Kapitel Siebenundzwanzig

Z u meinem Leidwesen machte Phoenix’ Erklärung so viel Sinn, dass ich mich gezwungen sah, gedanklich bis zwanzig zu zählen, ehe ich es nicht mehr aushielt und mich seiner Umarmung entwand.

Gleichzeitig angelte ich nach dem Türgriff. Doch kaum hatte ich diesen zwischen die Finger bekommen und die Tür einen Spaltbreit geöffnet, riss Olly die Tür auf Phoenix’ Seite auf und ein erneuter Schwall frischer Luft wehte ins Fahrzeuginnere.

»Fahrerwechsel«, motzte sie und hievte Phoenix beinah eigenhändig aus dem Wagen. Drake, der zuvor tief und fest auf Phoenix’ Brust geschlummert hatte, flog aufgeschreckt in die Höhe und ließ sich anschließend auf der Rückenlehne des Fahrersitzes nieder. Der Schütze folgte dem Drachen und klemmte sich wortlos hinter das Steuer.

Olly fiel schwer auf den frisch frei gewordenen Platz und zog wortlos das Reisegepäck zwischen uns. Als sie sich daraufhin mit vor der Brust verschränkten Armen der Seitenscheibe zuwandte, war die Message angekommen: Ansprechen auf eigene Gefahr.

Kurz überlegte ich, ebenfalls auszusteigen und Phoenix nach vorne in den Wagen zu folgen. Doch ich entschied mich dagegen. Ich wusste einfach nicht, wie ich seine letzten Worte einordnen sollte.

Welche Dinge wären lieber ungehört geblieben? Dass Jackson mehr oder weniger gestanden hatte, dass er sich mehr von mir erhoffte? Oder dass der Löwe der Meinung war, Phoenix würde mir mehr bedeuten? Der Schütze zog mich doch selbst die ganze Zeit damit auf, dass ich auf ihn stand. Und jetzt verursachte ihm diese vermeintliche Bestätigung Bauchschmerzen?

Dabei dachte ich überhaupt nicht auf diese Weise an Phoenix. Wieso auch? Abgesehen von dieser Partnersache verband uns nichts. Zudem kannte ich ihn kaum. Er war auch überhaupt nicht mein Typ, und sein Lachen war viel zu laut – von seinem überdimensional großen Ego ganz zu schweigen. Und erst die Art, wie er mich ansah, wenn er sich gedankenverloren mit den Fingern durch die Haare fuhr … Das war einfach nur unbeschreiblich heiß – äh ätzend! Ich meinte ätzend !

Als wüsste Phoenix ganz genau, welche Gedanken gerade durch meinen Verstand rotierten, sah er mich über den Rückspiegel an.

Ungewollt hob auch ich den Kopf und begegnete seinem Blick. Fragend zog er die durchtrennte Braue in die Höhe. Wieso sitzt du da hinten? Komm zu mir nach vorn!

Mein Puls beschleunigte sich. Tat ich dem Schützen unrecht? War ich womöglich nicht die Einzige, die drauf und dran war, einzusehen, dass der jeweils andere doch nicht so furchtbar war, wie anfangs gedacht?

Oder wollte Phoenix nur Jackson ärgern?

Der Druck zwischen meinen Schläfen wurde stärker und da ich nicht wusste, wie ich auf Phoenix’ unausgesprochene Frage antworten sollte, sah ich aus dem Fenster. Außer ein paar Parkbänken, einigen Büschen und jeder Menge Müll gab es wenig zu entdecken, nur der Löwe stand abseits und schien zu telefonieren.

Aus den Augenwinkeln bemerkte ich Phoenix’ Irritation und sofort keimte ein schlechtes Gewissen in mir auf. Ich war keins dieser Mädchen, die alberne Spielchen spielten. Aber ich stand auch nicht auf komplizierte Männer-Kisten. Und gerade drohte ich genau in eine solche hineinzuschlittern.

Jackson beendete sein Telefonat und kehrte zurück zum Wagen. Als er automatisch die Beifahrerseite ansteuerte und nicht im Geringsten überrascht schien, Phoenix neben sich anzutreffen, atmete ich erleichtert auf.

Phoenix startete den Motor und fuhr los. Niemand sprach ein Wort, und obwohl ich es nicht für möglich gehalten hätte, war die Stimmung im Wagen noch unterkühlter als zuvor.

Irgendwann bemerkte ich, dass mein Fuß im Takt der Radio-musik wippte und Phoenix dasselbe mit seinen Fingern am Lenkrad tat. Als wir wie auf ein unsichtbares Kommando hin beide in den Rückspiegel schauten, konnte ich das Schmunzeln auf seinen Lippen nicht ignorieren. Ich musste es einfach erwidern.

Natürlich entging Jackson dieser kurze Moment nicht. Er räusperte sich verhalten und schlug vor, das nächste Diner aufzusuchen, um uns ein ordentliches Frühstück zu gönnen. Da niemand etwas dagegen hatte – und Drake diesen Vorschlag sogar lautstark unterstützte –, hielten wir eine halbe Stunde später an.

Auf diese Weise verbrachten wir einen Großteil des restlichen Tages. Entweder saßen wir angespannt schweigend im Wagen – wobei Olly sich stets größte Mühe gab, entweder neben Phoenix oder mir zu sitzen –, oder wir nahmen ein stilles Mahl zu uns – bei dem Olly ebenfalls alles daransetzte, möglichst großen Abstand zu Jackson zu halten. Drake pennte die meiste Zeit auf oder in unmittelbarer Nähe zu Phoenix, was mich im gleichen Maß erfreute und wurmte.

Am späten Nachmittag schmerzten meine Muskeln vom vielen Sitzen, in meinem Kopf pochte es vom andauernden Schweigen, und obwohl wir regelmäßige Pausen einlegten, erschwerte mir die Stimmung im Wagen das Atmen.

Glücklicherweise schien es nicht nur mir so zu gehen.

»Wie lange dauert es noch bis zur nächsten Rast?«, fragte Olly und warf stöhnend den Kopf in den Nacken. »Meine Beine sind wieder eingeschlafen.«

»Bis zur Landesgrenze sind es noch etwas über zwei Stunden«, sagte Phoenix, der wieder hinter dem Steuer saß. Es hatte sich so eingependelt, dass jeder der drei etwa vier Stunden fuhr, ehe gewechselt wurde. Ich persönlich fand diese Zeit viel zu lang, aber abgesehen davon, dass man als Lunaris eine sehr viel ausgeprägtere Konzentrationsfähigkeit besaß, stand es mir nicht zu, die anderen zu bevormunden. Schließlich konnte ich keine Etappe übernehmen.

»So lange halte ich nicht mehr durch!« Olly massierte sich die Oberschenkel. »Und überhaupt! Wann wollen wir uns endlich auf die Suche nach einer Übernachtungsmöglichkeit machen? Ich könnte echt eine Dusche und ein bequemes Bett gebrauchen.«

»Wir werden keine Zeit verschwenden, indem wir in einem Hotel übernachten. Wir fahren nach Aguascalientes, klären, was es dort zu klären gibt, und fahren sofort zurück nach New Haven.«

»Wie bitte?« Olly lehnte sich zwischen den Vordersitzen hindurch. »Du willst die gesamte Strecke in einem durchfahren? Bist du wahnsinnig geworden? Wir sind bereits seit über zwanzig Stunden unterwegs. Wir brauchen dringend eine Pause! Oder willst du, dass wir völlig erledigt in Mexiko ankommen? Dann können wir uns auch gleich den Shadows auf dem Silbertablett servieren.«

»Olly hat recht«, sagten Phoenix und ich in derselben Sekunde. Sofort sah ich wieder hoch zum Rückspiegel, wo mich bereits der amüsiert funkelnde Blick des Schützen erwartete.

»Wir liegen mehr als gut in der Zeit.« Dass Phoenix sich dabei nicht anhörte, als wollte er Jackson am liebsten an die Gurgel springen, wertete ich nach all der Zeit, die die beiden inzwischen auf engstem Raum zusammengepfercht waren, als gutes Zeichen. »Heute ist der Einunddreißigste. Das heißt, die Feierlichkeiten haben heute erst begonnen. Wenn wir morgen in aller Frühe losfahren und die letzten vierzehn, fünfzehn Stunden durchziehen, erreichen wir morgen Abend unser Ziel und haben noch genug Zeit, uns umzuhören.«

Jackson presste die Lippen fest aufeinander und ihm war anzusehen, dass er am liebsten an seinem Plan festhalten würde. Doch er war in der Unterzahl.

»Was meinst du, June?« Der Löwe sah mich fragend an. »Sollen wir eine Pause machen und die Nacht im Hotel verbringen, oder weiterfahren?«

Verdutzt darüber, dass offenbar mein Votum das Zünglein an der Waage sein sollte, antwortete ich spontan aus dem Bauch heraus. »Duschen und ein weiches Bett klingen verlockend.«

Olly stieß einen lautstarken Jubelschrei aus und warf sich zurück auf ihren Sitz. Noch während Jackson gequält lächelnd den Mund verzog und sich seinem Schicksal beugte, hatte sie bereits ihr Handy gezückt.

Doch egal, welches Hotel, Motel oder sogar B&B Olly auch kontaktierte, sie erhielt überall dieselbe unbefriedigende Antwort: Aufgrund des Feiertages – und Halloween wurde in Amerika nun einmal wie ein Nationalfeiertag zelebriert – waren alle Zimmer belegt. Und es wurde, je näher wir der Landesgrenze kamen, nicht besser. Fast schien es, als hatte der halbe Kontinent beschlossen, dieses Jahr an den Días de los Muertos teilzunehmen.

Wir waren kurz davor, uns mit einer weiteren Nacht im Auto abzufinden, als ein Concierge, bei dem Olly ihren Charme besonders intensiv hatte spielen lassen, uns zurückrief. Soeben war eines der Zimmer aufgrund einer kurzfristigen Stornierung frei geworden.

Wir hatten sofort zugeschlagen, ohne nach Details zu fragen.

Und nun hatten wir den Salat.

»Zweihundert Dollar die Nacht für das hier ?« Olly starrte auf das Queensize-Bett vor sich, das fast den gesamten Raum einnahm, sodass der dicke Teppich zu unseren Füßen beinah gänzlich verschwand. »Ist das ihr Ernst? Da passen doch kaum zwei von uns hinein.«

»Wir können noch immer zurück ins Auto«, schlug Jackson vor und stellte die zwei Reisetaschen, sowie mein Bündel, auf das kleine Sofa, das am Fußende des Bettes stand und den restlichen Platz des Zimmers ausfüllte. Falls es hier so etwas wie einen Kleiderschrank gab, hatte ich ihn bisher nicht entdeckt.

»Gute Idee!«, warf Drake gähnend von Phoenix’ Schulter in den Raum. Der Schütze war mit seinem Rucksack im Türrahmen stehen geblieben, um sich nicht auch noch in das winzige Zimmer zu quetschen. »Geht ihr alle zurück ins Auto. Dann können der Schütze und ich es uns hier gemütlich machen.«

»Nichts da!« Olly schüttelte entschieden den Kopf und verschränkte die Arme der Brust. »Selbst das schmalste und unbequemste Bett ist immer noch besser als eine weitere Nacht im Auto.« Sie ließ sich auf die Kante der dicken Matratze sinken. »Wir müssen nur ausknobeln, wer wo schläft.«

»Was gibt’s denn da zu knobeln?«, fragte Jackson. »Du und June teilt euch das Bett. Ich verrenke mir den Rücken auf der Couch, und Phoenix kann es sich in der Dusche, der Lobby oder von mir aus auch unter dem Wagen gemütlich machen. Schließlich sind wir nur seinetwegen hier.«

Phoenix kommentierte diese Worte mit einem Haifischgrinsen.

»Oder du, Jackson, teilst dir das Bett mit Olly«, schlug ich vor. »Phoenix kann die Couch haben, und ich schlafe unten im Auto.« Als beide Männer zu einem Protest ansetzten, hob ich die Hand, um sie zum Schweigen zu bringen. »Ehrlich, mir macht das überhaupt nichts aus. Und da ich euch drei schon nicht beim Fahren ablösen kann, finde ich es nur fair, wenn ihr zumindest einigermaßen bequem schlaft.«

»Verseuchte Drachenschuppe.« Drake schnaubte und eine kleine Rauchwolke entfloh seinen Nüstern. »Das ist ja komplizierter als das Rätsel mit dem Drachen, der Ziege und dem Käselaib. Dabei sollte man meinen, dass ihr größere Probleme habt als diesen Kinderkram.«

»Der Drache hat recht«, stimmte Phoenix zu, was Drake vor Stolz beinah platzen ließ. »Lasst uns einfach auslosen, wer wo schläft.«

Olly zuckte mit den Schultern, während Jackson mit sichtlichem Widerwillen eine Zustimmung grunzte.

Der Schütze griff in seine Jackentasche und holte einen zerknüllten Zettel hervor. Dieser stellte sich als Tankbeleg heraus. Er riss vier in etwa gleich große Teile davon ab und sagte: »Die zwei Unbeschrifteten bekommen das Bett, der Dollarbetrag die Couch, und wer das Datum erwischt, hat freie Schlafplatzwahl außerhalb dieses Zimmers. Alle einverstanden?«

Alle nickten und zogen, nachdem Phoenix die Zettelchen zu kleinen Kugeln geformt hatte, der Reihe nach.

Erleichterung durchflutete mich, als ich auf meinem Zettel das gestrigte Datum entdeckte.

Jackson hingegen schien nicht sonderlich glücklich darüber zu sein, dass er, ebenso wie Olly, einen unbeschrifteten Zettel gezogen hatte.

»Lass uns tauschen, June.« Jackson reichte mir sein Bett-Los. »Ich schlafe unten im Wagen. Mir macht die Kälte nichts aus.«

Olly stöhnte genervt und warf die Arme in die Luft. Gestern hätte mich diese Reaktion vermutlich noch irritiert oder sogar vielleicht gekränkt. Doch inzwischen wusste ich, dass ihr Unmut nicht gegen mich persönlich gerichtet war.

»Jackson, wozu haben wir überhaupt Lose gezogen, wenn du jetzt wieder alles über den Haufen wirfst?« Sie gab dem Löwen keine Chance zu antworten. »Weißt du was, mach was du willst! Schlaft von mir aus alle im Auto. Ich werde jetzt jedenfalls nach unten gehen und mir ansehen, welche Annehmlichkeiten das Hotel zu bieten hat.« Sie stürmte aus dem Zimmer, ohne sich bei Phoenix zu entschuldigen, den sie fast umgerannt hatte.

»Geh ihr nach, Jackson. Klär, was auch immer gerade zwischen euch los ist. Und mach dir keine Gedanken. Ich bin nicht so lebensmüde und schlafe allein im Auto, während wer-weiß-wer oder wer-weiß-was dort draußen unterwegs ist. Ich mache es mir hier auf dem Boden gemütlich.« Mit einem Finger deutete ich auf den schmalen Spalt zwischen Bettende und Couch.

Jackson sah mich unsicher an, dann schienen jedoch Sorge und Schuldgefühle die Oberhand zu gewinnen.

»Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen.« Er klang nicht ansatzweise so überzeugend, wie es vermutlich beabsichtigt gewesen war und folgte Olly aus dem Zimmer.

Erleichtert, dass endlich nicht mehr so viele Leute im Raum waren, atmete ich geräuschvoll auf. Ich konnte nur hoffen, dass Jackson und Olly ihre Probleme aus der Welt schafften. Sehr viel länger würde ich dieses Drama zwischen den beiden nicht ertragen.

»Da waren es nur noch zwei.« Phoenix ignorierte Drakes empörten Protest und durchquerte gemächlich die wenigen Meter zwischen uns. Der Ausdruck in seinem Gesicht hatte etwas Raubtierhaftes, und als er unmittelbar vor mir stehen blieb und einen Arm dicht an meiner Taille vorbei ausstreckte, spannte ich mich unweigerlich an. Nach allem, was seit unserem Reiseantritt passiert war, wusste ich nicht, wie ich mich ihm gegenüber verhalten sollte.

»Gehst du freiwillig einen Schritt zur Seite, oder muss ich dich auf die Couch werfen?« Seine Mundwinkel hoben sich zu diesem Grübchen-Grinsen, und ich brauchte ein paar Sekunden, bis ich begriff. Im Gegensatz zu mir hatte der Schütze den fehlenden Kleiderschrank entdeckt. Ich hatte genau davorgestanden.

Sofort trat ich zur Seite.

Phoenix öffnete die Schranktür und griff zielsicher hinein. Als er Extra-Kissen und eine Decke herauszog, lag noch immer ein amüsierter Zug um seine Lippen.

»Kannst du das bitte sein lassen?« Die Worte kamen mir harscher über die Lippen, als ich beabsichtigt hatte. Aber mein Innerstes war wegen der plötzlich zugänglichen Art des Schützen völlig durcheinander.

»Was soll ich sein lassen?« Phoenix trat mit seiner Beute an mir vorbei und warf die Decke auf den Boden zwischen Bett und Sofa.

»Mit mir zu flirten«, antwortete ich. »Jackson ist nicht da, du kannst dir die Show also sparen.«

»Das habe ich wohl verdient.« Er legte das Kissen auf die am Boden liegende Decke. Wenn ich es nicht besser wüsste, hätte ich glauben können, dass er mir gerade mein Nachtlager herrichtete. »Aber zu meiner Verteidigung muss ich einwenden, dass sich mir nicht oft die Gelegenheit bietet, Ward eifersüchtig zu machen. Normalerweise bekommt er jedes Mädchen, das er will.« Bei der zweiten Hälfte des Satzes war seine Stimme dunkel und rau geworden. Den Kopf zur Seite gedreht, räusperte er sich, ehe er mit neutraler Tonlage hinzufügte: »Und mach dir keinen Kopf, Lollipop. Ich flirte nicht mit dir. Wenn ich flirten würde, bestände daran kein Zweifel.« Er sah mich wieder an, den Schalk fest im Nacken sitzend. »Viel eher solltest du mir dafür dankbar sein, dass ich mir solche Mühe gebe, eine vertrauensvolle Basis zwischen uns aufzubauen – immerhin ist unser Kennenlernen eher suboptimal gelaufen.« Er zwinkerte mir zu, was meine Wangen warm werden und Phoenix leise schmunzeln ließ. »Ich meine, schließlich sind wir Partner. Wir sollten uns blind auf den anderen verlassen können und keine Geheimnisse voreinander haben. Im Kampf entscheidet so etwas über Leben und Tod.«

»Ach, ja?«, konterte ich und schob das widersprüchliche Gefühl von mir, gleichzeitig erleichtert und enttäuscht zu sein, dass Phoenix nicht mit mir flirtete. »Und du meinst, diese vertrauensvolle Basis mit dämlichen Spitznamen zu erreichen?«

»Keine Ahnung. Kann doch sein. Es gibt Frauen, die auf so etwas stehen. Und nur fürs Protokoll: Der Spitzname ist nicht dämlich. Er passt zu dir. Du bist süß und schmeckst sicherlich köstlich, wenn man an dir knabbert.«

Drake würgte lautstark, während ich Phoenix entgeistert anstarrte. Hatte er gerade ernsthaft …?

»Siehst du, Lollipop?! Ich sagte doch, wenn ich flirten würde, bestände daran kein Zweifel.« Sein Grinsen wurde einen Hauch verruchter und mein Körper erhitzte sich auf bisher unbekannte Weise. Also wenn das Phoenix’ Art zu flirten war, konnte ich getrost darauf verzichten.

Ich zwang meine Gedanken durch ein sachtes Kopfschütteln wieder in geregelte Bahnen und reckte, ehe ich das Wort ergriff, selbstbewusst das Kinn.

»Es ist mir egal, ob du mit mir flirtest oder nicht. Aber eins sage ich dir: Ich bin nicht die Sorte Frau, die auf solche Spitznamen steht. Ich bevorzuge es, bei meinem richtigen Namen genannt zu werden. Das gilt übrigens für euch beide«, fügte ich in Drakes Richtung hinzu.

»Bestehst du darauf in allen Lebenslagen?«, hakte Phoenix mit vorgetäuschter Unschuldsmiene nach und mein Magen machte einen Salto, als mir bewusst wurde, in welche Richtung seine Frage abzielte.

Nur mühevoll gelang es mir, beim Weitersprechen ruhig zu bleiben. »Wenn du wirklich eine Basis zu mir aufbauen möchtest, solltest du damit beginnen, mich June zu nennen.«

»Ich weiß nicht so recht …« Phoenix verzog gequält das Gesicht, doch ein Lächeln zupfte an seinen Mundwinkeln und verriet ihn. »Ich bin nicht mehr der Jüngste, weißt du? Mir fällt es schwer, alte Gewohnheiten abzulegen.« Er erlag dem Zucken und lachte so verschmitzt, dass ich nicht anders konnte, als es zu erwidern. Und mein Herz lächelte gleich mit.

Einen Moment lang standen Phoenix und ich uns auf diese Weise gegenüber und ich verstand zum ersten Mal, wieso ihn die anderen aus dem Team so mochten. Wenn es der Schütze darauf anlegte, konnte er wirklich nett sein.

»Bäh, ihr seid ja noch ekelhafter als Lockenbubi und Olympia.« Drake flog von Phoenix’ Schulter in Richtung einer Glastür, die sich auf der anderen Seite des Raumes befand und zum Teil hinter einer dunklen Gardine verschwand. Mir war sie zuvor nicht aufgefallen, aber wie es schien, führte sie auf einen winzigen Balkon. »Hätte ich gewusst, dass dieser Trip zu einem Pärchen-Wettknutschen wird, wäre ich nicht mitgekommen.«

Gerade als ich Drake fragen wollte, was er vorhatte – schließlich war die Tür verschlossen –, flog der Drache einfach durch das Glas hindurch, als wäre er ein substanzloser Geist.

Mit großen Augen sah ich dem Drachen hinterher, während neben mir Phoenix das letzte Kissen auf der Decke drapierte.

»Was tust du da eigentlich?« Ich gestikulierte zum Nachtlager auf dem Boden.

»Wonach sieht es denn aus?« Phoenix ließ sich auf die Decke sinken. Mit an den Knöcheln gekreuzten Beinen verschränkte er die Arme hinter dem Kopf. »Ich habe meinen Schlafplatz vorbereitet.«

»Deinen Schlafplatz? Aber ich bin doch diejenige, die den Zettel mit dem Datum gezogen hat.«

»Das mag sein, aber«, unter sein Grinsen mischte sich eine Spur Traurigkeit, »nur weil du mich für einen Mistkerl hältst, bedeutet das nicht, dass ich auch einer bin. Und abgesehen davon, dass ich mir morgen nicht den ganzen Tag dein Gejammer anhören will, weil du Rückenschmerzen hast, hat Ward recht. Wir sind nur wegen mir hier. Daher ist es auch nur fair, wenn ich auf dem Boden schlafe.« Er schloss übertrieben genießerisch die Lider. »Außerdem dient das meinem eigenen Schutz. Wenn ich hier oben bei euch bleibe, muss ich zumindest nicht die ganze Nacht in Angst leben, dass du dich zu mir ins Auto schleichst, um mir an die Wäsche zu gehen. Olly und Ward sind sozusagen meine Leibwächter.«

Die Worte »Ich halte dich nicht für einen Mistkerl« hatten sich auf meiner Zunge gebildet, doch dank Phoenix’ Nachtrag schmolzen sie wie Eis in der Sonne und ich schluckte sie unausgesprochen hinunter.

»Tja, wenn das so ist«, sagte ich stattdessen und schubste das Reisegepäck vom Sofa, sodass es auf Phoenix landete und ihm ein Ächzen entlockte. »Dann werde ich deinen Wunsch nach Schutz natürlich respektieren.« Ich schlüpfte aus meiner Jacke und warf sie auf das Gesicht des Schützen. So konnte er zumindest nicht den Rollkragenpullover mit dem Lutscher auf der Brust sehen.

Ein lautes Lachen erklang, ehe Phoenix das Kleidungsstück von seinem Kopf zog, zusammenknüllte und sich als zusätzliches Kissen unter den Nacken schob.

Um mir nicht anmerken zu lassen, was diese Geste in mir auslöste, machte ich es mir auf dem Sofa gemütlich.

Einige Minuten verharrten wir auf diese Weise und ich musste mir eingestehen, dass Phoenix’ Gesellschaft tatsächlich angenehmer war, als ich es mir jemals hätte vorstellen können.

»Lollipop?« Die Stimme des Schützen durchdrang so unvermittelt die Stille, dass ich unweigerlich zusammenzuckte. Vielleicht lag es aber auch an ihrem leisen, fast schon zurückhaltenden Klang.

»Ja?«

»Vergiss, was ich gesagt habe. Dass ich nicht mit dir flirten würde, meine ich. Ich habe sehr wohl mit dir geflirtet.«

»Ach ja?« Mein Herz schlug plötzlich schneller. »Wie kommt’s? Ich dachte, wenn du mit einem Mädchen flirtest, würde sie es zweifelsfrei merken.«

»So ist es normalerweise auch«, gestand Phoenix ohne das geringste Zögern. »Aber da sich mein Interesse an einem Mädchen für gewöhnlich auf eine Nacht beschränkt, gehe ich da sehr viel plumper vor. Bei dir fühlte sich das gerade aber falsch an.«

»Das liegt bestimmt daran, dass wir Partner sind«, hörte ich mich sagen, obwohl ich gar nicht wollte, dass diese Erklärung der Wahrheit entsprach. Die ekeligen Spinnen, die sich zuvor in Bezug auf Phoenix in meinem Magen ausgebreitet hatten, waren zu farbenfrohen Schmetterlingen geworden, und ich wollte, dass das so blieb.

»Denkst du das wirklich? Vergiss nicht, meine vorherige Partnerin war meine Schwester. Und unsere Beziehung hat sich durch unsere Berufung kaum verändert. Jedenfalls hatte ich nie das Bedürfnis, sie zu necken, bis sie rot wurde, weil der Anblick so niedlich war.«

»Oh«, sagte ich nur, weil ich nicht wusste, was ich sonst erwidern sollte. »Dann … ähm … Danke für deine Aufrichtigkeit.«

Wieder lachte Phoenix. Dieses Mal jedoch leiser und mit einer Nuance Nervosität. Mein Herzschlag reagierte mit einem kleinen Aussetzer auf diesen Klang.

»Gern geschehen«, sagte er und wir verfielen wieder in Schweigen.

Mit einem Mal erschien mir Phoenix’ Gesellschaft noch angenehmer als zuvor.