend auch zum letzten – Mal kämpfte ich mich auf die zitternden Beine. Als mir dabei das Plüschtier aus den Fingern glitt, dachte ich gar nicht daran, mich danach zu bücken.
Kaum hatte ich mich wieder zwischen den Buden unter die Jahrmarktsbesucher gemischt, atmete ich erleichtert auf. Zwar hatte ich keine Ahnung, was das alles zu bedeuten hatte, oder welche Konsequenzen mich nun erwarten würden, da der Leuchtball spürbar in meiner Brust schlummerte. Aber in dieser Sekunde war ich am Leben und zwischen all den Menschen in Sicherheit.
Das musste aktuell genügen.
»June?« Eine vertraute Stimme drang an mein Ohr und ich zuckte zusammen, als hätte mich ein Peitschenhieb getroffen. Nur verzögert realisierte ich, dass der Klang viel zu dunkel war, um der Wahrsagerin zu gehören. »June, was machst du denn noch hier?« Matt tauchte vor mir auf, Christina und Nate Händchen haltend hinter sich. Ein dümmliches Grinsen lag auf seinen Lippen, seine grünen Augen wirkten glasig. Offenbar hatte Nate Wort gehalten und sein Bekannter am Getränkestand hatte meine Kommilitonen mit Alkohol versorgt.
»Was machst du hier?«, wiederholte Matt seine Frage, als ich nicht antwortete, und schlang wie selbstverständlich beide Arme um meine Taille. Ich besaß kaum noch genug Kraft, mich auf den Beinen zu halten, geschweige denn mich gegen seine Nähe zu wehren.
»Matt …«, sagte ich, brachte jedoch keinen weiteren Ton über die Lippen. Ein Teil von mir wollte schreien, kreischen und um sich schlagen. Gleichzeitig empfand ich jede noch so kleine Bewegung als Mammutaufgabe. Sprechen inbegriffen.
»Was ist, Babe?« Matts Grinsen wurde breiter und sein Mund näherte sich gefährlich dem meinen. »Verschlage ich dir die Sprache?«
Vermutlich glaubte Matt, sein Säuseln wäre verführerisch. Aber seine Aussprache klang durch den Alkohol verwaschen und der Gestank nach Bier verursachte mir Übelkeit.
»Ich war wirklich enttäuscht, als Christina sagte, dass du gegangen bist«, raunte Matt und kam mir dabei mit seinem Gesicht immer näher. »Ich hatte ja nicht einmal die Gelegenheit, dir einen Gute-Nacht-Kuss zu geben.«
Ein unangenehmer Schauder durchlief mich, gefolgt von einer Gänsehaut. Was hätte ich dafür gegeben, genug Kraft zu besitzen, Matt von mir zu stoßen. Stattdessen hing ich wie eine willenlose Puppe in seinen Armen und starrte ihn mit geöffnetem Mund an.
»Ich weiß, dass du auf mich stehst, Baby«, wisperte er und schwarze Punkte tanzten vor meinen Augen. »Christina hat es mir verraten. Deswegen habe ich dich zu diesem Date eingeladen. Sie sagte«, er leckte sich über die Lippen und mein Magen drehte sich um seine eigene Achse, »dass du so heiß auf mich bist, dass es ein Leichtes sein wird, dich ins Bett zu bekommen.«
»Ich …«, stieß ich mühsam hervor. Doch selbst in meinen Ohren war der Laut nicht mehr als ein leises Stöhnen. Ich besaß nicht einmal die Energie, mich über Christina und ihre hinterhältige List zu ärgern.
»Schon gut, Babe. Du musst nichts sagen.« Matt strich mir mit den Fingern über den Rücken. »Ich weiß genau, was du dir wünschst.« Ohne Vorwarnung überbrückte er die letzten Zentimeter zwischen uns und presste seine feuchten Lippen auf meine. Ich hörte Christina und Nate jubeln, doch ihre Anfeuerungsrufe wurden von Matts Zunge, die sich grob in meinen Mund schob, verdrängt.
Diese Verletzung meiner Grenzen ließ das Band, das mich bei Bewusstsein hielt, endgültig reißen. Meine Sinne kippten, der klägliche Rest Spannung wich aus meinem Körper und ich glitt in die gnädige Schwärze einer Ohnmacht.