Kapitel Vier

I ch erwachte davon, dass mein Mund wie ausgedörrt war, meine Zunge mir pelzig am Gaumen klebte, und in meinem Kopf eine Marschkapelle polterte, als würde sie für ein Heavy-Metal-Konzert proben.

Es stand außer Frage, ich hatte einen üblen Kater!

Aber wieso?

Ich konnte mich beim besten Willen nicht daran erinnern, gestern getrunken zu haben.

Allerdings konnte ich mich generell nur an wenig erinnern, was mit dem gestrigen Abend zu tun hatte. Ich wusste nur noch, wie ich mit Christina, Matt und Nate auf dem Jahrmarkt gewesen war. Wir hatten etwas gegessen und dann …

Frustiert massierte ich mir mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel. Wenn ich weiter versuchte, mich an den gestrigen Abend zu erinnern, würde das nicht gut enden. Also begnügte ich mich damit, meinen empfindlich gestörten Magen mit ein paar tiefgehenden Atemzügen zu beruhigen, bis ich mir sicher sein konnte, mich nicht mehr jeden Moment übergeben zu müssen. Dann wagte ich es, meine bleischweren Lider zu heben.

Es dauerte ein wenig, bis meine trockenen Iriden lindgrüne Wände, einen altmodischen Steinkamin, sowie eine fast schon peinlich große Sammlung von Sukkulenten ausmachten.

Wenigstens war ich zu Hause – und zwar angezogen, wie ich erleichtert feststellte. Ich trug sogar noch meine Schuhe.

Was auch immer also letzte Nacht geschehen war, konnte nicht so schlimm gewesen sein.

Ächzend richtete ich meinen steifen Körper auf. Meine offenen Haarsträhnen fielen mir über die Schultern und teilweise ins Gesicht.

Ob ich Christina antexten und fragen sollte, was gestern Abend passiert war und wie ich es nach Hause geschafft hatte?

Vielleicht später. Zuerst brauchte ich eine Dusche. Und Kaffee. Sehr viel länger würde ich nämlich dieses merkwürdige Flattern in meiner Brust, als steckte dort ein lebendiger Kolibri fest, nicht aushalten.

Ich zwang mich auf die Beine und wollte bereits in Richtung Obergeschoss gehen, als mir der Kaminsims auffiel. Meine Eltern hatten die unangenehme Angewohnheit, peinliche Familienfotos zur Schau zu stellen. Überall hingen oder standen Rahmen mit Bildern, die objektiv betrachtet nur bedingt öffentlichkeitstauglich waren. Wer lud schon gern Freunde zu sich nach Hause ein, wenn der Weg zum eigenen Zimmer gepflastert war mit Fotos, auf denen man entweder nackt durch den Garten rannte oder die Mutter ihre neuerworbenen Bodypainting Skills an einem ausprobierte? Von der Aktfotostrecke, die meine Eltern erst vor Kurzem auf mein Flehen hin in ihr eigenes Schlafzimmer verbannt hatten, nachdem ich den Anblick über Jahre hinweg bei jeder Mahlzeit hatte ertragen müssen, ganz zu schweigen.

Allerdings wäre ich niemals auf die Idee gekommen, meine Eltern darum zu bitten, die Fotos wegzuräumen – vor allem deshalb nicht, weil ich die Antwort darauf kannte. Dennoch schien genau das passiert zu sein. Sämtliche Rahmen waren verschwunden.

Was hat es denn damit auf sich?

Obwohl sich in meiner Körpermitte ein drückendes Gefühl ausbreitete, verbot ich mir, dieser Veränderung allzu viel Bedeutung beizumessen. Vermutlich hatte meine Mom die Rahmen weggeräumt, um sie einmal gründlich zu reinigen.

Über mich und meine kurzzeitige Paranoia innerlich den Kopf schüttelnd machte ich mich auf den Weg die Wendeltreppe hinauf ins Obergeschoss. Dabei passierte ich weitere Fotos, die ich für gewöhnlich nicht großartig beachtete. Doch dieses Mal hielt ich inne und betrachtete sie genauer.

Anstatt bunte Schnappschüsse einer Familie zu zeigen, die einen Hang zu unvorteilhaften Posen und fragwürdigen Weihnachtspullovern besaß, lächelten mir nur meine Eltern entgegen – in schicke Kleider gehüllt und professionell ausgeleuchtet.

Das ungute Gefühl kehrte zurück. Dieses Mal noch stärker. Und obwohl ich keine Ahnung hatte woher, wusste ich instinktiv, dass diese Wandlung etwas mit meinem Blackout von gestern Abend zu tun hatte.

Spontan war mein Wunsch, Christina zu kontaktieren, auf meiner Prioritätenliste nach oben gerutscht. Abgesehen von Matt und Nate, war sie die einzige Person, die mir sagen konnte, was gestern Abend los gewesen war.

So schnell es mein lädierter Körper zuließ, jagte ich die Treppe hinauf. Da ich mein Telefon gestern nicht mit auf den Jahrmarkt genommen hatte, musste es noch oben in meinem Zimmer am Stromkabel hängen.

Endlich im Obergeschoss angekommen, eilte ich ans Ende des Flures. Meine Zimmertür war geschlossen, was sonst nie war.

Ohne zu zögern, legte ich meine zitternden Finger auf die Klinke und drückte sie herunter. Ich schob die Tür auf und …

»Verfluchte Scheiße!«, rief ich entsetzt und sah mich mit offen stehendem Mund im Zimmer um.

Mein Handy lag nicht auf dem Nachtschränkchen neben meinem Bett. Denn es gab kein Nachtschränkchen. Und es gab auch kein Bett. Es gab überhaupt keine Möbel in diesem Zimmer.

Was hat das zu bedeuten?

Die Antwort auf diese Frage war mindestens ebenso spannend wie der Grund, aus dem mein Zimmer urplötzlich zu einem verdammten Fitnessstudio mutiert war. Anstelle des Schreibtisches, der für gewöhnlich unter einem Berg an ungelesenen Büchern verschwand, stand ein Laufband, mein offenes Regalsystem, das mir als Kleiderschrankersatz diente, war durch eine Hantelbank ersetzt worden und auf der anderen Zimmerseite, unter dem großen Fenster, wo ein riesiger orangefarbener Sitzsack hingehörte, entdeckte ich einen Aufbau, der für Klimmzüge gedacht war.

Mein gesamter Körper zitterte wie Espenlaub, dennoch wagte ich mich weiter ins Zimmer. Ich musste mich einfach vergewissern, dass das hier wirklich real und kein abgedrehter Trip war.

Ich legte eine Hand auf die Metallgriffe des Laufbandes. Das Material war kühl unter meinen schweißfeuchten Fingern – und spiegelte auf geradezu perfekte Weise mein Innerstes wider.

Ich muss mit Christina reden und herausfinden, was sie weiß!

Da ich keine Ahnung hatte, wo ich mit der Suche nach meinem Handy beginnen sollte – oder wie ich die aktuelle Situation am Telefon hätte erklären sollen – entschied ich mich, meine Kommilitonin persönlich aufzusuchen.

Ich machte auf dem Absatz kehrt und stürmte denselben Weg zurück, den ich zuvor hochgelaufen war. Adrenalin peitschte durch meine Adern, sodass ich die Haustür in Rekordzeit erreichte. Mein Autoschlüssel befand sich nicht in meiner Jackentasche, aber da es in meiner aktuellen Verfassung ohnehin nicht die beste Idee war, mich hinters Steuer zu setzen, würde ich zu Christinas Wohnheim laufen.

Gerade als ich nach der Türklinke greifen wollte, wurde ein Schlüssel ins Schloss gesteckt und ich erschrak so heftig, dass ich ein paar Schritte zurückwich.

Verdammt! Das mussten meine Eltern sein!

Mein Herz sprang mehrere Etagen höher und ich fühlte mich wie ein Tier in der Falle.

Wie sollte ich ihnen erklären, was mit den Fotos geschehen war? Oder dass sich mein Zimmer in ein Fitnessstudio verwandelt hatte?

Die Tür ging auf und als Erstes erschien mein Dad. Seine rotblonden Haare waren im Gegensatz zu gestern Mittag, als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, deutlich kürzer geschnitten und akkurat nach hinten gekämmt. Auch sein Vollbart, den er seit Jahren liebevoll pflegte, war verschwunden.

Dennoch war er er – und das war gerade das Einzige, was für mich von Bedeutung war.

»Dad …« Die mannigfaltigen Emotionen, die mich in die Knie zu zwingen drohten, ließen die Silbe wie ein hilfloses Wispern klingen. Doch das war mir egal. Jetzt, da ich meinen Eltern gegenüberstand, überwog die Erleichterung. Gemeinsam würden wir einen Weg aus diesem Grauen finden.

Dad, der zuvor locker gewirkt hatte, versteifte sich, als er mich entdeckte. Sofort erlosch das warme Gefühl in meiner Brust und stattdessen streckte die eisige Furcht ein weiteres Mal ihre knöcherigen Klauen nach mir aus.

»Wer sind Sie und was machen Sie in meinem Haus?«, polterte Dad mit tiefem Bariton und jede Silbe fühlte sich wie ein Schlag in den Magen an. Mein Dad war niemand, der zu Aggressionen neigte. Aber gerade wirkte er so bedrohlich, dass ich mich fast ein wenig vor ihm ängstigte.

»Dad?« Eine neuerliche Welle der Unsicherheit und Sorge schwappte über mich hinweg.

Obwohl mich die Fotos, das Fitnessstudio und das Verschwinden all meiner persönlichen Habseligkeiten vermutlich hätten vorbereiten sollen, weigerte ich mich, auch nur in Erwägung zu ziehen, dass mich mein Dad nicht mehr erkannte.

»Dad, ich bin’s. June. Juneau. Deine Tochter.«

»Meine Tochter? Das ist ja wohl der geschmackloseste Witz, den ich jemals gehört habe! Ich habe keine Kinder!«

»Patrick? Was ist hier los? Wer ist dieses Mädchen und wieso behauptet sie, dass du ihr Vater bist?« Mom, die sich bisher hinter Dads Rücken verborgen gehalten hatte, trat zur Seite und musterte mich kritisch. Ihre dunklen Haare hatte sie zu einem Knoten hochgesteckt, was ich so noch nie an ihr gesehen hatte. Auch war sie geschminkt und trug einen teuer aussehenden Mantel über ihren Schultern.

»Mom«, griff ich verzweifelt nach dem nächsten Strohhalm, obwohl sich tief in meinem Innersten eine Erkenntnis regte. Das hier waren nicht meine Eltern. Nicht wirklich. Sie mochten vielleicht ähnlich aussehen, aber ihre Wesen hätten nicht verschiedener sein können.

»Bitte, Mom, du musst mir zuhören. Ich weiß, die ganze Sache klingt total verrückt, aber ich bin es! Junchen. Deine Tochter. Du musst mich doch wiedererkennen.«

»Genug!«, polterte Dad erneut los und stellte sich schützend vor seine Frau. »Ich weiß nicht, wer Sie sind oder was Sie wollen –«

»Dad, bitte!« Ich wimmerte und Tränen ließen meine Sicht verschwimmen. Was war das nur für ein beschissener Albtraum, in dem ich hier feststeckte?

»Aber entweder Sie verschwinden auf der Stelle von hier«, sprach Dad weiter, ohne auf mich einzugehen, »oder ich rufe die Polizei.« Er trat einen Schritt auf mich zu und ich zuckte zurück. Ich kannte und liebte meinen Dad über alles. Er war großartig, mutig und würde seine Familie mit seinem Leben beschützen. Aber – und das wurde mir mit explosionsartiger Klarheit bewusst – in seinen Augen gehörte ich nicht länger dazu. Für ihn war ich eine Fremde. Ein Eindringling.

»Okay«, sagte ich und blinzelte mehrfach, um die Tränen unter Kontrolle zu halten. Zur Unterstützung formte ich die Hände zu Fäusten. Der Schmerz, als sich meine Fingernägel in meine Handballen gruben, half mir, die Kontrolle zu behalten. »Ich verschwinde.«

Da meine Eltern gar nicht daran dachten, mir ein wenig Platz einzuräumen und stattdessen wie angewurzelt vor der Eingangstür verharrten, musste ich mich durch den schmalen Spalt zwischen ihnen und dem Türrahmen schieben.

»Es tut mir leid«, richtete ich das Wort ein letztes Mal an sie, nachdem ich die Schwelle des Hauses passiert hatte. Beide hatten sie jede meiner Bewegungen mit Argusaugen verfolgt. »Ich weiß, ihr versteht nicht, was hier los ist – und glaubt mir, mir geht es ebenso. Aber ich verspreche euch, ich werde einen Weg finden, alles in Ordnung zu bringen.«

Als Antwort warf Mom die Tür mit einem Kopfschütteln zu.

Der Knall ging mir durch Mark und Bein und ließ mich so stark zusammenfahren, dass mir ungewollt ein paar Tränen entkamen.

Nein, das waren nicht meine Eltern und das hier nicht länger mein Zuhause.

Doch, wer war ich, ohne meine Wurzeln?

Gab es überhaupt eine Juneau Jenkins oder war ich nur ein Geist, der sich all die Jahre für einen Menschen gehalten hatte?