Kapitel Sieben
F ünf Tage und mehr Meilen, als ich in meinem bisherigen Leben zurückgelegt hatte, lagen zwischen dem Jahrmarkt und mir. Ich hatte den Überblick verloren, wie viele Stunden ich inzwischen am Stück wach war und wie viele überzuckerte Energiedrinks dafür verantwortlich waren. Doch zurzeit war ein gesundheitsgefährdender Schlafmangel die einzige Möglichkeit, die ich hatte, um mich vor weiteren Albträumen zu schützen.
Leider hatte das Wachsein aber auch Tücken. Denn abgesehen von den Fragen, die sich mir seit der Begegnung mit Matt und seiner gruseligen Pferdeschwanz-Freundin aufdrängten, plagte ich mich seit Neuestem mit zwei … nennen wir es Talenten herum. Nach meiner überstürzten Flucht musste ich nämlich feststellen, dass ich für alle Menschen um mich herum unsichtbar geworden war. Einfach so. Ich musste nur jegliche Form von Blickkontakt vermeiden und schon konnte ich – und zwar buchstäblich! – mit einem zwanzig Zentimeter langen Fleischermesser vor ihrer Nase herumfuchteln, ohne dass ich gesehen wurde.
Obwohl das vielleicht ganz cool klang, gab es eine beachtliche Einschränkung: Unsichtbar bedeutete nicht zwangsläufig auch unbemerkbar sein.
Als ich zu Beginn meiner Reise in einem gut besuchten Park in einem Akt der Verzweiflung meinen Frust lautstark in die Welt hinausgeschrien hatte, hatten mich prompt einige überaus verstört wirkende Besucher gemustert.
Vor Scham wäre ich am liebsten im Erdboden versunken. Doch als ich mich mit glühenden Wangen bei den Leuten hatte entschuldigen wollen, waren sie längst wieder mit ihren vorherigen Tätigkeiten beschäftigt gewesen.
In dem Moment war mir mein zweites, unwillkommenes Talent bewusst geworden: Sobald ich den Blickkontakt zu einer Person abbrach, verschwand ich restlos aus ihren Gedanken und Erinnerungen.
Zu Beginn hatte mich dieser Umstand noch ziemlich aus der Bahn geworfen. Aber im Laufe der letzten Tage hatte ich gelernt, damit klarzukommen. Und inzwischen konnte ich diesem ganzen Hokuspokus sogar etwas Positives abgewinnen. Zum einen verstand ich nun, wieso sich Christina und Nate bei Matts Mahnwache mir gegenüber so merkwürdig verhalten hatten. Zum anderen war es nach allem, was passiert war, eine angenehme Abwechslung, nur für mich allein zu sein und alles in Ruhe sacken lassen zu können. Denn noch immer haderte ich mit der Vorstellung, dass ich Matt durch einen Kuss vergiftet haben sollte. Schließlich hatte er bei unserer letzten Begegung ziemlich lebendig gewirkt – wenn auch nicht zwangsläufig menschlich.
Ich klappte den Kragen meiner warm gepolsterten Steppjacke hoch und zog die Schultern gen Ohren. Hier im Osten war der Herbst um einige Grad kühler. Zum Glück hatte ich meine Garderobe bereits gegen einen kuscheligen Schal, eine eng anliegende Jeans, sowie einen dünnen Rollkragenpullover mit einem riesigen Lolli aus bestickten Pailletten auf der Brust eingetauscht. Zwar befürchtete ich nach wie vor, dass jede Sekunde ein Mitarbeiter von GAP hinter mir auf die Straße rannte und mich des Ladendiebstahls bezichtigte – berechtigterweise wohlgemerkt –, aber dank meiner neuen Fähigkeiten war die Wahrscheinlichkeit eher gering. Außerdem … welche Wahl blieb mir, ohne Bargeld oder Kreditkarten? Immerhin beschränkte ich meine Diebstähle auf Dinge, die ich wirklich benötigte, wie Nahrung oder einen Platz zum Schlafen.
Ein Rempler riss mich aus meinen Gedanken. In der letzten Stunde hatte sich die Anzahl an Besuchern auf dem Time Square so drastisch erhöht, dass ich inzwischen kaum noch einen Fuß vor den anderen setzen konnte, ohne mit jemandem zusammenzustoßen.
Die Erinnerung daran, was beim letzten Mal geschehen war, als ich mich in einer derartigen Situation befunden hatte, ließ meine Atmung flacher werden und meinen Körper erzittern. Sogar der Boden unter meinen Füßen schien in Bewegung zu geraten.
Ich wusste, dass ich so schnell wie möglich von hier verschwinden musste, wenn ich nicht mitten in aller Öffentlichkeit eine Panikattacke erleiden wollte.
Mein Kopf ruckte empor. Gigantische Leinwände zierten die Fassaden der Wolkenkratzer und warben für Snacks, Schnellrestaurants, Technik, Theaterstücke oder Kinofilme – natürlich alles passend zum bevorstehenden Halloweenfest im Gruselstil. Die darunter befindlichen Eingänge gehörten zu Einkaufshäusern, dem NYPD , dem New York Police Department, oder zu Fast-Food-Restaurants, wie ich sie in den vergangenen Tagen auf meiner Tour immer wieder gesehen hatte.
Schließlich entdeckte ich zwischen zwei hoch aufragenden Hausblöcken eine Lücke, die in eine schmale Gasse führte. Diese war gerade einmal so breit, dass vielleicht ein paar Müllcontainer hineinpassten, aber gewiss kein Auto. Und so düster, wie es dort aussah, bezweifelte ich, dass sich irgendeine andere Person dorthin verirren würde.
Perfekt!
Unter Einsatz einer Menge Ellbogenaktivität schaffte ich es, mich durch die Menschenmasse zu kämpfen und mich schließlich in die Gasse zu retten.
Erleichtert ließ ich mich von den Schatten verschlucken. Mein Herz wummerte, als ich mich mit zitternden Knien rücklings gegen eine der Hauswände lehnte und, die dröhnende Geräuschkulisse der Hauptstraße weiterhin im Ohr, die Lider gesenkt.
Es dauerte ein paar tiefe Atemzüge, doch schließlich beruhigte sich mein Herzschlag, mein Körper hörte auf zu beben und der Nebel in meinem Kopf lichtete sich langsam.
Gleichzeitig überkam mich eine Woge der Müdigkeit, so schnell und intensiv, dass ich keine Chance hatte, mich gegen sie zu wehren. Dass meine letzte Pause vor rund dreißig Stunden in Chicago – zwei Bundesstaaten von hier entfernt – gewesen, und ich gefühlt nach wenigen Minuten schweißgebadet aus einem Albtraum aufgeschreckt war, forderte seinen Tribut.
Willenlos rutschte ich an der Hausmauer hinab. Mein Po landete auf dem Boden, Kies, Scherben und Dinge, von denen ich lieber nicht wissen wollte, worum es sich im Detail handelte, bohrten sich in den Stoff meiner Jeans. Die Kälte des Asphalts sickerte bis in meine Knochen, aber das nahm ich schon nicht mehr wahr. Meine Lider senkten sich schwer und ich verlor den Kampf gegen die Müdigkeit.