Kapitel Dreizehn
D er Raum, in den Jackson mich führte, entpuppte sich als geräumige Küche mit weißen Einbauschränken, modernen Geräten und einem großen Tisch, an dem eine Handvoll Leute saßen. Sie waren schätzungsweise alle in meinem Alter und sahen mich teils freundlich, teils skeptisch, aber definitiv allesamt äußerst neugierig an, fast so, als wäre ich ein Affe im Zoo.
»Leute, das ist June«, stellte mich Jackson vor. »June, das sind Lincoln, Tallahassee, Olympia und Raleigh.« Er deutete der Reihe nach auf einen Mann und drei Frauen. Der Typ – ich war viel zu überfordert, um mir auf Anhieb alle Namen merken zu können –, besaß ein ovales Gesicht mit kurzen dunkelbraunen Haaren, die er zu einem klassichen Fassonschnitt trug. Seine moosgrünen Augen schauten ernst, aber nicht unfreundlich drein, und seine Lippen zeigten ein höfliches Lächeln.
Die Frau neben ihm hätte keinen stärkeren Kontrast zu ihm bilden können. Obwohl sie, ebenso wie ihr Sitznachbar, ein schwarzes Polohemd trug, strahlte sie etwas Anmutiges aus, was nicht zuletzt daran lag, dass ein Großteil ihres nussbaumholzfarbenen Gesichtes hinter einem langen, bis zum Kinn reichenden Pony aus schwarzen, sicherlich mühevoll geglätteten Haarsträhnen lag. Ihre Iriden leuchteten so golden, dass ich unweigerlich an den Blick einer Raubkatze denken musste.
Die Frau daneben war ebenfalls eine wahre Schönheit mit ihrem gebräunten Teint und den kunterbunten Korkenzieherlocken, die bei jeder noch so kleinen Bewegung wippten. Ihre freundlichen Augen glänzten wie flüssige Schokolade und waren unverhohlen auf mich gerichtet. Aber im Gegensatz zu den anderen, fühlte ich mich bei ihr weniger angestarrt.
Ähnlich erging es mir mit ihrer Sitznachbarin. Jedoch stierten sie mich so unfreundlich an, dass das Blau ihrer Augen wie Eis schimmerte. Mit den pechschwarzen Haaren, die ihr glatt und seidig bis über die Schultern reichten, und den blutrot geschminkten Lippen, die missmutig verzogen waren, sah sie aus wie eine richtig angepisste Version von Schneewittchen.
Ich schluckte hart, ehe ich mich der letzten Person am Tisch widmete. Seinen Namen hatte Jackson nicht erwähnt, da war ich mir sicher.
Befangen betrachtete ich auch ihn genauer – was nicht schwer war, denn der Typ mit der blank polierten Glatze und den kleinen, tiefdunklen Augen war im Sitzen so groß wie ich im Stehen. Er hatte die Statur eines Kleiderschranks und seine Oberarme waren dicker als meine Waden. Mit den schwarzen Linien, die sich unter seinem olivgrünen T-Shirt hervorschlängelten, gab er ein einschüchterndes Bild ab.
»Charleston Montgomery, unseren Heiler, kennst du ja bereits«, sagte Jackson mit einem amüsierten Unterton, den ich auf meine entgleiste Mimik schob.
Das sollte der Typ sein, der vorhin in meinem Krankenzimmer gewesen und so unschuldig vor sich hin gepfiffen hatte? Zwar passte sein Äußeres zur Reibeisenstimme. Aber den leichtfüßigen Gang von vorhin konnte ich nicht mit ihm in Einklang bringen.
Charleston nickte mir schweigend zu und ich erwiderte die Geste, in Ermangelung besserer Einfälle. Vielleicht hätte ich so etwas wie »Danke für die Drogen, das war echt guter Stoff« sagen sollen. Aber ich wusste nicht, ob mein Witz richtig rüberkommen würde, und ich wollte vermeinden, dass mich die anderen für einen Junkie hielten.
»Du bist also der heimatlose Skorpion«, beendete die Schwarzhaarige die Stille mit schneidender Tonlage. »Interessant. Nach Jacksons Beschreibung hatte ich erwartet, dass du hübscher bist.«
»Bedenkt man dein Sternzeichen, solltest du nicht so ein Miststück sein«, konterte die Frau mit den Regenbogenhaaren, ehe ich auch nur die Chance hatte zu reagieren. Jackson hatte mich »hübsch« genannt? Ich war mir nicht sicher, was ich davon hielt. »Tja, das Leben ist nun mal voller Überraschungen – und in deinem Fall sind diese in letzter Zeit immer seltener positiver Natur.« Sie bedachte ihre Sitznachbarin mit einem so falschen Lächeln, dass meine Mundwinkel zuckten.
»Ladies«, seufzte Jackson erschöpft und verhinderte dadurch, dass die Schwarzhaarige zu einem Gegenschlag ansetzte. »Können wir den Catfight auf später verlegen?« Er massierte sich mit Daumen und Zeigefinger den Nasenrücken. »Im Moment haben wir dringendere Fragen zu klären. Fragen, bei denen uns June womöglich helfen kann.« Trotz des freundlichen Lächelns wirkte er angeschlagen. »Ich habe darüber nachgedacht, was du zu mir auf der Krankenstation gesagt hast. Und du hast recht. Ich habe die aktuelle Situation nur aus unserer Perspektive betrachtet, ohne mir Gedanken darüber zu machen, wie sich das Ganze womöglich auf dich auswirkt. Das war falsch und es tut mir aufrichtig leid. Kannst du mir verzeihen?«
Diese Worte wurden von einem derart charismatischen und gleichzeitig demütigen Mienenspiel begleitet, dass ich gar nicht anders konnte, als zu nicken.
Aus Richtung der Schwarzhaarigen erklang ein abfälliges Schnauben, das Jackson mit einem Funkeln kommentierte.
Unweigerlich überkam mich eine Woge von Mitgefühl. Es musste hart sein, der Anführer einer Gruppe mit so unterschiedlichen Persönlichkeiten zu sein. Denn, wenn ich das alles richtig verstand, und die Lunaris den zwölf Tierkreiszeichen entsprachen, konnten die Charaktereigenschaften der Mitglieder nicht verschiedener sein.
»Wie dem auch sei«, sprach Jackson betont ruhig weiter. »Ich bin mir sicher, dass sich ein Großteil von sowohl deinen als auch unseren Fragen klären lässt, wenn du uns erzählst, was dir seit deiner Berufung widerfahren ist.«
»Oh, wie schön. Gleich gibt es eine Märchenstunde«, wisperte die Schwarzhaarige gerade laut genug.
»Okay, das reicht jetzt!«, mischte sich nun wieder die Rainbow Hair Lady ein. Der ganze Schlagabtausch fand so schnell statt, dass ich Mühe hatte zu folgen. »Wenn du, Jackson, zu fertig bist, um ohne Annas Fähigkeit zu erkennen, dass June gerade völlig überfordert ist, dann muss ich eben ein Machtwort sprechen!« Sie erhob sich von ihrem Platz und sah mit in die Hüften gestemmten Händen in die Runde. In der dunklen Jogginghose und dem rosafarbenen Crop Top wirkte sie nicht so einschüchternd, wie sie es vermutlich wollte. Dennoch bezweifelte ich nicht, dass sie sich mit Leichtigkeit Respekt verschaffen konnte, wenn sie es darauf anlegte. »Wenn unser Captain sagt, dass June eine von uns ist, dann ist das so. Und niemand hat das Recht, diese Worte anzuzweifeln – egal, ob uns das gefällt oder nicht.« Beim letzten Satz sah sie die Schwarzhaarige bedeutungsvoll an. »Also hört auf, June zu behandeln, als stände sie vor Gericht. Sie hat nichts verbrochen. Ganz im Gegenteil. Es ist mehr als offensichtlich, dass sie ebenso verwirrt, ängstlich und besorgt ist wie wir alle.« Sie ließ die Arme sinken, trat an dem Tisch vorbei und kam geradewegs auf mich zu. Warm lächeld reichte sie mir die Hand. »Hi. Ich bin Olympia, aber nenn mich ruhig Olly. Und ich bin hier der Stier«, fügte sie hinzu, als würde das alles sagen, was ich über sie wissen musste. Aber vermutlich glaubten diese Leute das tatsächlich. Für sie waren ihre Sternzeichen Statussymbole, über die sie sich profilierten.
Eher aus Reflex ergriff ich die dargebotene Hand und drückte sie kurz. Ollys Haut war warm und weich und als wir einander ansahen, wurde ihr Lächeln eine Spur herzlicher.
Es dauerte nicht lange, bis sich auch meine Mundwinkel hoben. Sie musste diejenige sein, die meine Klamotten gewaschen hatte.
»Freut mich, Olly«, sagte ich aufrichtig und ließ ihre Hand los. »Und danke für das Wäschewaschen«, schob ich leiser nach.
Olly nickte, dann wandte sie sich Jackson zu.
»Ich werde June jetzt nach oben bringen, damit sie sich etwas frisch machen und ausruhen kann. Nach über vierundzwanzig Stunden auf der Krankenstation könnte ich eine Dusche kaum noch erwarten.«
Vor Entsetzen verlor ich die Kontrolle über meine Gesichtszüge. Ich war einen vollen Tag lang ausgeknockt gewesen?
Wie war das möglich?
Klar, Jackson hatte erwähnt, dass ich unter Schmerzmitteln und Muskelrelaxanzien gestanden hatte. Aber war das der einzige Grund, oder hatte dieser Schattenbrand etwas damit zu tun?
Ohne eine Erwiderung abzuwarten, hakte sich Olly bei mir unter, wodurch ich fast meine Jacke verlor.
»Komm, ich zeig dir dein Zimmer.«
»Olly«, sagte Jackson. Er klang müde, aber gleichzeitig irgendwie warnend. »Der Abendappell beginnt in fünfzehn Minuten. Denkst du nicht, dass es angebracht wäre, dass June –«
»Sich jetzt ein wenig ausruht, während wir anderen unseren Job machen? Doch, da gebe ich dir voll und ganz recht.« Sie bedachte Jackson mit einem liebevollen Lächeln und zog mich gleichzeitig aus der Küche. »Und ich verspreche dir, ich bin rechtzeitig zurück.«
»Du weißt, dass ich das nicht gemeint habe.« Jackson seufzte frustriert.
»Natürlich weiß ich das«, flötete Olly, ohne stehen zu bleiben. »Und später darfst du mich dafür auch gern tadeln. Aber jetzt muss ich mich um June kümmern.« Sie beschleunigte ihre Schritte und wurde erst in der zweiten Hälfte der Galerie wieder langsamer.
»Nimm es Jackson nicht übel«, sagte sie und führte mich die Treppe empor. Ein dicker, roter Teppich schluckte die Geräusche unserer Schuhe, und der lackierte Handlauf der aus Mahagoni bestehenden Freitreppe fühlte sich glatt und geschmeidig unter meinen Fingern an.
»Normalerweise ist er nicht so ein Idiot. Aber er hat, seit er mit dir zurückgekehrt ist, kein Auge mehr zugemacht – und bestimmt auf der Suche nach dir kaum geschlafen.« Ein Schatten lag in ihrem Blick, den sie jedoch schnell wegblinzelte und sich wieder ein fröhliches Lächeln ins Gesicht zauberte. »Trotzdem ist das kein Grund, dich den Wölfen zum Fraß vorzuwerfen. Soll er mich doch zur Schnecke machen, weil ich dich aus der Schusslinie gebracht habe. Ich stehe zu meiner Meinung. Niemand sollte zu einem Abendappell gezerrt werden, wenn er nicht einmal initiiert wurde.«
Sprachlos über die vielen Worte, die Olly aus dem Mund kamen, starrte ich sie an. Obwohl ich nur einen Bruchteil des Gesagten verstand, war ich ihr für ihre Entführung dankbar – die Aussicht auf eine Dusche war unglaublich verlockend.
»Wo genau bringst du mich eigentlich hin? Ich meine, wir wissen beide, dass ich hier kein Zimmer habe.«
»Ich habe das Gästezimmer im zweiten Stock für dich hergerichtet. Ich weiß, Gästezimmer haben den Ruf, nicht sonderlich heimelig zu sein. Aber ich hoffe, du wirst dich trotzdem wohlfühlen. Ich habe mir jedenfalls große Mühe gegeben. Die Bettwäsche ist frisch und ich habe dir eine Auswahl an Klamotten besorgt – deine Größe kenne ich ja inzwischen.« Sie warf mir ein Zwinkern zu. »Genauso habe ich dir Hygieneartikel und den ganzen Kram besorgt, den man so braucht, wenn man bei einer Horde fremder Personen strandet und nichts bei sich trägt, außer mit Bier übergossene Kleidung.«
Olly schmunzelte, doch ich teilte ihre Erheiterung nicht. Stattdessen hatte ich wegen ihrer Geste einen dicken Kloß im Hals und ich musste mich räuspern, um überhaupt einen Ton über die Lippen zu bekommen.
»Du hast mir ein Gästezimmer hergerichtet? Aber wieso? Ich meine, du kennst mich doch gar nicht. Vielleicht bin ich ja eine noch größere Zicke als die Schwarzhaarige.«
Olly sah mich kurz verdutzt an, dann lachte sie leise. Der Klang war so hell und sympathisch, dass sich der Knoten in meiner Brust ein Stück lockerte.
»Ich bezeifle, dass es jemanden auf der Welt gibt, der noch zickiger ist als Raleigh zurzeit. Doch es spielt keine Rolle, ob ich dich kenne oder nicht. Du bist eine Lunaris – eine von uns.« Sie ließ meinen Arm los und schloss ihre Finger um meine, wobei ihr Silberring, den ein ovalförmiger Bernstein zierte, gegen meine Haut drückte.
Ohne uns abzusprechen, blieben Olly und ich auf derselben Stufe stehen. »Wir sind eine Familie und halten zusammen. Ganz egal was kommt. Das gilt für dich ebenso wie für Raleigh – was im Übrigen der einzige Grund ist, wieso ich ihr noch nicht den Hals umgedreht habe.«
Erneut schmunzelte Olly und dieses Mal zuckten auch meine Mundwinkel. Ihre Herzlichkeit tat gut.
»Nun müssen wir uns aber beeilen«, sagte Olly, vermutlich weil sie bemerkte, dass mich die ganze Situation zu übermannen drohte. »Ich darf nämlich auf keinen Fall zu spät zum Appell kommen. Es ist eine Sache, Jackson die Stirn zu bieten und dich zu entführen. Aber Unpünktlichkeit? Dafür droht einem hier die Todesstrafe.« Die Finger noch immer mit meinen verschränkt, hetzte sie die restlichen Stufen hoch und zog mich dabei unerbittlich mit sich.