Kapitel Zwanzig

I hr verarscht mich, oder? Phoenix? Er ist mein Partner? Ernsthaft?«

Ausgerechnet er?

Hatte ich bereits zuvor nicht gewusst, was ich von dieser komischen Verbindung halten sollte, schoss meine Abneigung exponentiell in die Höhe. Zwar begriff ich nun, wieso ich auf den Schützen so intensiv reagierte, aber erfreuen tat mich diese Erkenntnis ganz und gar nicht. Insbesondere nachdem Jacksons Erklärung diesem ganzen Partnerschaften-Kram eine gewisse Intimität verliehen hatte.

Phoenix, dieser elendige Mistkerl! Von wegen, dass ich den anderen etwas verheimlichte. Er war hier derjenige, der mir gegenüber nicht ehrlich gewesen war.

Wieso hat er nicht einfach gesagt, wer er ist und was diese ätzende Empfindung zu bedeuten hat, die wir beideich war mir sicher, dass er dieses widersprüchliche Gefühl ebenfalls bemerkt hattespüren?

Am liebsten wäre ich Phoenix auf der Stelle nachgerannt und hätte ihm gehörig die Meinung gegeigt. Gleichzeitig wusste ich nicht, wie ich mich ihm gegenüber ab sofort verhalten sollte. Diese Frage wäre bereits vor seinem überstürzten Abgang nicht leicht zu beantworten gewesen. Doch nun? Ganz zu schweigen davon, dass ich nicht wusste, welche Auswirkungen mein defekter Lumen auf unsere Partnerschaft hatte.

Vielleicht existiert diese enge Verbindung bei uns auch gar nicht.

»Ich weiß, diese Nachricht ist nicht leicht zu verdauen, und ich wünschte, ich könnte etwas sagen, das Phoenix’ Verhalten entschuldigt. Leider bezweifle ich, dass es dafür die passenden Worte gibt.« Ein gequältes Lächeln stahl sich auf Jacksons Züge, das ich dieses Mal jedoch nicht erwiderte. Ich war schlichtweg zu geschockt.

»Deswegen würden wir gern auf das zu sprechen kommen, was du unten auf der Krankenstation erwähnt hast.« Jacksons Lächeln wurde weicher. Regelrecht charmant.

Mein Groll auf Phoenix rückte entgegen meinem Willen in den Hintergrund, während meine Bereitschaft, mich Jackson anzuvertrauen, wuchs. Früher hätte ich diese subtile Veränderung vermutlich gar nicht bemerkt. Doch nun, da ich von Jacksons Gabe wusste, war es schwer, die dahinterstehende Manipulation zu ignorieren.

»Was auch immer du da mit mir machst, hör auf.« Mein Protest klang nicht annähernd so entschieden wie beabsichtigt. »Es ist schlimm genug, dass du deine magische Kraft bereits in New York angewandt hast, als ich mich geweigert habe, mit dir zu kommen.«

Schamesröte kroch Jacksons Hals empor und bestätigte meinen Verdacht.

»Es tut mir leid. Das habe ich nicht absichtlich getan. Das musst du mir glauben. Wie Anthony bereits sagte, verleiht mir meine Gabe eine gewisse … Ausstrahlung. Und auf diese reagiert jeder Lunaris anders.« Er ließ bedrückt den Kopf hängen. »Aber du hast recht, ich hätte dir davon erzählen sollen, sobald mir klar wurde, dass du keine Ahnung von all dem hier hast. Schließlich wissen die anderen Lunaris über meine Fähigkeit Bescheid und können dementsprechend darauf reagieren. Ich wollte nur nicht, dass du die Sache in den falschen Hals bekommst und dann gar kein Vertrauen zu mir und meiner Truppe fassen würdest.«

Gegen den stetig wachsenden Argwohn, der sich hinter meinem Zwerchfell ausbreiten wollte, kämpfte eine ordentliche Portion Mitgefühl, bei der ich mich unweigerlich fragte, ob sie echt oder Jacksons Lumen-Fähigkeit geschuldet war.

Gleichzeitig ärgerte ich mich über diese Zweifel. Ja, Jackson hatte einen Fehler gemacht. Aber er hatte eine nachvollziehbare Erklärung geliefert und schien sein Handeln ehrlich zu bereuen. Und wenn es jemanden gab, der nachvollziehen konnte, wie es war, eine magische Gabe zu besitzen, die man nicht unter Kontrolle hatte, dann ich.

»Schon gut. Vermutlich hätte ich in deiner Situation ähnlich gehandelt.«

Jackson schaute auf und Erleichterung zeichnete sich auf seinen Zügen ab. Sein Lächeln war so entwaffnend, dass ich es erwidern musste .

Mir war zuvor gar nicht aufgefallen, wie strahlend blau seine Iriden tatsächlich waren.

»Jackson!«, rief ich halb empört, halb erheitert. »Du tust es schon wieder. Hör auf damit!«

»Tut mir leid!«, lachte nun auch der Löwe. »Aber ich kann wirklich nichts dafür. Zwischen uns scheint einfach die Chemie zu passen.«

Da ich nicht wusste, was ich darauf erwidern sollte, versuchte ich krampfhaft das wohlige Flattern in mir auszublenden.

»Also gut! Dann erzähle ich euch jetzt von meiner Reise – vielleicht erfahre ich dann endlich, was es mit meiner Gabe auf sich hat.« Ich holte tief Luft und berichtete anschließend, was mir an jenem Abend auf dem Jahrmarkt und in den darauffolgenden Tagen widerfahren war. Dabei war es gar nicht so einfach, zu unterschlagen, dass ich die wahre Gestalt der Shadows sehen konnte. Aber Drakes Warnung klingelte mir so deutlich in den Ohren, dass ich mich trotz des schalen Gefühls in meinem Inneren nicht traute, Jackson und Anthony die Wahrheit zu erzählen. Stattdessen behauptete ich, dass ich mit angesehen hatte, wie Christina und Nate von unförmigen Schatten angegriffen worden waren, und schob meine auf der Krankenstation voreilig hinausposaunte Beichte auf extrem lebhafte Albträume.

»Und alles, was nach meinem Ninjaauftritt geschah, bei dem ich Jackson den Hintern gerettet habe, wisst ihr ja«, beendete ich meine Ausführung mit warmen Wangen.

»Als mir Jackson von eurer Begegnung in New York berichtet hat, habe ich mir bereits gedacht, dass du auf deiner Reise hierher einige Hürden hast überwinden müssen«, sagte Anthony und sah mich betroffen an. »Jedoch hätte ich niemals für möglich gehalten, dass …« Er schüttelte den Kopf. »Es tut mir ehrlich leid, dass du all das hast durchmachen müssen, June – gleichwohl es mich ausgesprochen fasziniert, dass sich dir die Mondgöttin leibhaftig gezeigt hat. Diese Ehre ist meines Wissens noch keinem Lunaris zuteilgeworden.«

»Mir geht es genauso«, sagte Jackson. »Und zwar in beiden Punkten. Zwar wundert es mich nicht, dass die Mondgöttin dich ausgewählt hat, aber ich wünschte, ich hätte dich früher gefunden. Niemand sollte so etwas erleben müssen.« Seine Hand, die neben meiner auf dem Tisch lag, zuckte, als wollte er mich berühren. Doch dann zog er seine Hand mit einem Räuspern zurück. »Leider gibt es noch zwei Dinge, die du unbedingt erfahren musst, ehe wir dich entlassen können. Es wäre zu gefährlich, dich länger im Unklaren zu lassen. Denn das, was du bezüglich Matthew Brownfield meinst, geträumt zu haben, entspricht der Wahrheit. Austin hat das während meiner Abwesenheit in Erfahrung gebracht. Aber keine Sorge, niemand weiß, auf welche Weise ihm das Gift verabreicht wurde, oder dass du etwas damit zu tun hast. Und von uns werden sie es auch nicht erfahren.«

Ich nickte dankbar. Auch wenn ich es mir inzwischen selbst eingestanden hatte, dass ich für Matts Tod verantwortlich war, besaß es doch noch einmal mehr Kraft, es von jemand anderem bestätigt zu hören.

Jackson erwiderte die Geste lächelnd, wurde jedoch sofort wieder ernst. »Ich weiß, dass das alles gerade sehr viel ist. Und ich wünschte, wir müssten dich nicht ausgerechnet heute Abend mit noch mehr belästigen. Aber es ist ungemein wichtig, dass du verstehst, was das bedeutet. Denn im Gegensatz zu allen bisherigen Lunaris-Skorpionen bist du im wahrsten Sinne des Wortes giftig

»Wie bitte? Ich bin der erste giftige Skorpion?« Bittere Galle kroch meine Speiseröhre empor, als Jackson erneut nickte. Es war kein Wunder, dass mir die Mondgöttin erschienen war. Immerhin war ich nicht nur Teil des Freak-Zirkus, ich war die verfluchte Hauptattraktion.

»Wie ich bereits sagte, besitzen alle Skorpione – und alle bisherigen – ein unbegrenztes Wissen im Bereich natürlicher und synthetischer Gifte. Sie erstellen damit Waffen, die sie im Kampf gegen die Shadows einsetzen. Giftampullen, mit Gift versetzte Spikes, oder wie in Arizonas Fall mit Gift getränkte Handschuhkrallen. Jedoch ist oder war niemand von ihnen buchstäblich selbst giftig. So etwas habe ich noch nie erlebt. Aber falls es dir ein kleiner Trost ist«, schob er nach, »Charleston ist bereits damit beschäftigt, die Antikörper aus deinem Blut zu extrahieren und ein Gegengift herzustellen. Nur für alle Fälle.«

»Für alle Fälle? Du meinst, falls mir noch einmal jemand gegen meinen Willen seine Zunge in den Hals steckt und ich ihn zur Strafe für diese Verletzung meiner Intimsphäre vergifte?« Ein zynisches Lachen entfloh mir und der Damm, den ich um meine Emotionen gezogen hatte, drohte unter dem wachsenden Druck nachzugeben. »Keine Sorge, ich werde mich hüten, jemals wieder jemandem zu nah zu kommen.«

Kaum hatten die Worte meine Lippen verlassen, wurde mir zum ersten Mal bewusst, welch gravierenden Einfluss meine neue Fähigkeit auf mein Leben nahm.

Ich werde nie wieder jemanden körperlich an mich heranlassen können. Nie wieder jemanden küssen können.

Auch wenn ich es nicht für möglich gehalten hätte, wurde der Albtraum, in den ich ungewollt katapultiert worden war, immer schlimmer.

»So muss es nicht sein«, sagte Jackson, als antwortete er auf meine Gedanken und seine Hände erschienen wieder auf dem Tisch. Gleichzeitig beugte er sich ein wenig in meine Richtung, was das Folgende noch intimer wirken ließ. »Du kannst lernen, deine Gabe zu kontrollieren. So wie alle Fähigkeiten lässt sich auch diese trainieren.«

»Du willst, dass ich meine Gabe trainiere ? Wie? Indem ich mich wild durch die Gegend knutsche? Mixt Charleston deswegen ein Gegengift zusammen? Damit ich keine Spur aus Leichen hinterlasse?«

Obwohl ich meine Worte nicht ernst gemeint hatte, sagte mir Jacksons Miene, dass ich ins Schwarze getroffen hatte.

»Das ist nicht dein Ernst, Jackson! Hast du sie nicht mehr alle?!« Entrüstet darüber, dass wir überhaupt über diese Möglichkeit sprachen , konnte ich nur den Kopf schütteln. »Vergiss es! Auf keinen Fall! Dieses Risiko werde ich unter keinen Umständen eingehen – Gegengift hin oder her. Das ist vollkommen –«

»Logisch?«, unterbrach mich der Löwe ruhig und sah mich fest an. »Denn im Gegensatz zu dir, mache ich keinen Unterschied zwischen deiner Gabe und der jedes anderen Lunaris. Oder glaubst du, als wir anderen uns vor einem Jahr zusammengefunden haben, dass auch nur einer von uns in der Lage gewesen ist, seine Kraft zu konrollieren? Von wegen! Ich habe aufgehört, zu zählen, wie viele beinah tödliche Stromschläge uns Olly bei ihren ersten Versuchen verpasst hat. Oder wie oft wir wegen Charleston fast ertrunken wären, weil er den gesamten Keller geflutet hat. Oder Ari, die regelmäßig irgendwelche Zutaten falsch dosiert und uns damit viel zu oft auf die Krankenstation befördert hat.« Jacksons Mundwinkel zuckten und zauberten einen nervig-niedlichen Ausdruck auf sein Gesicht, der meinen Widerstand gefährlich ins Wanken brachte. »Warum glaubst du, erhalten wir durch die Lumen neben diesen besonderen Gaben auch übermenschliche Widerstandskraft? Bestimmt nicht nur, damit wir gegen die Shadows in den Krieg ziehen können.« Er zwinkerte mir zu, was meinem Groll einen ordentlichen Dämpfer verpasste. So ungern ich es auch zugab, fiel mir kein Gegenargument mehr ein.

Trotzdem!

Die Idee war vollkommen verrückt!

Oder?

»Ich weiß, die ganze Situation muss unfassbar schwer für dich sein.« Jackson streckte einen Arm in meine Richtung, stoppte jedoch wenige Zentimeter vor meinen Fingern. Er wollte mich nicht bedrängen, sondern mir die Wahl lassen, ob ich diese Form der Nähe zulassen wollte.

Ich zog meine Hände nicht weg.

»Und ich werde dich zu nichts zwingen«, sprach er mit einfühlsamem Tonfall weiter, während sich seine Finger zögerlich über meinen Handrücken legten. Die Geste war so zart, dass neben meinem Magen auch mein Herz flatterte.

Wann hatte ich meine Gegenwehr aufgegeben und zugelassen, dass Jacksons Nähe mich derart einnahm? Und wieso wehrte ich mich jetzt nicht mehr dagegen?

»Du sollst nur wissen, dass du dich nicht allein deinen Problemen stellen musst. Wir sind ein Team. Wir schaffen das gemeinsam.«

Gemeinsam …

Wie konnte ein harmloses Wort eine solche Welle in meinem Inneren schlagen, dass ich tatsächlich kurzzeitig in Versuchung geriet, sein Angebot anzunehmen?

Ein gemeinsames Training mit ihm könnte durchaus reizvoll sein …

Erschrocken über meine eigenen Gedanken verpasste ich mir innerlich eine Ohrfeige. Mochte sein, dass Jacksons Gabe ungewöhnlich stark auf mich wirkte, doch ich würde mich ihr nicht kampflos unterordnen. Stattdessen würde ich den kläglichen Rest meines Stolzes mit Feuereifer schützen.

»Du sagtest, dass es zwei Dinge gibt, die ich dringend erfahren muss«, wechselte ich abrupt das Thema, was Jackson sichtlich aus dem Konzept brachte. Er musste ein paarmal blinzeln, ehe er wieder in der Gegenwart ankam. »Was ist die andere Sache?«

»Wie ich bereits erwähnte …«, übernahm wieder Anthony das Gespräch und ich wandte mich ihm automatisch zu. Weder Jackson noch ich zogen unsere Hand weg. »… habe ich mich nach dem offiziellen Meeting noch mit einem anderen Archivar unterhalten, dessen Team in New Mexico ebenfalls ein Mitglied vermisste. Auch bei ihnen erschien kurze Zeit nach dem Verschwinden seines Teammitglieds ein Nachzügler, der den Lumen des zuvor Verschwundenen in sich trug. Doch in jener Nacht, als die Leiche des ursprünglichen Lunaris mit dem Abschiedsbrief auftauchte, blieb es nicht bei diesem Unglück. Ein wenig später – noch bevor die Sonne am nächsten Morgen aufging –, begann sich der Nachzügler merkwürdig zu verhalten. Er wurde immer agressiver, beschimpfte die Mitglieder seines Teams und wurde sogar handgreiflich. Binnen weniger Stunden steigerte sich das auf ein Maß, das ihn zu einer ernst zu nehmenden Gefahr für sich selbst und sein gesamtes Team machte.«

»Was ist am Ende mit ihm passiert?«, fragte ich, obwohl ich meinte, die Antwort bereits zu kennen.

Anthonys Blick wurde von einer dunklen Wolke verschleiert, die meine Befürchtungen bestätigte.

»Es tut mir leid, June. Aber sie hatten keine andere Wahl.«