Kapitel Zwölf
N ach Drakes kleiner Ansprache hatte es sich der Drache an Ort und Stelle gemütlich gemacht und war eingeschlafen. Am liebsten hätte ich ihn geweckt und ihm klargemacht, dass ich kein Drachenbett war – wer wusste schon, ob er im Schlaf nicht sabberte. Aber je länger ich das kleine Wesen beim Träumen beobachtete, um so weniger hatte ich es übers Herz gebracht. Seine Anwesenheit fühlte sich angenehm beruhigend an. Fast wie bei einer Babykatze.
Vielleicht konnte ich Drake beibringen zu schnurren, wenn ich ihn kraulte?
Davon abgesehen musste ich zugeben, dass mir der Drache geholfen hatte. Sein Gerede hatte einen Entschluss in mir reifen lassen. Wenn ich Antworten auf meine Fragen erhalten wollte, musste ich mich Lockenbubi und seiner Truppe stellen. Ganz egal, wie mies mein Bauchgefühl dabei war.
Schätzungsweise eine Viertelstunde nachdem Drake eingeschlafen war, setzte das angekündigte Kribbeln in Fingerspitzen und Zehen ein. In Rekordzeit breitete es sich aus und hielt weitere Minuten an. Doch als es anschließend abebbte, erhielt ich endlich die Kontrolle über meinen Körper zurück und hätte vor Freude weinen können.
Man wusste etwas derart Selbstverständliches wie funktionierende Muskeln erst zu würdigen, wenn man eine gewisse Zeit darauf hatte verzichten müssen.
Nach einem letzten Check, ob mein Körper auch wirklich wieder auf mich hörte, sprang ich aus dem Bett, was Drake unsanft auf die Matratze katapultierte.
Ein empörtes Grummeln erklang, doch der Drache schlief umgehend wieder ein, weshalb ich seinen Protest nur halbherzig zur Kenntnis nahm – ganz im Gegensatz zu dem Schwindel, der von mir Besitz ergriff.
Ich atmete gegen das Drehgefühl an und nachdem ich mir sicher war, dass mich mein Kreislauf nicht erneut bei der kleinsten Bewegung verließ, sah ich mich um. Aus dieser Perspektive wirkte die Krankenstation schon sehr viel weniger einschüchternd. Mein Bett war eines von zweien, die in einem Raum mit orange gestrichenen Wänden und dekorativen Landschaftsbildern standen. Das fehlende Tageslicht wurde durch verschiedene Steh- und Tischlampen kompensiert, und abgesehen von Apparaturen, die auf einer Krankenstation nicht fehlen durften, stand neben dem Schreibtisch, an dem Lockenbubi zuvor gelehnt hatte, ein Teeservice mit einem Plätzchenteller.
Meine Kleidung fand ich ordentlich gefaltet auf einem Stuhl hinter dem Bett. Sie roch nach Waschmittel und bestätigte Lockenbubis Geschichte.
Ich tauschte das Krankenhaushemdchen gegen den Lutscher-Pullover, die Skinny Jeans und meine Ankle Boots, und fühlte mich gleich um Welten besser – auch wenn mein Bein hin und wieder schmerzhaft zog und ich gerade für eine Dusche töten könnte.
Die Jacke über den Arm gehängt, begab ich mich zum Ausgang.
»Ich hoffe für dich, dass du nicht vorhattest, ohne mich abzuhauen.« Den Kopf träge erhoben, schaute mich Drake verschlafen an.
»Natürlich wollte ich das«, sagte ich. »Du hast so friedlich ausgesehen, da wollte ich dich nicht wecken. Ich meine, irgendwann muss ich ja auch mal die Ruhe genießen, ohne dein ständiges Geschnatter im Ohr.«
Drake gähnte herzhaft und entblößte seine Vampirzähne. Dann fauchte er leise, als würgte er etwas bereits Verdautes wieder hoch. Ehe ich begriff, was er plante, war er auf mich zugeflogen und hatte sich auf meine Schulter gesetzt. Nachdem er sich erneut zu einer Schnecke zusammengerollt hatte, legte er die längliche Nase auf seinen Krallen ab und schloss genießerisch die Augen.
»Liegst du bequem?«, fragte ich sarkastisch, erhielt jedoch nur ein gemurmeltes »Geht schon«, bevor ein neues Schnarchen ertönte.
Kurz war ich versucht, den Drachen dieses Mal von mir zu jagen. Aber ich entschied mich dagegen. Wenn ich mich schon in die Höhle des Löwen vorwagte, konnte ein Trumpf im Ärmel nicht schaden. Sollte es Probleme geben, würde Drake Lockenbubi und seine Crew in Grund und Boden lamentieren, während ich die Kurve kratzte.
Diese Aussicht entlockte mir ein Lächeln, gleichzeitig löste ich das Haarband, das meine geflochtenen Locken zusammenhielt, und fächerte sie mit den Fingern auf. Ich wollte mein kleines lila Geheimnis vorerst für mich behalten, bis ich herausgefunden hatte, ob diese Lichtwesen wirklich so bedeutsame Kreaturen waren, wie Lockenbubi angedeutet hatte.
Meine dicke Mähne fiel wie ein Vorhang um Drake, und dank seiner natürlichen Schuppenfarbe tarnte er sich zwischen den Strähnen besser als jedes Chamäleon.
Zufrieden mit dem Ergebnis öffnete ich die weiße Holztür und fand mich kurz darauf in einem von Neonröhren beleuchteten Flur wieder. Weiß verputzte Wände, grauer Betonboden, sowie links und rechts je zwei Türen, die laut den Beschriftungen zu Umkleideräumen und Trainingshallen führten, waren alles, was es zu entdecken gab.
Bumm!
Bumm!
Bumm!
Pause.
Dumpfe Schlaggeräusche drangen zu mir vor und setzten sich in einem schnellen, heftigen Rhythmus fort.
Bumm!
Bumm!
Bumm!
Pause.
Jeder Schlag traf mich mitten ins Herz. Mein Puls beschleunigte sich und Gänsehaut überzog meinen gesamten Körper. Sogar die feinen Härchen in meinem Nacken standen stramm.
Was zum Henker war jetzt schon wieder los mit mir? Seit wann reagierte ich so intensiv auf gewöhnliche Trainingsgeräusche? Und wieso kehrte auf einmal dieses widersprüchliche Gefühl zurück, als würde ich gen Boden gedrückt und in die Luft gezogen werden?
So unvermittelt, wie er eingesetzt hatte, brach der Schlagrhythmus ab und Stille erfüllte den Flur.
Wer auch immer da gerade trainierte, schien bemerkt zu haben, dass er nicht länger allein war.
Neugier kochte in mir hoch und ein Teil von mir wollte die Tür zum Trainingsraum öffnen und nachsehen.
Doch ehe ich diesem Drang nachgeben konnte, riss mich ein Drachenschnarchen aus meiner Hypnose.
Schnell, ehe ich etwas Blödes tat, eilte ich den Flur entlang, was das Ziehen in meinem Bein zu einem unangenehmen Pochen mutieren ließ. Doch ich ignorierte es und folgte dem Weg die geländerlose Steintreppe hinauf, bis ich auf der Schwelle zum nächsten Raum zum Stehen kam.
Schlagartig fühlte ich mich wie in eine andere Welt katapultiert.
Der schmucklose Kellerflur mündete in einer großzügigen Galerie mit hoher Decke, frei stehender Treppe und dickem Teppich auf dunklem Holzboden. Ein altmodischer Lüster verströmte gemeinsam mit ein paar antiken Wandleuchten und einer Stehlampe ein gemütliches Licht, das im starken Kontrast zu der Stadionbeleuchtung ein Stockwerk tiefer stand. Steinbüsten, die auf dunklen Tischen standen, gehörten ebenso zur Einrichtung wie Grünpflanzen und die in Goldrahmen gefassten Porträtbilder an den holzvertäfelten Wänden.
Jeder Zentimeter roch nach Geld, Einfluss und Macht. Und obwohl ich mir darüber zuvor keine Gedanken gemacht hatte, entsprach diese Art von Hauptquartier genau dem, was man sich für eine magische Geheimgesellschaft vorstellte.
Mein Staunen wurde von gedämpften Stimmen unterbrochen, die aus einem angrenzenden Zimmer zu mir drangen. Obwohl ich kein Wort verstand, war es offensichtlich, dass hitzig diskutiert wurde.
»Genug jetzt!«, polterte Lockenbubis Timbre unverkennbar durch das Erdgeschoss. »Ich habe ihr gesagt, dass sie, wenn sie sich dazu entscheidet, gehen zu wollen, es jederzeit tun kann – und zwar ohne Angst haben zu müssen, dass ihr jemand von uns folgt.«
»Jackson hat recht«, räumte der Typ aus dem Krankenzimmer ein. Auch seine Reibeisenstimme war unmöglich zu verwechseln. »Wenn wir damit beginnen, Leute gegen ihren Willen festzuhalten, sind wir nicht besser als die, die wir jagen.«
Erneut war Gemurmel zu hören, das nach und nach zu einem vernehmbaren Durcheinander anschwoll, bis Lockenbubi erneut die Führung übernahm.
»Beruhigt euch, Leute! Ich weiß, dass ihr euch Sorgen macht – mir geht es nicht anders. Aber uns bleibt nichts anderes übrig, als Juneaus Entscheidung abzuwarten.«
Falls jemand etwas auf Lockenbubis – vielleicht sollte ich damit beginnen, ihn Jack beziehungsweise Jackson zu nennen? – Worte erwiderte, bekam ich dies nicht mit.
Ohne Vorwarnung ergriff wieder dieses merkwürdige Gefühl von mir Besitz. Nur, dieses Mal war es noch intensiver, weshalb ich auf dem Absatz herumwirbelte und prompt von einer Mauer aus bronzefarbener Haut aufgehalten wurde. Sie schimmerte feucht, und der schwere Duft frischen Schweißes vermischt mit dem Gestank von Metall stieg mir in die Nase.
Ansehnliche Brust- und Bauchmuskeln prangten wenige Zentimeter vor mir, und ich musste mich dazu zwingen, nicht dem Schweißtropfen zu folgen, der sich gefährlich weit in Richtung Süden schlängelte, ehe er vom Saum einer tief sitzenden Trainingsshorts verschlungen wurde.
Hart schluckend sah ich auf, und entdeckte dabei zufällig zwischen den hellen Bändern, mit denen mein Gegenüber seine Fingerknöchel umwickelt hatte, einen klobigen Silberring mit einem hellblauen Stein. Ob wohl alle Männer hier mit altmodischen Ringen umherliefen? Aber das war nicht die einzige Art von Schmuck, die mein Gegenüber, der zweifelsfrei derjenige war, der unten im Trainingsraum gewesen war, trug. Um seinen Hals schmiegte sich ein dünnes Lederband, an dem ein silberner Anhänger hing. Ein in einen Bogen eingespannter Pfeil. Trotz seiner Schlichtheit war das Symbol wunderschön.
Ich spürte einen schweren Blick auf mir und hob rasch den Kopf.
Der Typ überragte mich um mehrere Zentimeter und strahlte eine unleugbare Rohheit aus. Trotzdem entdeckte ich auch weiche Züge in seinem kantigen Gesicht. Volle Lippen und eine Nase, die trotz ihrer leichten Krümmung etwas Aristokratisches besaß. Das dunkle Haar, das er sich aus dem Gesicht gebunden hatte, schimmerte seidig und eine feuchte Locke klebten ihm an der Schläfe.
Aber das Beeindruckendste waren seine Augen. Unter dunklen und auf einer Seite durch eine Narbe geteilten Brauen wurden sie von beneidenswert dichten Wimpern umrahmt. Ihre Farbe war nicht einfach Braun, nicht einmal Hellbraun traf es. Viel mehr erinnerten sie an dunklen Bernstein. Dunkler Bernstein mit winzigen Lichtreflexen, fast so, als würden Sonnenstrahlen aus einem Meer aus Gewitterwolken hindurchstrahlen.
Oder als würde Trauer durch die Risse einer Mauer aus Schmerz und Einsamkeit hervorblitzen.
»Wenn du dich schon wie ein Angsthase versteckst und Privatgespräche belauschst, die dich einen feuchten Dreck angehen, dann steh dabei wenigstens nicht im Weg!«
Er sah hinab auf meine Brust, die bei jedem Atemzug seiner gefährlich nah kam. »Lollipop «, fügte er so abfällig hinzu, dass es wie eine Beschimpfung klang. Seine Augen funkelten wütend.
Ich erwiderte sein Starren, bis ich dem Druck nicht länger standhielt und gezwungen war wegzusehen. Am liebsten hätte ich mich dafür geohrfeigt. Stattdessen krallte ich die Finger in meine Jacke.
Mit einem Schnauben schob sich der Typ so dicht an mir vorbei durch den Türrahmen, dass seine verschwitzte Brust meine streifte und meinen Pullover einsaute.
Sprachlos sah ich dem Typen nach, als dieser die Treppe auf der anderen Seite der Galerie ansteuerte.
Was bildete sich dieser arrogante Gorilla eigentlich ein? Weder war ich ein Angsthase noch hatte ich irgendwelche Privatgespräche belauscht! Und überhaupt, was konnte ich dafür, wenn er sich wie ein Ninja an mich heranschlich? Hatte er noch nie etwas von »Dein Tanzbereich, mein Tanzbereich gehört«?
Zu gern hätte ich meine Gedanken dem Vollpfosten entgegengeworfen. Aber zum einen war er schon zu weit weg, sodass ich hätte regelrecht brüllen müssen, zum anderen bemerkte ich eine Bewegung von der Seite.
Lockenbu- … Jackson war auf der Schwelle zur Galerie erschienen und sah mich mit ausdrucksloser Miene an. Er hielt sich an sein Versprechen.
Ich schielte in Richtung der Eingangstür. Ich hätte nur durch das Doppelflügeltor aus dunklem Holz treten müssen und schon wäre ich frei.
Und was dann?
Wie sollte es weitergehen? Würde ich für den Rest meines Lebens auf der Flucht sein müssen? Mich bei jedem noch so unbedeutenden Geräusch ängstlich umschauen, ob erneut irgendetwas hinter mir her war?
Nein, das war keine Option.
Ich hielt an meinem getroffenen Entschluss fest.
Vielleicht beging ich einen gigantischen Fehler – nach meiner Begegnung mit Mr Viele-Muskeln-aber-keine-Manieren war das sogar ziemlich sicher der Fall –, aber was hatte ich schon zu verlieren? Meinen Verstand? Dieser Zug war längst abgefahren.
»Ich hoffe, ihr habt anständigen Kaffee hier. Sonst bin ich schneller weg, als dir Drake auf den Keks gehen kann«, sagte ich zu Jackson. Sein Pokerface verrutschte für den Bruchteil einer Sekunde und ich konnte Erleichterung in seinen Iriden aufblitzen sehen. Auch seine Mundwinkel zuckten, als ich der Eingangstür den Rücken kehrte und auf ihn zuging.
»Wenn wir uns mit einer Sache brüsten können, dann, dass wir den besten Kaffee haben, den du jemals trinken wirst.«
Ich hoffte inständig, dass er die Wahrheit sagte. Um das Kommende zu überstehen, wäre der weltbeste Kaffee gerade einmal das Mindeste.