Kapitel Sechzehn
D ie Stille, die folgte, war ohrenbetäubend. Alles in meinem Inneren zog sich zusammen und mein Puls schoss in die Höhe. Weder wusste ich, was das alles zu bedeuten hatte, noch kannte ich einen der verschwundenen Lunaris persönlich. Dennoch spürte ich die Sorge der Anwesenden, als wäre sie meine eigene. Wie ein bösartiger Tumor mutierte sie, bis ich die Lippen fest aufeinanderpressen musste, um dem Drang zu widerstehen, mich auf der Stelle zu übergeben.
»Ich wünschte, ich könnte jedem von euch die Zeit geben, diesen Schock zu verarbeiten«, sprach Anthony weiter. »Aber Arizona wurde das letzte Mal vor exakt sieben Tagen gesehen. Das bedeutet, uns bleiben nur drei Wochen, um sie zu finden und ihr hoffentlich das Schicksal zu ersparen, das den anderen Lunaris widerfahren ist.«
»Und wie sollen wir das schaffen?«, fragte der Typ mit der Streberfrisur. Wie allen anderen stand ihm der Schreck deutlich ins Gesicht geschrieben. »Wir suchen bereits seit einer Woche nach Arizona. Aber jede noch so winzige Spur, der wir bisher nachgegangen sind, hat sich als Sackgasse entpuppt. Ganz zu schweigen davon, dass wir kaum noch unserem eigentlichen Job, der Jagd auf Shadows, gerecht werden. Wir sind am Ende unserer Kräfte.«
»Das verstehe ich, Lincoln. Aber wenn wir jetzt aufgeben, wird nicht nur Arizonas Blut an unseren Händen kleben, sondern auch das jedes weiteren Lunaris, der ihr folgt.«
Jacksons Blick jagte in meine Richtung, ohne dass ich den Grund dafür nennen konnte.
Das Knacken eines Holzscheits lenkte meine Aufmerksamkeit auf den Kamin und weiter auf den Schützen. Obwohl Anthonys Worte alle getroffen hatten, schien er am stärksten erschüttert. Die Hände zu Fäusten geballt, stand er regungslos da. Sein Blick war leer und die übliche Arroganz aus seiner Miene gewichen. Nur eine bodenlose Furcht war geblieben. Was es auch war, das ihn und die verschwundene Arizona miteinander verband, sie war nicht irgendwer für ihn.
»Ey, Doc«, rief Denver. »Hast du noch ein paar Details für uns, was die Leichen angeht? Zum Beispiel, wie genau sind sie aufgetaucht? Wo und wann wurden sie gefunden? In welchem Zustand haben sie sich befunden? Gibt es Rückschlüsse darauf, wie lange sie bereits tot waren, ehe man sie fand, oder was zu ihrem Tod geführt hat? Ich meine, ist klar, die ganze Sache ist extrem mindblowing. Aber davon ausgehend, dass Arizona noch am Leben ist – sonst wären wir alle nicht mehr hier –, brauchen wir so viele Infos wie möglich, damit das auch so bleibt.«
»Ich sag es wirklich nur ungern«, merkte Raleigh an, »aber der morbide Dummschwätzer hat recht. Zwar würde kein Mensch, der noch einen Krümel Hirnmasse besitzt, diese Fragen im Beisein von Phoenix stellen«, sie warf Denver einen wütenden Seitenblick zu, ehe sie sich wieder Anthony widmete, »aber die Antworten sind auf jeden Fall von Bedeutung. Wir können unseren verstorbenen Brüdern und Schwestern aus den anderen Teams nicht mehr helfen, aber wir können alles daransetzen, Arizona und andere Lunaris vor demselben Schicksal zu bewahren.« Sie sah in Richtung Kamin und zum ersten Mal meinte ich, so etwas wie Wärme in ihren eisblauen Augen zu erkennen. »Phoenix? Wenn du willst, können wir beide raus oder runter in den Trainingsraum gehen. Niemand würde es dir krummnehmen, wenn du etwas Abstand brauchst.«
Der Schütze reagierte nicht sofort. Als würde sein Verstand mit dem Betriebssystem Windows 95 arbeiten, ruckte sein Blick deutlich verspätet zu seiner Kollegin, ehe er – noch einige Sekunden später – ein knappes Kopfschütteln zustande brachte.
»Sind wir uns wirklich sicher, dass Arizona noch am Leben ist?«, fragte nun die Raubtier-Lady. Die Schärfe in ihrer Stimme jagte mir einen unangenehmen Schauder über den Rücken. Sie hatte irgendetwas Lauerndes an sich. »Schließlich ist ihr Lumen bereits weitergewandert. Und das geschieht meines Wissens nur, wenn ein Lunaris stirbt.«
»Durch den Tod eines Lunaris lösen sich alle Lumen der Gruppe von ihren Wirten und kehren geschlossen zur Mondgöttin zurück«, kam es von Austin, als rezitierte er ein Gesetzbuch. Dabei klang er so emotionslos wie ein Roboter, obwohl auch er mitgenommen aussah.
»Dann sollten wir vielleicht hinterfragen, ob Arizonas Lumen wirklich weitergewandert ist.« Die Raubtier-Lady drehte sich zu mir herum und ihre Anschuldigung schwebte unsichtbar durch den Raum.
Glücklicherweise übernahm Anthony erneut die Führung des Gesprächs.
»Freunde! Wie ich bereits sagte, ist es mir zum aktuellen Zeitpunkt nicht möglich, all eure Fragen zu beantworten. Jedoch sollten wir uns jetzt nicht in Spekulationen und Verschwörungstheorien verrennen, die uns nur von den Fakten ablenken. Deshalb bitte ich euch inständig , seht davon ab, eure Gedanken an die Dunkelheit zu verlieren. Lenkt eure Energie stattdessen in eine positive Richtung. Auf diese Weise helft ihr Arizona am meisten. Ich verspreche euch, dass ich euch sofort Bescheid gebe, sobald ich Neues weiß.« Er sah eindringlich in die Runde. »Bis es jedoch so weit ist, möchte ich noch eine Sache loswerden: So nachvollziehbar eure Skepsis June gegenüber auch scheinen mag, solltet ihr noch einmal in euch gehen und gründlich darüber nachdenken, ob sie wirklich gerechtfertigt ist. Denn abgesehen davon, dass June durch ihr Handeln in New York bewiesen hat, dass sie durch und durch eine Lunaris ist, haben Jackson und Charleston ihr Blut gründlich untersucht – und bestätigt, dass sie Arizonas Lumen in sich trägt. Hinzu kommt, dass June nicht der einzige Nachzügler ist, der von einem weitergezogenen Lumen auserwählt wurde, ohne dass sich die gesamte Gruppe aufgelöst hat. Auch die anderen Teams berichteten von solchen Vorfällen.«
»Wie bitte?«, hörte ich meine eigene Stimme durch das Wohnzimmer schallen. »Es gibt noch mehr Leute wie mich?«
In meinem Kopf rotierte es. Hatten die anderen Lunaris eine ähnliche Tortur hinter sich? Waren auch ihre Lumen defekt und mussten sie sich zusätzlich zu allem anderen dem Argwohn ihrer Teammitglieder stellen?
Während ich noch mit mir selbst darum feilschte, ob ich Anthony um ein Kennenlernen mit den anderen besonderen Lunaris bitten sollte, führte der Archivar ein wortloses Gespräch mit Jackson, und blieb mir dadurch eine Antwort schuldig.
»Das heißt, wir wissen nicht, ob Arizona noch am Leben ist oder nicht«, fasste Anna mit dünnem Stimmchen zusammen. Ihre Lippen bebten verräterisch und es hätte mich nicht überrascht, wenn sie in Tränen ausgebrochen wäre.
»Nein«, antwortete die Raubtier-Lady und ein wölfisches Grinsen umspielte ihre Mundwinkel. »Aber Arizona wäre es zu wünschen, dass sie tot ist. Ich jedenfalls wäre lieber Wurmfutter, als bei diesen Schatten-Freaks in Gefangenschaft zu sein. Wer weiß, was sie mit einem anstellen. Irgendwelche abgedrehten Experimente womöglich, so wie die Kreuzung eines Lunaris mit einem Shadow.«
»Talla!«, rief Anthony entsetzt und übertönte damit alle anderen. »Jetzt reicht es aber! Das ist genau die Art von Verschwörungstheorien, die ich meinte.« Er schüttelte entrüstet den Kopf. »Wie ich merke, macht es keinen Sinn, das Thema am heutigen Abend fortzuführen. Aus diesem Grund beende ich den Abendappell mit einer letzten Bitte: Sollte euch irgendetwas Verdächtiges auffallen – und sei es noch so lapidar –, meldet es umgehend. Mir. Jackson. Oder eurem Partner. Ganz egal. Aber Hauptsache, ihr informiert jemanden.« Er sah jeden Anwesenden eindringlich an. »Darüber hinaus gilt ab sofort eine neue Regel: Niemand von euch verlässt ohne seinen Partner das Haus! Ganz egal, ob am Tag oder in der Nacht. Solange wir nicht herausgefunden haben, was hier los ist, heißen unsere zwei obersten Prioritäten ›Arizona finden‹ und ›Dieses Team beschützen‹. Jackson und ich werden bis morgen Abend einen neuen Dienst- und Trainingsplan ausarbeiten, der uns unsere vorhandenen Ressourcen bestmöglich nutzen lässt und dennoch genügend Erholungsphasen ermöglicht. Bis es jedoch so weit ist, bleibt alles wie gewohnt. Und das bedeutet, dass jeder, der heute Nacht nicht auf Patrouille muss, sich in einer halben Stunde zum Training einfindet.« Er trat einen Schritt von seinem Stuhl zurück, woraufhin alle anfingen, wild durcheinanderzureden und sich in Richtung Ausgang begaben. Ich folgte ihnen, auch wenn meine Aufmerksamkeit dem Schützen galt.
Seit Raleigh ihn angesprochen hatte, wirkte er verändert. Äußerlich glich er noch immer einer Statue, doch in seinen bernsteingoldenen Augen tobte es. Gab er sich etwa die Schuld an Arizonas Entführung?
Aber warum? Was war zwischen ihnen vorgefallen?
Als würde Phoenix spüren, dass er die Hauptrolle in meinem Kopfkino spielte, drehte er sich langsam zu mir herum. Im Gegensatz zu den anderen hatte er seinen Platz nicht verlassen, sodass ich unweigerlich an ihm vorbeimusste.
Und genau dann geschah es: Unsere Blicke kollidierten, verschmolzen zu einer untrennbaren Kraft, und hielten mich an Ort und Stelle gefangen. Schicht für Schicht drang ich durch die inzwischen hauchdünne Fassade des Schützen, bis ich einen Punkt erreichte, ab dem es kein Zurück mehr gab.
Inmitten tosender Schuldgefühle, die drohten Phoenix’ Seele in die Tiefe zu reißen, entdeckte ich ein flackerndes Licht, das tapfer gegen die herrschende Finsternis ankämpfte. Und obwohl ich nicht wusste, woher dieses Verlangen plötzlich kam, hatte ich den unbändigen Wunsch, dieses Licht zu beschützen.
»Olympia? Wärst du so freundlich und würdest Phoenix hoch in sein Zimmer begleiten?« Anthonys Worte mochten vielleicht als Frage formuliert sein, aber in Wahrheit waren sie ein Befehl, und zerrten mich grob von der Klippe zurück, an deren Abgrund ich balancierte. »Er kann sicherlich eine Tasse Tee und ein wenig Gesellschaft gebrauchen. Ihr beiden seid heute Abend natürlich vom Training entschuldigt. Währenddessen würde ich dich, Jackson, darum bitten, June auf die Terrasse zu begleiten. Ich denke, es ist an der Zeit, dass wir drei uns unterhalten.«
»Ich brauche weder eine Tasse Tee noch einen Babysitter.« Phoenix’ tiefer Bariton ließ Olly innehalten. »Ich habe nämlich nicht vor, mich in meinem Zimmer zu verkriechen.«
»Ich denke nicht, dass es eine gute Idee ist, wenn du heute Abend am Training teilnimmst«, richtete Jackson das Wort an den Schützen. »Aris Verschwinden –«
»Ich habe auch nicht vor, am Training teilzunehmen«, fiel Phoenix seinem Anführer rüde ins Wort und ein Knurren grollte in seiner Brust. »Ich werde mit euch auf die Terrasse gehen und herausfinden, was sie «, er deutete mit einem Kopfnicken in meine Richtung, »über Arizonas Verschwinden weiß.«
»Phoenix«, kam es nun von Anthony. »Wir befinden uns in einer Situation, in der Fingerspitzengefühl vonnöten ist. June ist –«
»Sie ist der Skorpion«, beendete Phoenix Anthonys Satz. »Wie du dir sicher denken kannst, ist sich diesem Umstand niemand bewusster als ich. Aus diesem Grund solltet ihr besser sehr gute Gründe dafür haben, mich von dieser Unterredung auszuschließen. Denn ich habe sehr gute Gründe, mich ausgiebig mit dem Skorpion zu befassen. Wenn es sein muss, auch ohne euch als Anstandsdamen.«
Ein Schauder rieselte mir den Rücken hinab und eine Gänsehaut überzog meine Arme. War das gerade eine Drohung gewesen oder ein Versprechen? Vermutlich eine krude Mischung aus beidem.
»Komm, Lollipop. « Er machte sich auf den Weg zu jener Tür, von der ich bereits vermutet hatte, dass sie nach draußen führte. »Mal sehen, welche Überraschungen der heutige Abend noch für uns bereithält.«
Sprachlos starrte ich ihm nach, obwohl ich ihn am liebsten erwürgt hätte. Was bildete sich dieser überhebliche, selbstverliebte Arsch eigentlich ein? Glaubte er wirklich, mich einfach so herumkommandieren zu können? Vielleicht mochte er tief in seinem Inneren eine verletzte Seele besitzen, aber das erlaubte ihm noch lange nicht, mich hin und her zu schubsen.
»Du musst nur ein Wort sagen, June.« Jackson war hinter mich getreten und sein Atem streifte warm meine Wange. Inzwischen waren wir drei allein. Anthony und Olly hatten das Wohnzimmer ebenfalls verlassen. »Dann verpasse ich ihm Zimmerarrest, bis seine Enkelkinder ihren Collegeabschluss machen.«
»Danke für das Angebot«, erwiderte ich, ohne mich zu Jackson herumzudrehen. Phoenix’ Bild spiegelte sich im Glas der Terrassentür wider, wodurch es mir möglich war, zu erkennen, dass er mich nicht aus den Augen ließ. Der Typ glaubte trotz allem, was Anthony vorhin zu meiner Verteidigung vorgebracht hatte, dass ich irgendein Geheimnis verbarg. »Aber von mir aus, soll er ruhig dabei sein. Ich habe nichts zu verheimlichen.«
Jackson seufzte leise. Gleichzeitig zuckten Phoenix’ Mundwinkel, als hätte ich ihm mit meinen Worten genau in die Karten gespielt.
Dämmlicher, aufgeblasener Arsch! Mal sehen, ob es mir nicht gelingen würde, ihm sein bescheuertes Siegergrinsen aus dem Gesicht zu wischen.