Kapitel Acht
U nd du bist dir wirklich sicher, dass sie das richtige Mädchen ist?«
»Na, wenn ich es dir doch sage. Du musst mir schon vertrauen, Lockenbubi.«
Ein Schnauben erklang.
»Lass uns die Vertrauensfrage auf später verschieben. Verrate mir lieber, wie ich sie aufwecken kann. Ich habe schon alles versucht. Erfolglos.«
»Du hast sie ein wenig an der Schulter gerüttelt. Das ist nicht die Definition von alles versucht. « Die zweite Stimme besaß einen näselnden Ton und erinnerte mich an ein verschnupftes Kind. »Aber gut, wenn sich das Mädel nicht wecken lässt, dann wirf sie dir über deine Schulter und nimm sie mit. Im Hauptquartier finden wir schon eine Lösung, wie wir sie wach bekommen.«
Es folgte Stille, dann sagte die zweite Stimme weiter: »Schon gut, schon gut. War ja nur ein Vorschlag. Du musst mich nicht gleich mit deinen Blicken erdolchen.«
Jemand seufzte resigniert.
»Aber wenn du sie nicht einfach mitnehmen willst«, fuhr die zweite Stimme fort, »habe ich auch keine Idee, was du noch tun kannst – außer vielleicht, sie wach küssen.«
»Ich werde sie bestimmt nicht wach küssen. « Die erste Stimme – die auf Lockenbubi hörte – klang derart entsetzt, dass ich am liebsten protestiert hätte.
Was war das nur für ein verrückter Traum? Und wer sprach da? Ich war mir sicher, dass mir die Sprecher nicht bekannt waren.
»Kann ich nachvollziehen«, übernahm die näselnde Stimme erneut das Wort. »Ich würde sie auch nicht küssen wollen. Zwar sieht sie inzwischen nicht länger wie eine hysterische Schreckschraube aus, aber dafür stinkt sie, als wäre sie in ein Bierfass gefallen. Aber so ist das bei euch Menschen, nicht wahr? Irgendeinen Haken gibt’s immer.«
Erneut herrschte Stille, ehe Lockenbubi, dessen Stimme warm und weich klang, das Wort ergriff. Vernehmbar genervt, wohlgemerkt.
»Es geht mir nicht um den Gestank, Drache. Ich steh einfach nicht darauf, wildfremden Frauen meine Zunge in den Hals zu stecken – vor allem dann nicht, wenn diese bewusstlos sind und sich nicht einmal dagegen wehren können.«
»Du alter Softie«, säuselte es, während ich mich gedanklich darüber beschwerte, was mir mein Unterbewusstsein hier für einen Mist auftischte. Meine letzte Dusche mochte vielleicht ein wenig zurückliegen, aber gewiss stank ich nicht!
»Leider bringt uns deine Gentleman-Attitüde unserem Ziel auch nicht näher«, kommentierte die Näselstimme, die auf den Namen Drache hörte. »Dabei wird es langsam wirklich Zeit, dass wir hier wegkommen. Mein Schwanz ist schon lila vor Kälte. Und glaub mir, keiner von uns will, dass ich mir euretwegen einen Schnupfen hole.«
»Deine Schuppen sind von Natur aus lila«, erwiderte Lockenbubi seufzend und überging den daraufhin empörten Ausruf »Ich bin fuchsiafarben und nicht lila!«, ohne weiter auf das Thema einzugehen. »Aber du hast recht. Wir müssen uns sputen. Die Sonne geht bereits unter und ich will zu Hause sein, ehe die Nacht anbricht.«
Eine sanfte Berührung traf meine Schulter und etwas Warmes wie ein Atem strich über meine untere Gesichtshälfte. Der ungute Verdacht, dass es sich bei dieser durchgeknallten Unterhaltung gar nicht um einen Traum handelte, ließ mich schlagartig aufwachen.
Knapp vor mir schwebte ein Gesicht, das mir eindeutig zu nah war, um mich nicht küssen oder entführen zu wollen.
»Was zum Henker …?!« Mit beiden Händen stieß ich gegen die Brust meines Gegenübers – und traf auf harte Muskeln unter einem eng anliegenden T-Shirt, das unter einer aufgeknöpften Jeansjacke lag. Doch das registrierte ich nur am Rande. Alles, was ich wollte, war, so schnell wie möglich so viel wie möglich Distanz zwischen mir und meinen potenziellen Vergewaltiger Schrägstrich Entführer zu bringen. Dafür nahm ich auch in Kauf, mich über Steinchen und Glasscherben in Sicherheit zu rollen.
»Wow, Romeo«, sagte die Näselstimme bewundernd. »Du hattest recht. Du musstest sie gar nicht wach küssen, sondern nur mit deinem fauligen Mundgeruch anhauchen. Respekt für so viel Einsatz!«
»Ich hatte nicht vor, sie zu küssen«, antwortete der Typ verärgert, der sich zuvor über mich gebeugt hatte, nun jedoch auf dem Boden hockte. »Ich wollte dich wirklich nicht küssen«, fügte er in meine Richtung gewandt hinzu, und ich konnte eine Spur Scham heraushören.
Ohne auf seine Worte einzugehen, betrachtete ich ihn genauer.
Für einen potenziellen Vergewaltiger – pardon , er wollte mich ja gar nicht küssen –, sah er ziemlich normal aus. Auf eine gewisse Weise vielleicht sogar niedlich, wenn man einmal die fragwürdigen Umstände außer Acht ließ, unter denen wir aufeinandertrafen. Dunkelblonde Wellen umrahmten ein Gesicht mit femininen Zügen und hellblauen Augen, die mich besorgt musterten. Allein der klobige Ring an seiner linken Hand, der einen blassgelben Edelstein eingefasst trug, passte irgendwie nicht so recht zu dem Bild.
Vermutlich wägte Lockenbubi ab, wie hoch die Wahrscheinlichkeit war, dass ich hysterisch loskreischen würde.
Obwohl die Vorstellung durchaus verlockend war, besann ich mich darauf, mir erst einmal einen genaueren Überblick zu verschaffen. Schließlich waren Lockenbubi und ich nicht allein. Da war noch der Typ namens Drache, den ich nirgends entdecken konnte.
Ohne mich von Lockenbubi abzuwenden, sog ich jedes Detail meiner Umgebung in mich auf.
Ich Idiotin war tatsächlich in der Gasse am Times Square eingeschlafen! Die Sonne, die zuvor von grauen Wolken verhangen gewesen war, war inzwischen fast komplett untergegangen und hatte die halbwegs akzeptablen Temperaturen mit sich genommen. Zurückgeblieben war eine Kälte, die mir bis tief in mein Innerstes drang und die schmale Passage regelrecht finster erscheinen ließ.
Großartig, June! , schalt ich mich selbst. Du steckst mit zwei dubiosen Kerlen in einer Gasse fest. Der einzige Ausgang hier raus befindet sich auf der anderen Seite und den erreichst du nur, wenn du es schaffst, an Lockenbubi vorbeizukommen.
Hätte das meine ohnehin prekäre Lage nicht zusätzlich verschlimmert, hätte ich meinen Kopf am liebsten gegen eine der Hausmauern geschlagen.
»Wenn du sie nicht küssen wolltest«, ergriff die näselnde Stimme nachdenklich das Wort, »dann wolltest du sie also doch über deine Schulter werfen und mitnehmen? Gute Idee, Casanova. Dann kann die Kleine zumindest nicht vor deinem Mundgeruch fliehen.«
»Halt endlich die Klappe!«, fauchte Lockenbubi und sah hinab auf seine Schulter. »Erstens habe ich keinen Mundgeruch. Und zweitens, glaubst du ernsthaft, dass es sonderlich hilfreich ist, wenn du ständig davon sprichst, dass ich Juneau küssen oder gar entführen soll?«
Der Typ namens Drache erwiderte etwas, das ich nicht verstand – was vermutlich an einer Störung zwischen den extrakleinen Walkie-Talkies lag, mit denen die beiden miteinander kommunizierten. Eine andere Erklärung, wieso ich die Stimme des Drachen-Typen zwar hören, den Sprecher aber nicht sehen konnte, wollte sich mir nicht erschließen.
Doch lange hielt ich mich nicht mit diesen Gedanken auf, denn in dieser Sekunde überollte mich eine Erkenntnis.
Sie kennen meinen Namen. Meinen richtigen Namen!
Und nicht nur das. Lockenbubi schien mich auch sehen zu können. Egal ob ich ihn unmittelbar anschaute oder nicht.
»Heilige Scheiße!«, rutschte es mir heraus und ich krabbelte rückwärts tiefer in die Gasse hinein, bis ich mit dem Rücken gegen einen harten Widerstand stieß. Gehörten sie etwa zu Matt und seiner Freundin? Die beiden waren bisher die Einzigen gewesen, die sich länger als für die Dauer eines Wimpernschlages an mich erinnern konnten.
Bevor ich Gelegenheit hatte, gründlicher darüber nachzudenken, flog Lockenbubis Gesprächspartner in mein Blickfeld.
Und zwar buchstäblich.
Mit einem kleinen Hüpfer von dessen Schulter schwebte ein rund fünfzehn Zentimeter kleines, leuchtend rosafarbenes Wesen zwischen mir und dem Blondschopf. Neben großen, goldenen Augen besaß es spitze Ohren und Flügel, die träge hin und her schlugen. Seinen Mund hatte es zu einem Grinsen verzogen und zwei kleine, spitzzulaufende Eckzähne blitzten hervor, die mich an einen Vampir erinnerten.
»Heilige Scheiße!«, wiederholte ich und wünschte, ich könnte noch mehr Distanz zwischen mich und meine Gegner bringen. Denn nicht nur, dass drei Meter von mir entfernt ein waschechter Mini-Drache war, ich kannte dieses Wesen auch noch. Zwar hatte es sich seit unserer letzten Begegnung ein wenig verändert – aus dem plüschigen Fell waren glänzende Schuppen geworden und in den ehemals kugelrunden Plastikaugen blitzte es klug und aufmerksam –, dennoch stand außer Frage, dass es sich bei dem Wesen um jenes Plüschtier handelte, das Matt mir auf dem Jahrmarkt geschenkt hatte.
Lockenbubi und der Plüschdrache – wie hatte die Wahrsagerin ihn noch mal gerufen? Danny? Dawson? Drew? – sahen mich beide irritiert – und in Lockenbubis Fall – sorgenvoll an.
»Wie ich bereits sagte«, meinte der Drache an Lockenbubi gerichtet, »die Kleine hat nicht mehr alle Schuppen am Schwanz. Sie hat schon neulich bei Cass so komische Sachen von sich gegeben.«
Meine Lippen teilten sich, um auf diese Unverschämtheit zu antworten – was erwartete dieses Ding, wie ich auf die Situation reagierte? Mit Händeklatschen und Jubelrufen? Himmelherrgott! Vor mir saß ein vorlauter Drache, der zuvor ein harmloses Plüschtier gewesen war! Da sollte es doch erlaubt sein, die Nerven zu verlieren.
Doch ich hatte keine Gelegenheit, die Silben hervorzubringen, die mir auf der Zunge lagen, denn Lockenbubi richtete seine nächsten Worte an mich.
»Ich verstehe, dass der Anblick eines Lichtwesens überwältigend sein kann, Juneau. Mir erging es am Anfang nicht anders.« Ein fast schon schüchternes Lächeln schlich sich auf seine Züge, was ihn sympathischer wirken ließ, als es angebracht war. »Aber glaub mir, nach ein paar Tagen mit dem hier«, er deutete mit einem Kopfnicken in Richtung des Drachen, »wird schnell klar, dass ihr Ruf sie spektakulärer erscheinen lässt, als sie in Wahrheit sind. Wenn du also mit deiner ausschweifenden Bewunderung warten möchtest, bis wir zu Hause sind, würde dir das niemand übel nehmen. Auch nicht, wenn du dich unterwegs dazu entscheidest, das mit der Bewunderung gänzlich sein zu lassen«, fügte er mit einem Schmunzeln hinzu.
Mist! Der Typ war nicht nur niedlich, sondern auch noch witzig.
Ein empörtes »Hey! Doch! Ich würde es ihr übel nehmen!« erklang von dem Drachen – was war ein Lichtwesen ? –, das jedoch weder Lockenbubi noch ich beachteten.
In meinem Fall lag das aber nicht daran, dass ich ihn ignorieren wollte. Nein, ich konnte schlichtweg nicht anders.
»Ja, ähm, okay … ich … ich werde es mir merken.« Langsam erhob ich mich vom Boden und klopfte mir betont beiläufig den Dreck von der Jeans, ehe ich mir ein paar verirrte Haarsträhnen aus dem Gesicht strich. Von meinem Pferdeschwanz war kaum noch etwas übrig. »Leider muss ich jetzt los«, sagte ich, ohne die zwei Gestalten mir gegenüber aus den Augen zu lassen. »Zu einem wichtigen Termin. Ich war sozusagen gerade auf dem Sprung, als ihr mich gefunden habt.« Unauffällig wagte ich mich ein paar Zentimeter in Richtung Gassenausgang vor. Wenn es mir gelang, an den beiden vorbeizuhuschen, konnte ich in dem Getümmel auf dem Times Square untertauchen. Der Geräuschkulisse nach zu urteilen, musste dort gerade eine Megaparty stattfinden. »Wenn ihr mich also bitte entschuldigen würdet …«
Ein paar Sekunden lang folgte meinen Worten ehrwürdige Stille. Dann widmete sich das Wesen – verflixt, wie war doch gleich sein Name? Doug? Derek? Dario? – seinem Begleiter.
»Wie ich bereits sagte, die Kleine ist hinüber. Nicht mehr zu gebrauchen.«
»Entweder das oder sie hat aus mir unerklärlichen Gründen Angst vor uns.« Die Stirn in Falten gelegt, verdunkelte sich sein Blick. »So oder so, wir können sie unmöglich allein hier zurücklassen. Wenn wir sie finden konnten, schaffen es andere ebenfalls. Und nenn mich ruhig übervorsichtig, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmt.«
Lockenbubi sah mich an, ehe er seufzte und sich aus seiner Kauerhaltung erhob. Der Drache nutzte die Gelegenheit und flog zurück auf seine Schulter.
»Hör zu, Juneau –«
»June«, korrigierte ich ihn reflexartig. Ich hatte meinen richtigen Namen noch nie sonderlich gemocht. Aber inzwischen hegte ich eine regelrechte Abneigung.
»June«, wiederholte Lockenbubi mit einem Lächeln. Offenbar vermutete er in meiner Korrektur so etwas wie einen Olivenzweig. Ein Entgegenkommen. Ein Friedensangebot.
Wenn der wüsste …
Aktuell lag meine oberste Priorität darin, dieser Gasse zu entkommen. Und wenn ich dafür so tun musste, als würde ich auf die Freundlicher-Junge-von-nebenan-Masche hereinfallen, war das ein Übel, das ich billigend in Kauf nahm.
»Ich weiß nicht, was dir widerfahren ist, dass du es nicht geschafft hast, aus eigenem Antrieb zu uns zu kommen. Aber Drake und ich –«
»Für dich immer noch Dracolus Ruberum der Erste«, unterbrach ihn das Lichtwesen mit finsterer Miene. Und da erinnerte ich mich an die Worte der Wahrsagerin, dass der Plüschdrache und ich angeblich bald enge Freunde sein würden.
Selbst jetzt erschienen mir das absurd.
»Aber«, fuhr Lockebubi unbeirrt fort, »wir folgen deiner Spur inzwischen seit Tagen und –«
»Was?« Sprachlos starrte ich ihn an. Meine Fluchtgedanken gerieten kurzzeitig in den Hintergrund. »Ihr verfolgt mich seit Tagen?« Hatten sie womöglich mitbekommen, was in Laramie geschehen war? Waren sie deswegen hinter mir her? Weil sie den Job erledigen wollten, den Pferdeschwanz-Barbie Matt auszuführen untersagt hatte? Aber wieso war ich dann noch am Leben? Und wieso wurden sie nicht von diesen schwarzen Schattengeistern umgeben, wie Matt und seine Freundin?
Die ganze Situation war ebenso verwirrend wie beängstigend. Dennoch konnte ich nicht leugnen, dass meine Anspannung, je länger ich hier stand und mit Lockenbubi sprach, zunehmend abflaute.
»Ja, wir suchen dich inzwischen seit Tagen«, gab Lockenbubi zu. »Der Drache «, er warf Drake einen Blick zu, der wohl so etwas wie Zufrieden? bedeuten sollte. Als das Lichtwesen mit gönnerhafter Miene nickte, sprach er weiter. »Er kam am Abend deines Geburtstages zu uns und erzählte uns von deiner Berufung.«
»Ich kann zwar fliegen«, warf Drake erklärend ein, »aber ich bin kein Düsenjet. Auch ich brauche eine gewisse Zeit, um fast zweitausend Meilen zurückzulegen. Und dass ich die Strecke von Wyoming nach Connecticut in unter zwanzig Stunden geschafft habe, ist ja wohl rekordverdächtig!« Stolz reckte er die Brust.
»Jedenfalls«, übernahm wieder Lockenbubi, und ich sah wie bei einem Tennismatch zwischen den beiden hin und her. »Wir sind sofort losgefahren, um dich zu suchen. Uns war klar, dass etwas vorgefallen sein musste, das dich daran gehindert hatte, mit uns in Kontakt zu treten. Nur habe ich nicht erwartet, dass wir dich quer über den halben Kontinent würden verfolgen müssen.« Er verzog gequält das Gesicht und entgegen jeder Vernunft empfand ich einen Anflug von Scham. Dabei war das völlig absurd. Weder schuldete ich diesem Typen irgendetwas noch hatte ich gewusst, dass er auf der Suche nach mir war. Ich hatte mich nicht absichtlich vor ihm versteckt.
»Als wir schließlich in Laramie ankamen, warst du bereits verschwunden und niemand aus dem Wyominger Team konnte uns verraten, wo du bist«, fuhr Lockenbubi fort. »Leider konnten wir ihnen auch nicht sagen, dass du unser neu berufener Skorpion bist, weil das schlichtweg unmöglich ist«, fügte er mit einem scharfen Blick an Drake gerichtet hinzu, ehe er sich wieder mir widmete. »Nun ja, und da du in der Zwischenzeit auch nicht in New Haven aufgetaucht bist, haben wir uns auf die Suche nach dir gemacht.«
Ich nickte langsam, um zu zeigen, dass ich mental weiterhin anwesend war. Jedoch bedeutete das nicht, dass ich die so eben gehörten Worte richtig verstanden hatte. Ständig war von meiner Berufung die Rede, ohne dass ich den leisesten Dunst hatte, was damit gemeint war. Und wieso hätte ich überhaupt nach New Haven gehen sollen? Ich kannte niemanden dort.
»Ich sehe, dass du Angst hast und verwirrt bist«, fuhr Lockenbubi in einfühlsamer Tonlage fort und meine Anspannung ließ weiter nach. Es war verrückt und insgeheim glaubte ich auch, dass es hierbei nicht mit rechten Dingen zuging. Doch ich war machtlos. Wie hypnotisiert hing ich an seinen Lippen. »Und um ehrlich zu sein, geht es mir nicht anders. Erst verschwindet ein Mitglied unseres Teams, dann taucht nach fünfhundert Jahren urplötzlich ein Lichtwesen auf. Und jetzt sieht es so aus, als wüsstest du überhaupt nicht, wovon ich rede.« Sein Lächeln wirkte immer angestrengter. »Wie du siehst, gibt es viel zu besprechen. Aber das sollten wir auf später verschieben – erst müssen wir uns in Sicherheit bringen. Wenn du also die Güte besitzen würdest …« Er reichte mir die Hand und ich wollte einem ersten Impuls folgend die Einladung annehmen.
Doch ein bedrohliches Knurren, das meine Muskeln zum Vibrieren und meinen Herzschlag zum Gallopieren brachte, ließ mich innehalten.
Mein Kopf drehte sich wie von selbst herum, bis ich dem Ursprung des Knurrens mitten ins Gesicht sah. Nun verstand ich, warum Leute von einer Sekunde auf die andere religös wurden. Auch mich überkam der schlagartige Wunsch, ein Gebet gen Himmel zu schicken.
»Heilige Scheiße«, entfloh es mir zum dritten und vermutlich auch zum letzten Mal – und zwar für alle Zeit.