Kapitel Fünf

M it buchstäblich nichts außer den Kleidern am Leib stand ich in der Einfahrt meines Elternhauses und hatte keine Ahnung, was ich jetzt tun sollte, so ganz ohne Geld, Handy oder Auto.

Oder einer Identität …

Denn auch wenn ich beim besten Willen nicht wusste, wie so etwas möglich sein konnte, stand außer Frage, dass ich in dieser Realität buchstäblich nicht existierte.

Meine Lungen verkrampften sich und ich bekam kaum noch Luft. Ich fühlte mich, als steckte ich in einem zu eng geschnürten Korsett. Meine Beine waren weich wie Pudding und ich musste mich rücklings gegen die Hauswand lehnen, um nicht zu Boden zu sinken. Lange Schatten, die von den Häusern auf den Boden geworfen wurden, erstreckten sich vor mir und deuteten darauf hin, dass es bereits später Vormittag war. Wenn ich Glück hatte, war Christina noch in ihrem Wohnheim. Und wenn ich richtig viel Glück hatte, würde sie mich auch wiedererkennen und mir meine Fragen beantworten können.

Zwanzig Minuten später stand ich vor Christinas Wohnheimzimmer, nur um von ihrer miesepetrigen Mitbewohnerin zu erfahren, dass meine Kommilitonin nicht zu Hause war.

Also entschied ich mich, zum Jahrmarkt zurückzukehren, um meinen versumpften Verstand auf diese Weise zur Wiederaufnahme seiner Arbeit zu motivieren.

Ich brauchte etwa eine Stunde bis ans andere Ende der Stadt, doch schließlich erreichte ich mein Ziel. Die Spiel- und Fressbuden sowie die Fahrgeschäfte, die gestern in farbenfrohes Licht getaucht gewesen waren, badeten im goldschimmernden Schein der Herbstsonne, während die Wege still und leer vor mir lagen. Bis auf eine Alkoholleiche, die mit heruntergelassener Hose zwischen zwei Hütten lag und geräuschvoll ihren Rausch ausschlief, war niemand zu sehen.

Okay, ich brauche einen Plan!

Da es mir am sinnvollsten erschien, alle Plätze abzuklappern, die ich gestern gemeinsam mit Christina, Nate und Matt besucht hatte, nahm ich vom Parkplatz aus exakt die Route, die ich gestern gegangen war, jeweils soweit ich mich an sie erinnerte. Ich passierte dieselben Fahrgeschäfte und Spielbuden und landete schließlich bei den Futterhütten, bei denen wir eine Rast eingelegt hatten. Bisher hatten sich meine Erinnerungen noch nicht zurückgemeldet, aber ich wollte deswegen nicht in Panik geraten. Stattdessen klammerte ich mich an die Hoffnung, dass das rostige Triebwerk meines Verstandes in Fahrt kommen würde, wenn ich erst beim Schießstand war, der die Grenze zwischen Erinnerung und Blackout markierte.

Bei dem metallischen LKW-Hänger, dessen bunte Oberfläche das Bild eines Jägers mit einem angelegten Gewehr zeigte, entdeckte ich zwei Personen.

»Christina? Nate?« Meine Erleichterung, die beiden hier zu sehen, war nicht in Worte zu fassen.

Christina hob den Kopf und drehte sich zeitgleich mit Nate in meine Richtung. Meine Kommilitonin trug ihr Haar uncharakteristisch in einem unordentlichen Knoten und war in eine graue Jogginghose mit dazu passendem Sweater gekleidet. Ihre kaffeebraunen Augen waren rot geädert und verquollen, und anstatt Make-up und Kontaktlinsen trug sie eine Brille mit extra großen Gläsern.

Nate sah nicht besser aus. Der ein Meter achtzig große Student war weiß wie eine frisch gestrichene Wand, sein Blick glasig. Er zitterte sogar.

»Ja?« Christinas Stimme war vom Weinen belegt. Gleichzeitig wirkte ihre Mimik höflich fragend. Da war kein Erkennen in ihrem Blick. Die Hoffnung, dass sie mich trotz aller Wahrscheinlichkeit wiedererkennen würde, zerplatzte wie eine Seifenblase.

Sie hat keine Ahnung, wer ich bin.

Der Boden unter meinen Füßen drehte sich und weiße Flecken vernebelten meine Sicht. So hatte ich mir meinen neunzehnten Geburtstag bestimmt nicht vorgestellt.

»Bist du … bist du wegen Matt hier?«, fragte Christina weiter und deutete hinab zu ihren Füßen. Dort erstreckte sich ein kleines Meer aus Blumensträußen, Kuscheltieren, Windlichtern und selbst gebastelten Plakaten.

»Was … was ist das?«, fragte ich, obwohl die Antwort offensichtlich war.

»Bist … bist du etwa nicht wegen Matt hier? Oh, entschuldige.« Christina wurde von einem weiteren Schluchzen gebeutelt. Noch immer stand sie dicht an Nate gekuschelt, ihre Arme um seine Taille geschlungen. Doch mittlerweile war ich mir nicht sicher, wer da gerade wem Halt bot. »Ich dachte, du kommst ebenfalls von der UWYO, weil du unsere Namen kennst.« Sie wischte sich über die feuchten Wangen. »Sorry, mein Fehler. Es ist nur so, dass heute bereits den ganzen Tag Leute hierherpilgern, um …« Sie brach ab und verbarg ihr Gesicht erneut an Nates Brust.

»Um was?«, hakte ich mit zusammengepressten Zähnen nach. »Was ist mit Matt?«

Christina hob den Kopf und ich meinte, einen Ausdruck von Verwirrung in ihrer Mimik zu erkennen, fast so, als hätte sie vergessen, dass ich hier stand. Doch dann blinzelte sie ein paarmal und lächelte vorsichtig, sodass ich keine Gelegenheit hatte, mir ausgiebig Gedanken darüber zu machen.

»Du bist wegen Matt hier? Er hätte sich sicherlich gefreut, dass so viele Leute an ihn denken.«

»Was ist mit Matt passiert?«, knurrte ich beinah, aber Christinas vehemente Weigerung, mir zu antworten, strapazierte meine bereits bis zum Anschlag angespannten Nerven. Dabei konnte ich das Offensichtliche nicht länger leugnen. Hier wurde eine verfluchte Totenwache abgehalten!

»Er ist letzte Nacht gestorben.«

Unfähig, auch nur ein Wort über die Lippen zu bringen, erwiderte ich stumm Christinas Blick. Mein Herz wummerte mir in der Brust und meine Kehle war zu einem hauchfeinen Nadelöhr zusammengeschrumpft.

»Wie … wie ist das geschehen?«

»Wir waren gestern Abend zusammen hier. Wir hatten Spaß und alles wirkte völlig normal. Nach ein paar Bier wollten wir nach Hause gehen. Aber hier ist er dann einfach … zusammengebrochen. Die Sanitäter konnten nur noch seinen Tod feststellen.«

Matt ist einfach »zusammengebrochen«?

Wie konnte das sein? War er krank gewesen? Wie hatte er einfach zusammenbrechen und sterben können?

Nate, der bisher geschwiegen hatte, fügte hinzu: »Seine Eltern haben heute Morgen von der Polizei erfahren, dass Matt vergiftet wurde. Mit Skorpiongift.«

Mein schrilles »Was? « klingelte selbst mir unangenehm in den Ohren.

»Er wurde vergiftet? Aber … aber wer sollte so etwas tun? Und wieso?« Und dann noch dem Gift eines Skorpions! Ich kannte mich nicht sonderlich gut mit dem Thema aus, aber ich bezweifelte, dass man Skorpiongift einfach so im Drogeriemarkt kaufen konnte.

»Das weiß niemand«, wisperte Nate und frische Tränen verschleierten seine Sicht. Als er seinen Griff um Christinas schmale Statur verstärkte, sah er aus, als würde er jeden Moment umkippen. Doch seine folgenden Worte strotzten vor Feindseligkeit. »Aber ich hoffe, dass die Person, die dafür verantwortlich ist, in der Hölle schmort!«